69. Berlinale 2019
Das Ende des Spektakels |
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Ach ja: Der Goldene Bär ging an Nadav Lapid für »Synonymes«... | ||
(Foto: Grandfilm) |
»Laut genug spricht ohne Purpur, ohne Teppich schon – der Ruf: und, 'nicht im Glücke stolz zu seyn', war stets der Göttergaben größte.«
Aischylos
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Die Kunst des Kinos ist die Kunst der Balance zwischen Vernunft und Gefühl. Es ist die Kunst, das Sentiment ebenso zu vermeiden, wie Akademismus.
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Die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt gewann am Samstag bei der Berlinale den »Alfred-Bauer-Preis«, benannt nach dem ersten Berlinale-Leiter – ja, es gab tatsächlich eine Berlinale vor Dieter Kosslick –, der nicht nur der Preis ist für einen Film »der neue Perspektiven eröffnet«, sondern auch mit 50.000 Euro dotiert – und damit viel wichtiger, als womöglich sogar der Goldene Bär.
Ihr Film Systemsprenger, der den Wettbewerb vor neun Tagen eröffnet hatte, ist ein Film, der nicht perfekt ist, der aber jene Energie besitzt, die das Kino so dringend nötig hat, um gegen den Angriff der Streamingdienste auf die große Leinwand zu bestehen.
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Es war die Déjà-vu-Berlinale – das Programm wirkte vor allem wie ein Klassentreffen aus 18 Jahren Kosslick-Berlinale.
Insgesamt bot der Wettbewerb ein Potpourri der Miserabilität und Ödnis: Schwer erziehbare Kinder, depressive Mütter, mordende Männer, dazu Missbrauch, Mafia und ein bisschen Mongolei-Exotismus – und mitten drin in all dem Unglück ein paar gute Menschen.
Was hingegen völlig fehlte, jedenfalls im Wettbewerb, das war Rasanz, war Humor, und neue interessante Bildsprachen. Irgendwie geht es vielen Filmen um etwas, aber oft sind die Filmemacher nicht in der Lage eine Form
dafür zu finden, die Zuschauer auch motiviert, sich auf die Filme einzulassen, sie überhaupt anzuschauen.
Kino ist aber zuerst solche Form, und dann erst Inhalt.
Darum war der Regiepreis für Angela Schanelec und ihren überaus spröden Film Ich war zuhause, aber... sehr angemessen: Ein Film, der auf Inhalt fast verzichtet, aber eine ganz eigenwillige Form- und Bildsprache hat, die in ihrer Sperrigkeit eben haften bleibt – ein Film, der im Zuschauer weiterlebt.
Manche glaubten, in ihrem Gesicht zu lesen, dass Schanelec offenbar mehr erwartet hatte, und eher Enttäuschung über die Jury statt Freude über den Regiepreis dominierte. Ich bin mir da nicht so sicher und würde Schanelecs arg kühle Reaktion eher ihrem Temperament und einer gewissen Verunsicherung zuschreiben.
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Die Filmemacher der »Berliner Schule« zitieren und praktizieren gern jenen abgedroschenen Spruch von John Ford, Botschaften solle man mit der Post verschicken.
Analog dazu könnte man formulieren: Wer zusammenhanglose Bilder zeigen will, sollte ein Fotostudio eröffnen.
Als Fotoroman funktioniert »Ich war zuhause, aber...« wirklich gut: Die hysterisch erzählte Geschichte einer hysterischen Frau hat melodramatisches Potential, das am Ende aber nie ausgenutzt wird.
Als Film funktioniert er überaus selten. Der Regiepreis war perfekt für einen Film, der fortwährend »Ich Ich Ich« sagt.
Stilistisch liegen Ich war zuhause, aber... verquaste, altmodische und altbackene Konzepte zugrunde: Kino, das nur für Festivals gemacht ist und sich vor allem aus der Negation definiert.
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Nora Fingscheidt ist die Zukunft des Kinos. Angela Schanelec ist dessen Vergangenheit.
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Die Abschlussfeier vom Samstag bedeutet eine Zäsur: Denn sie machte auch deutlich: In den letzten 18 Jahren hat sich die Berlinale in einen großen Show-Betrieb verwandelt.
Allerdings ein Showbetrieb mit wenigen echten Stars und nur einem Alleinunterhalter, dem Direktor. Bestimmt hat auch das Fernsehen mit seinen Zwang zur Personalisierung und Vereinfachung und allgemeinen Tendenz zur Infantilisierung dazu beigetragen, dass die Berlinale so ist, wie sie ist.
Dieses Modell ist aber ebenso an sein Ende gekommen, wie die Idee eines Filmfestivals, das immer größer wird, und das vermeintlich demokratisch auf Masse statt Klasse setzt. 400 Filme können gar nicht alle erstklassig sein, erst recht nicht, wenn man weiß, dass die besten und die wichtigsten Filme des Jahres in der Regel in Cannes und Venedig laufen und das dort zudem nur je rund 100 Filme gezeigt werden. Während in Cannes und Venedig also Verknappung dazu führt, den einzelnen Film
um so sichtbarer zu machen, herrscht in Berlin Filminflation.
Ein einzelner Berlinale-Film ist nichts wert.
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Man konnte schon länger das Paradox feststellen, dass ein Direktor, der öffentlich lieber über sein regelmäßiges Fasten redet, als über Filme, gleichzeitig das von ihm verantwortete Festival immer weiter aufbläht und mästet – bis zu dem Punkt, an dem wie in den letzten Jahren die Einkäufer und die internationale Presse wegbleiben.
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»Einen Film macht man nicht für sich allein.« erklärte die 90-jährige französische Regisseurin Agnès Varda in Berlin zu ihrem Film. Das gilt erst recht für ein Filmfestival.
Aber hinter der von der Berlinale-Presseabteilung verbreiteten Formel vom »Mister Berlinale« steckt ja die absolutistische Anmaßung, dass der einzelne Mann größer sei als die Institution.
Das Ganze ist größer als der Einzelne – das hat man in der selbstbesoffenen Berlinale-Blase vergessen.
Wie ein Sonnenkönig à la Ludwig XIV. hat Kosslick mit jeder Geste, mit jedem Wort ausgedrückt: »Die Berlinale bin ich!«
Aber bald nach Ludwig XIV. kam wie wir wissen – die Revolution. Genau das ist es, was die Berlinale jetzt braucht.
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Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, das neue Führungsduo, sind keine Showmaster. Und das – wie man in Berlin gern sagt – ist auch gut so.
Hinter ihren mitunter auch schon etwas angestaubtem Äußeren ist die Berlinale nämlich eine Baustelle. Sie muss sich neu erfinden, und den neuen Leiter ist zuzutrauen, dass sie das können.
Denn wie das Kino insgesamt, so ist auch die Filmfestivallandschaft im Wandel. Die Berlinale hat ganz viel unausgeschöpftes Potential und Cannes und Venedig sind keineswegs so uneinholbar, wie manche glauben.
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Es ist schon lächerlich, wenn die Berliner Lokalpresse bereits jetzt panisch vermerkt, die Berlinale würde ja im kommenden Jahr nach der Oscar-Verleihung stattfinden, und müsse womöglich auf den Dezember vorverlegt werden »damit die amerikanischen Stars weiter kommen«. Welche Stars denn, liebe Kollegen?
Welche amerikanischen Stars waren denn in diesem Jahr auf der Berlinale zu Gast?
Damit die Stars kommen, muss man sich nicht nach den Oscar richten, sondern ein Festival machen, das derart attraktiv ist, dass die Stars kommen wollen. So wie sie nach Cannes und Venedig kommen, und auch nach San Sebastian und Locarno.
Und da man die Spree nie mit dem Mittelmeer verwechseln wird, muss man mit anderen Attraktionen punkten: Zum Beispiel der Weltstadt Berlin, um die immer noch ein globaler Hype wabert, und die gleichzeitig ein Ort der Kunst- und Theaterszene ist, eine
attraktive Hipstermetropole und ein Ort der Boheme und ihrer alternativen Lebensentwürfe.
Im Übrigen sind »die amerikanischen Stars«, wenn sie denn so wichtig sind in den 80er und 90er Jahren sehr wohl im kalten unattraktiven Februar nach Berlin gekommen.
Beispiele gefällig?
»Das waren andere Zeiten« wird dann gerne erwidert. Glaube ich nicht. Ich glaube, es war ein anderes Programm und eine bessere Berlinale. Aber selbst wenn auch das Argument zutreffen sollte: Muss man es sich deshalb im saturierten Fatalismus bequem machen?
Dann muss man eben dafür sorgen, dass es wieder andere Zeiten werden, und vielleicht bei der Berlinale damit anfangen.
Ein anderes Programm und eine bessere Berlinale sind also möglich. Dafür braucht man in Berlin allerdings etwas mehr Optimismus, und weniger Fatalismus, etwas mehr geistige Beweglichkeit und weniger Bequemlichkeit.
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Einer Zufallsbegegnung mit dem charmanten Ferdinand von Schirach verdanke ich die Information, dass der erste Rote Teppich bei Aischylos vorkommt. In den »Atriden« lässt Klytaimnestra ihrem Gatten Agamemnon, bei seiner Rückkehr aus Troja, einen roten Teppich ausbreiten, damit seine Füße den Boden nicht berühren. Aus damaliger Sicht war die Farbe Rot den Göttern vorbehalten und so weigerte sich Agamemnon zunächst, auf ihm zu gehen. Als sie ihn dann doch dazu überreden konnten, zog er zumindest seine Schuhe aus, um die Götter nicht noch mehr zu erzürnen. Allerdings – so erzählt es die Tragödie um Agamemnon, führte ihn der rote Teppich direkt zur Tür des Hauses, in dem er wenig später einen blutigen Tod sterben sollte. Damit ist noch ein weiteres Bild mit dem roten Teppich verknüpft, nämlich das des Opfer-Lammes, auf dem Weg zur Schlachtbank. So haben sich bestimmt auch einige der Filmsternchen und Filmemacher gefühlt, wenn sie auf der Berlinale – auch noch bergab – in Richtung Premiere liefen.
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Beijing Bicycle hieß 2001 ein Berlinale-Wettbewerbsfilm aus China. Es war Dieter Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln, der den Film eingeladen und so den Filmemacher entdeckt hatte: Wang Xiaoshuai.
Wangs neuer Film Farewell my Son gewann zwei Preise. Er beginnt mit der Geschichte zweier Familien. Die zwei Söhne sind gleichalt, sogar am selben Tag
geboren. Einer stirbt dann, und so beginnt ein Gesellschaftsdrama über das moderne China, ein Film über Ein-Kind-Politik.
Das Leben der Menschen lässt sich nicht trennen von der Politik um sie herum – hier ergibt es wirklich Sinn, von der Verbindung des Privaten mit dem Politischen zu reden.
Und plötzlich gab es ein einziges Mal im Wettbewerb der letzten Woche allgemeine Begeisterung. Plötzlich sprang der Funke über...
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Ach ja: Der Goldene Bär ging an Nadav Lapid für Synonymes. Die Geschichte eines jungen Mannes, der sein Land Israel verlässt, um in Frankreich zu leben, der dort die Sprache und Kultur lernt, Integrationskurse besucht, und fast eine Art »Überfranzose« wird, ist eine Art umgedrehter Heimatfilm. Er erzählt von dem, was im 21. Jahrhundert fast schon Normalzustand ist; Von einer
Entheimatung, den Schwierigkeiten an einem neuen Land, einer neuen Kultur je anzukommen und dem Zustand der Zwischen-Existenz zwischen mehreren Kulturen.
Nadav Lapid wurde nicht von der Berlinale entdeckt. Erste Lorbeeren erntete er 2011 auf dem Festival von Locarno mit dem Film – kuratiert unter Carlo Chatrians Vorg änger Oliver Père.
(to be continued)