18.02.2019
69. Berlinale 2019

Poesie & Anar­chismus

Die Kinder der Toten
Frei nach Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten
(Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion)

Die Kinder der Toten und Serpentario, zwei Analogfilme im Forum der Berlinale, lassen die Toten tanzen und die Wüste in jedem Sandkorn leben

Von Dunja Bialas

»Why can’t we stop talking about analogue films?« Das fragt im Unter­titel die neue Publi­ka­tion »Film in the Present Tense«, die jetzt bei »Archive Books« erschienen ist. Der lesens­werte Band mit unter­schied­li­chen Ansätzen zum Phänomen Analog­film geht zurück auf ein Symposium, das Labor Berlin im Oktober 2017 abge­halten hat. Ich selbst frage mich schon lange, warum ich nicht aufhören kann, dem analogen Film einen gewissen Vorzug zu geben. Ob 35mm, 16mm oder gar Super-8 auf ein digitales Träger­me­dium trans­fe­riert wurde, oder ob es sich im immer seltener werdenden Fall um eine Analog­pro­jek­tion handelt: Jedesmal lässt das mehr oder weniger körnige Filmbild, die satten Farben, die räumliche Tiefe, die Möglich­keit, mit Unschärfe Akzente zu setzen, das Herz höher schlagen.

Was ist heute noch oder wieder so faszi­nie­rend an diesen Film-Bildern? Haben wir einfach nur das Über­scharfe, die Flatness des Digitalen satt? Oder wirkt hier eine generelle Sehnsucht nach etwas, das wir verloren haben, und das sich im analogen Material, egal ob Vinyl, dem Buch aus Papier oder eben dem Zelluloid am besten wieder­finden lässt? Erika Balsom beschreibt in ihrem Beitrag »The Ambi­va­lence of Authen­ti­city« den Film als zunehmend geeignet, Erin­ne­rung und Geschicht­lich­keit auszu­drü­cken: »Photo­che­mical film is incre­asingly likely to be aligned with histo­ri­city and memory, while the digital image is described using viral metaphors that signal its ability to replicate, as if it possessed an uncon­trollable, infec­tious, and inhuman animus.« Authen­ti­zität ist das Stichwort, das sich mit den analogen Medien verbindet: »The artefacts of the mecha­nical era are left to bask in the glow of that quality they once menaced, authen­ti­city.«

Die Kehrseite dieser Sehnsucht nach der zurück­ge­won­nenen Mate­ria­lität des Mediums ist die Stei­ge­rung zum Fetisch; die Benjamin’sche Aura kann ange­sichts der viralen Verbreit­bar­keit des Digitalen jetzt sogar im technisch repro­du­zier­baren Medium gefunden werden.

Sind wir also, wenn wir dem analogen Film huldigen, schon Mitglieder einer okkulten Sekte geworden? Zumindest macht mich meine eigene Faszi­na­tion ange­sichts der Film­ma­te­ria­lität mitt­ler­weile miss­trau­isch. Gefällt mir ein Film etwa allein schon, weil er auf Film­ma­te­rial gedreht wurde? Oder ist dieses Film­ma­te­rial in einer Art zwingend, da es sich in beson­derer Weise mit dem Darge­stellten verbindet? Und woher sollte man diesen Anspruch beziehen?

Flirrende Film­bilder

Analog­er­fah­rungen gab es einige im dies­jäh­rigen Forum-Programm. Meist auf 16mm gedreht, inte­grierten die Filme Erzähl­weisen, die dem HD-Digitalen sogar entge­gen­ge­setzt sind. Wie sollen Land­schafts­auf­nahmen in der kühlen Klarheit der 4K-Pixel das Flirren beginnen? Wie kann sich das Bild vor seiner Arbi­tra­rität retten, wenn die digitale Kamera endlos und unter­schiedslos Bilder aufzeichnen kann? Chance und Heraus­for­de­rung der teuren 16mm-Bilder ist ihre Verknap­pung im Dreh. Nichts erscheint mehr arbiträr, alles wirkt zwingend. Wenn es denn gut ist. Zwei Filme im dies­jäh­rigen Forum-Programm lösten immerhin diesen Anspruch ein. Dazu gab es am letzten Berlinale-Donnerstag dann noch eine ganz­tä­gige Schau von histo­ri­schen Filmen, besonders hervor­zu­heben ist Bette Gordons Variety (1983), der von einer Kino­kas­sie­rerin erzählt, die die Pornowelt für sich entdeckt und einem männ­li­chen Objekt ihrer Begierde nach­stellt. Die histo­ri­schen Filme zeigten die vergan­gene Selbst­ver­s­tänd­lich­keit des Film­ma­te­rials. Variety wurde vom Berliner Arsenal Institute digital restau­riert, dann wieder auf das 35mm-Analog-Träger­me­dium gebracht. Unab­hängig davon offen­barte die Vorfüh­rung des Films einen Meilen­stein aufrechten femi­nis­ti­schen Film­schaf­fens.

Zombie-Material

Was aber ist mit den Filmen von heute? Die beiden gelun­genen Beispiele des Forums zeigen, dass sie konven­tio­nelle Kinoer­zäh­lungen aufge­geben haben. Der anar­chis­ti­sche Die kinder der Toten entstand im Umfeld des Stei­ri­schen Herbstes unter der Regie der Perfor­mance­gruppe »Nature Theater of Oklahoma«; es ist ihr erster Film, und aus dem Stand erhielt sie den Fipresci-Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik. Der zweite bemer­kens­werte Film zeigte das Analoge als Erin­ne­rungs­ma­te­rial. Serpen­tário beschreibt einen traum­haften Weg durch die Wüste von Angola, auf der vergeb­li­chen Suche nach der Intakt­heit des Landes und der Fami­li­en­ge­schichte des Regis­seurs. Eine wirkliche Geschichte ist in dem poeti­sie­renden Film, der glei­cher­maßen aus dem Rahmen fallendes Period Picture und Science-Fiction ist, jedoch nicht zu entdecken.

Die karne­val­eske Über­trei­bung bringt Die Kinder der Toten indes als anar­chis­ti­sche Perfor­mance zur Vervoll­komm­nung. Kelly Copper und Pavol Liska, Gründer*innen des »Nature Theater of Oklahoma«, adap­tierten die gleich­na­mige Gothic Novel von Elfriede Jelinek. Der groteske Zombie-Reigen des Romans zeigt sich hier auf stummem Super-8-Wieder­gänger-Material. Alles beginnt mit einer fröh­li­chen Zusam­men­kunft im Gasthof Alpenrose. Es folgt ein über­mü­tiger Ausflug in einem Reisebus und ein tödlicher Verkehrs­un­fall, bei dem alle Touristen sterben. Drei von ihnen versuchen in das Leben zurück­zu­kehren. Schließ­lich ergibt sich ein Totentanz, mit horri­fi­zie­rendem, öster­rei­chi­schem Figu­ren­ar­senal: Sexwütige, fleisch­fres­sende, über­ein­ander herfal­lende Natio­nal­so­zia­listen mit Haken­kreuz­arm­binde sind der schau­er­liche Höhepunkt des Horror-Heimat­films, der in seiner thea­tralen Drastik und zugleich betö­renden Stumm­fil­mäs­thetik nur einen Schluss zulässt: Hier haben sich Christoph Schlin­gen­sief und Guy Maddin, kana­di­scher Stumm­film­be­schwörer, zusam­men­getan.

Produ­ziert hat der keines­wegs zimper­liche Ulrich Seidel. Copper und Liska haben sich alle Frei­heiten genommen, verfilmten ohne Roman­kenntnis gera­de­wegs den englisch­spra­chigen Wikipedia-Eintrag, in dem es über das »Magnum Opus« von Jelinek heißt: »All the charac­ters are undead in the process of decom­po­si­tion and are presented as mute zombies in the manner of splatter films. (…) They are incapable of speech, obsessed with sex, and brutal. They are confronted with the mass of Holocaust victims, who wish to achieve new life.« Was soll man sagen? Der Film ist eine ziemlich getreue Adaption dieser Beschrei­bung: insze­niert wurde mit befreiend wirkender Durch­ge­knallt­heit.

Verrät­se­lungen

Ebenfalls eine Art Heimat­film ist Serpen­tário des Ango­la­ners Carlos Conceição. Wie in einer Hypnose lässt er sich von der zentral­afri­ka­ni­schen Wüsten­land­schaft aufsaugen, sein Land ist Wüste und Verwüs­tung zugleich, in Folge der vielen Bürger­kriege.

Der Alter Ego des Regis­seurs durch­wan­dert Land­schaften, über die der Wind hinweg­pfeift. Sie sind spek­ta­kulär, jedoch nicht »atem­be­rau­bend«, sind weniger photo­gra­phisch-malerisch, vielmehr physisch und entleert. Die Wanderung ist eine meta­pho­ri­sche, sie führt, beiläufig ange­deutet, durch die Geschichte Angolas. Einmal ist der Junge wie zur Zeit des Kolo­nia­lismus gekleidet, dann wieder hebt der Film ab in den weiten Weltraum, auf der Suche nach dem Ster­nen­bild der Schlange, dem Serpen­ta­rius. Sein rätsel­hafter Film ist ein »Doku­men­tar­film über die Suche nach einem Gefühl«, sagt Conceição. Gefilmt hat er auf 16mm, dessen Grob­kör­nig­keit sich mit den Sand­ver­we­hungen der Wüste vermengen: In der Tat mani­fes­tiert sich hier die Emotion einer tiefen Sehnsucht und Heimat­lo­sig­keit, an deren Horizont der Dialog mit der verstor­benen Mutter wartet. Die spürbare Film-Mate­ria­lität vereint hier Präsenz und Abwe­sen­heit zugleich.

So ist der »Film in the Present Tense«, der Analog­film der Gegenwart, auch ein Filmen im narra­tiven und ästhe­ti­schen Tempus einer Gegenwart, die sich hier ganz und gar physisch und präsen­tisch mitzu­teilen versucht. Die beiden genannten Beispiele lassen erahnen: Wo das Digitale zum narra­tiven Funk­ti­ons­me­dium geworden ist, wird die Zukunft des alten, analogen Mediums poetisch, lyrisch, unmit­telbar und zwingend sein.