69. Berlinale 2019
Poesie & Anarchismus |
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Frei nach Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten | ||
(Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion) |
Von Dunja Bialas
»Why can’t we stop talking about analogue films?« Das fragt im Untertitel die neue Publikation »Film in the Present Tense«, die jetzt bei »Archive Books« erschienen ist. Der lesenswerte Band mit unterschiedlichen Ansätzen zum Phänomen Analogfilm geht zurück auf ein Symposium, das Labor Berlin im Oktober 2017 abgehalten hat. Ich selbst frage mich schon lange, warum ich nicht aufhören kann, dem analogen Film einen gewissen Vorzug zu geben. Ob 35mm, 16mm oder gar Super-8 auf ein digitales Trägermedium transferiert wurde, oder ob es sich im immer seltener werdenden Fall um eine Analogprojektion handelt: Jedesmal lässt das mehr oder weniger körnige Filmbild, die satten Farben, die räumliche Tiefe, die Möglichkeit, mit Unschärfe Akzente zu setzen, das Herz höher schlagen.
Was ist heute noch oder wieder so faszinierend an diesen Film-Bildern? Haben wir einfach nur das Überscharfe, die Flatness des Digitalen satt? Oder wirkt hier eine generelle Sehnsucht nach etwas, das wir verloren haben, und das sich im analogen Material, egal ob Vinyl, dem Buch aus Papier oder eben dem Zelluloid am besten wiederfinden lässt? Erika Balsom beschreibt in ihrem Beitrag »The Ambivalence of Authenticity« den Film als zunehmend geeignet, Erinnerung und Geschichtlichkeit auszudrücken: »Photochemical film is increasingly likely to be aligned with historicity and memory, while the digital image is described using viral metaphors that signal its ability to replicate, as if it possessed an uncontrollable, infectious, and inhuman animus.« Authentizität ist das Stichwort, das sich mit den analogen Medien verbindet: »The artefacts of the mechanical era are left to bask in the glow of that quality they once menaced, authenticity.«
Die Kehrseite dieser Sehnsucht nach der zurückgewonnenen Materialität des Mediums ist die Steigerung zum Fetisch; die Benjamin’sche Aura kann angesichts der viralen Verbreitbarkeit des Digitalen jetzt sogar im technisch reproduzierbaren Medium gefunden werden.
Sind wir also, wenn wir dem analogen Film huldigen, schon Mitglieder einer okkulten Sekte geworden? Zumindest macht mich meine eigene Faszination angesichts der Filmmaterialität mittlerweile misstrauisch. Gefällt mir ein Film etwa allein schon, weil er auf Filmmaterial gedreht wurde? Oder ist dieses Filmmaterial in einer Art zwingend, da es sich in besonderer Weise mit dem Dargestellten verbindet? Und woher sollte man diesen Anspruch beziehen?
Analogerfahrungen gab es einige im diesjährigen Forum-Programm. Meist auf 16mm gedreht, integrierten die Filme Erzählweisen, die dem HD-Digitalen sogar entgegengesetzt sind. Wie sollen Landschaftsaufnahmen in der kühlen Klarheit der 4K-Pixel das Flirren beginnen? Wie kann sich das Bild vor seiner Arbitrarität retten, wenn die digitale Kamera endlos und unterschiedslos Bilder aufzeichnen kann? Chance und Herausforderung der teuren 16mm-Bilder ist ihre Verknappung im Dreh. Nichts erscheint mehr arbiträr, alles wirkt zwingend. Wenn es denn gut ist. Zwei Filme im diesjährigen Forum-Programm lösten immerhin diesen Anspruch ein. Dazu gab es am letzten Berlinale-Donnerstag dann noch eine ganztägige Schau von historischen Filmen, besonders hervorzuheben ist Bette Gordons Variety (1983), der von einer Kinokassiererin erzählt, die die Pornowelt für sich entdeckt und einem männlichen Objekt ihrer Begierde nachstellt. Die historischen Filme zeigten die vergangene Selbstverständlichkeit des Filmmaterials. Variety wurde vom Berliner Arsenal Institute digital restauriert, dann wieder auf das 35mm-Analog-Trägermedium gebracht. Unabhängig davon offenbarte die Vorführung des Films einen Meilenstein aufrechten feministischen Filmschaffens.
Was aber ist mit den Filmen von heute? Die beiden gelungenen Beispiele des Forums zeigen, dass sie konventionelle Kinoerzählungen aufgegeben haben. Der anarchistische Die kinder der Toten entstand im Umfeld des Steirischen Herbstes unter der Regie der Performancegruppe »Nature Theater of Oklahoma«; es ist ihr erster Film, und aus dem Stand erhielt sie den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik. Der zweite bemerkenswerte Film zeigte das Analoge als Erinnerungsmaterial. Serpentário beschreibt einen traumhaften Weg durch die Wüste von Angola, auf der vergeblichen Suche nach der Intaktheit des Landes und der Familiengeschichte des Regisseurs. Eine wirkliche Geschichte ist in dem poetisierenden Film, der gleichermaßen aus dem Rahmen fallendes Period Picture und Science-Fiction ist, jedoch nicht zu entdecken.
Die karnevaleske Übertreibung bringt Die Kinder der Toten indes als anarchistische Performance zur Vervollkommnung. Kelly Copper und Pavol Liska, Gründer*innen des »Nature Theater of Oklahoma«, adaptierten die gleichnamige Gothic Novel von Elfriede Jelinek. Der groteske Zombie-Reigen des Romans zeigt sich hier auf stummem Super-8-Wiedergänger-Material. Alles beginnt mit einer fröhlichen Zusammenkunft im Gasthof Alpenrose. Es folgt ein übermütiger Ausflug in einem Reisebus und ein tödlicher Verkehrsunfall, bei dem alle Touristen sterben. Drei von ihnen versuchen in das Leben zurückzukehren. Schließlich ergibt sich ein Totentanz, mit horrifizierendem, österreichischem Figurenarsenal: Sexwütige, fleischfressende, übereinander herfallende Nationalsozialisten mit Hakenkreuzarmbinde sind der schauerliche Höhepunkt des Horror-Heimatfilms, der in seiner theatralen Drastik und zugleich betörenden Stummfilmästhetik nur einen Schluss zulässt: Hier haben sich Christoph Schlingensief und Guy Maddin, kanadischer Stummfilmbeschwörer, zusammengetan.
Produziert hat der keineswegs zimperliche Ulrich Seidel. Copper und Liska haben sich alle Freiheiten genommen, verfilmten ohne Romankenntnis geradewegs den englischsprachigen Wikipedia-Eintrag, in dem es über das »Magnum Opus« von Jelinek heißt: »All the characters are undead in the process of decomposition and are presented as mute zombies in the manner of splatter films. (…) They are incapable of speech, obsessed with sex, and brutal. They are confronted with the mass of Holocaust victims, who wish to achieve new life.« Was soll man sagen? Der Film ist eine ziemlich getreue Adaption dieser Beschreibung: inszeniert wurde mit befreiend wirkender Durchgeknalltheit.
Ebenfalls eine Art Heimatfilm ist Serpentário des Angolaners Carlos Conceição. Wie in einer Hypnose lässt er sich von der zentralafrikanischen Wüstenlandschaft aufsaugen, sein Land ist Wüste und Verwüstung zugleich, in Folge der vielen Bürgerkriege.
Der Alter Ego des Regisseurs durchwandert Landschaften, über die der Wind hinwegpfeift. Sie sind spektakulär, jedoch nicht »atemberaubend«, sind weniger photographisch-malerisch, vielmehr physisch und entleert. Die Wanderung ist eine metaphorische, sie führt, beiläufig angedeutet, durch die Geschichte Angolas. Einmal ist der Junge wie zur Zeit des Kolonialismus gekleidet, dann wieder hebt der Film ab in den weiten Weltraum, auf der Suche nach dem Sternenbild der Schlange, dem Serpentarius. Sein rätselhafter Film ist ein »Dokumentarfilm über die Suche nach einem Gefühl«, sagt Conceição. Gefilmt hat er auf 16mm, dessen Grobkörnigkeit sich mit den Sandverwehungen der Wüste vermengen: In der Tat manifestiert sich hier die Emotion einer tiefen Sehnsucht und Heimatlosigkeit, an deren Horizont der Dialog mit der verstorbenen Mutter wartet. Die spürbare Film-Materialität vereint hier Präsenz und Abwesenheit zugleich.
So ist der »Film in the Present Tense«, der Analogfilm der Gegenwart, auch ein Filmen im narrativen und ästhetischen Tempus einer Gegenwart, die sich hier ganz und gar physisch und präsentisch mitzuteilen versucht. Die beiden genannten Beispiele lassen erahnen: Wo das Digitale zum narrativen Funktionsmedium geworden ist, wird die Zukunft des alten, analogen Mediums poetisch, lyrisch, unmittelbar und zwingend sein.