21.02.2019
69. Berlinale 2019

Nun kann der Sommer endlich kommen!

Berlinale-Zukunft
Der lange Winter der Berlinale

Die 69. Berlinale ist vorbei – das Filmjahr 2019 kann beginnen. Warum Dieter Kosslick trotzdem die Berlinale weiterleitet; warum Zhang Yimous Film in Cannes laufen wird; ein Ausblick mit Rückblick – Berlinale-Tagebuch, Folge 13

Von Rüdiger Suchsland

»Nun ist der Winter unsers Mißver­gnü­gens
Glor­rei­cher Sommer durch die Sonne Yorks;
Die Wolken all, die unser Haus bedräut,
Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben.
Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze,
Die schart'gen Waffen hängen als Trophä'n;
Aus rauhem Feldlärm wurden muntre Feste,
Aus furcht­barn Märschen holde Tanz­mu­siken.«
William Shake­speare: »Richard III.«

»It’s a cruel, cruel summer
leaving me here on my own
It’s a cruel, cruel summer
Now you're gone«
Banarama »Cruel Summer«

Cannes, Venedig, Locarno, San Sebastián – die vier größten A-Film­fes­ti­vals der Welt neben der Berlinale werden seit vielen Jahren von Film­wis­sen­schaft­lern oder Film­kri­ti­kern geleitet. Die Berlinale wurde es achtzehn Jahre lang von einem ehema­ligen Film­för­derer.
Viel­leicht sind daher manche bisherige Unter­schiede kein Zufall. Und viel­leicht können Film­wis­sen­schaftler und Film­kri­tiker ja manche Dinge besser als Film­för­derer.

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Das Ergebnis ist schlagend: Diese Woche wurden erste, noch nicht bestä­tigte »Line-Ups« für die in drei Monaten eröff­nenden Film­fest­spiele von Cannes veröf­fent­licht.

Hier ist die volle Liste der wahr­schein­li­chen und möglichen Filme, der Favoriten und Outsider auf einen Platz in der »Selection Offi­ci­elle«:

Darunter die Regis­seure Rebecca Zlotowski, Anne Hui, Alice Winocour, Justine Triet, Malgorzata Szumowska, Kelly Reichardt, Jessica Hausner, Flora Lau, Shahr­banoo Sadat, Céline Sciamma, Agnes Kocsis, Katrin Gebbe, Marjane Satrapi, Catalin Mitulescu – vierzehn Frauen für euch Quoten­fe­ti­schisten!! –, Paul Verhoeven, Ari Folmanm, Wes Anderson, Abdel­latif Kechiche, Pedro Almodóvar, Marco Belloc­chio, Roy Andersson, Ulrich Seidl, Corneliu Porumboiu, Brüder Dardennes, Lou Ye, Zhang Yimou (mit dem Film, der während der Berlinale »aus tech­ni­schen Gründen« aus dem laufenden Wett­be­werb genommen wurde, worauf gute deutsche Jour­na­listen sofort einen Anlass – »Zensur!« zum beliebten China-Bashing machten), Arnaud Desplechin, Bruno Dumont, Bong Joon-ho, Jim Jarmusch, Safdie-Brothers, Xavier Dolan, Atom Egoyan, Elia Suleiman, Kiyoshi Kurosawa, Kleber Mendonça Filho, Juliano Dornelles, Justin Kurzel, Bertrand Bonello, Pablo Larraín, Ira Sachs, Fabrice du Welz, Alejandro Amenabar, Patricio Guzmán, Massoud Bakhshi, Koji Fukada, Cédric Kahn, Guillaume Nicloux, Robert Guédi­guian, Claude Lelouch.
Ehemlige Palme d’Or-Sieger sind darunter: Ahmed von den Belgiern Jean-Pierre und Luc Dardenne, Sorry We Missed You vom Briten Ken Loach, der neue Film des Japaners Hirokazu Kore-eda, Once Upon A Time in Hollywood von Quentin Tarantino, Mektoub My Love: Inter­mezzo von Abdel­latif Kechiche und Radegund von Terrence Malick mit diversen deutschen Darstel­lern.

Eigent­lich muss man jetzt nichts weiter dazu sagen.

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Muss man aber doch. Cannes erfindet sich zur Zeit nämlich gerade neu. »Damit alles so bleibt wie es ist, muss sich alles verändern«, wusste der Graf Lampedusa.
So hat Cannes die lang­jäh­rige Leiterin der Pres­se­ab­tei­lung, Christine Aymé, Anfang des Jahres abgelöst. So hat man in Cannes auch die Auswahl­kom­mis­sion verändert. Beides sind Schritte, die auch in Berlin über­fällig sind, die man aber seit Jahren vermieden hat.

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Der Wett­be­werb zwischen Film­fes­ti­vals ist extrem hart. Ich gebe zu: Es kam mir schon vergan­gene Woche merk­würdig vor, als es hieß, dass Zhang Yimous Film One Second, »aus tech­ni­schen Gründen« aus dem laufenden Berlinale-Wett­be­werb genommen wurde. Tech­ni­sche Gründe – das kann eigent­lich nicht sein. Eine Stunde vorher, weil das DCP nicht läuft, ok. Aber vier Tage vorher? Sofort schrienen alle relex­artig Zensur, titelten »Zensiert China die Berlinale?«
Wenn man dann aber Wang Xioas­huais Dreis­tünder Farewell my son sah, drängte sich der Gedanke auf: Kriti­scher kann es eigent­lich nicht sein. Warum sollte man Zhang Yimou zensieren, der viel­leicht kein Darling des Pekinger Regimes ist, aber immerhin renom­miert und gelitten genug, um 2008 die Eröff­nungs­gala der Pekinger Olympiade zu verant­worten, aber weder den kriti­schen Farewell my son noch das abgrün­dige Shadow Play von Lou Ye, einem relativen Dissi­denten, der schon mal mit sieben­jäh­rigem Berufs­verbot belegt worden war?
Viel­leicht könnte es ja andere Gründe geben? Könnte es zum Beispiel sein, dass Cannes seine Hände im Spiel hat? Oder ist das ausge­schlossen? Ein Anruf von »Thierry« an Zhang: »Cher ami, warum zeigst du deinen Film nicht bei uns, das ist doch viel besser?«
Ist das ausge­schlossen? I believe not.

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Es gibt nicht nur gute Nach­richten, the winter of our discon­tent ist noch nicht ganz zuende. Wer nämlich jetzt sagt und schreibt »Kosslick ist weg«, den muss ich leider enttäu­schen. Dieter Kosslick ist als Berlinale-Direktor noch über drei weitere Monate im Amt!

Weil ich entspre­chende Andeu­tungen dafür in meiner Lieb­lings­lo­kal­zei­tung, dem Berliner »Tages­spiegel« gelesen habe, und kaum glauben konnte, schrieb ich heute folgende Mail mit fünf Fragen an das Bundes­kul­tur­mi­nis­te­rium, unter dem Betreff: »Nach­fragen zum Zeitplan für Berlinale Stabü­ber­gabe«.

»Erlauben Sie eine kurze Nachfrage zum Procedere der Stabü­ber­gabe bei der Berlinale. Stimmt meine Infor­ma­tion, dass Dieter Kosslick noch bis zum Ende Mai 2019 im Amt ist? Und falls ja: Wie verträgt sich das mit der Tatsache, dass Mariette Rissen­beek bereits im März ihr Amt bei der Berlinale übernimmt? Weiterhin: Wann beginnt der Vertrag von Carlo Chatrian? Falls es zu Über­lap­pungen der Amtszeit kommt: Wie habe ich mir die Entschei­dungs­fin­dung während dieser Monate vorzu­stellen? Schließ­lich: Darf ich davon ausgehen, dass der Reiseetat Chatrians und Rissen­beeks bis Ende Mai ‘19 (zum Beispiel nach Cannes) von Herrn Kosslick abge­zeichnet werden muss? Und wird?
Voller Neugier auf Ihre Antwort und mit herz­li­chen Grüßen...«

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Darauf bekam ich am Nach­mittag folgende fünf Antworten:

- Ja, sein Vertrag läuft noch bis zum 31. Mai 2019.
- Frau Rissen­beeks Vertrag als Geschäfts­füh­rerin beginnt am 1. Juni 2019, nach Auslaufen des Kosslick-Vertrages. Ab 1. März ist sie aber schon im Rahmen einer Vorbe­rei­tungs­zeit unter Vertrag, aller­dings noch nicht als Geschäfts­füh­rerin.
- Die Vorbe­rei­tungs­zeit von Herrn Chatrian läuft bereits seit September 2018. Ab April 2019 ist er Vollzeit als künst­le­ri­scher Direktor für die Berlinale tätig.
- Herr Kosslick leitet die Berlinale bis Ende Mai 2019 und ist bis dahin auch Geschäfts­führer.
- Die beiden neuen Leiter haben einen eigenen Reiseetat, ihre Reisen müssen nicht von Herrn Kosslick genehmigt werden.

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Bezeich­nend für den anbie­dernden und spießigen Stil der Berliner Lokal­presse, und ihren Verzicht auf alle Distanz war auch ein Text, der bereits während der Berlinale in meiner Lieb­lings­lo­kal­zei­tung erschien:

Der Titel »Freund­liche Übernahme« war ein Freud­scher Verdru­cker oder eine List der Text­re­dak­tion, ist doch im Text selbst von freund­li­cher »Übergabe« die Rede. Darin steht dann viel über die Leiden des Alltags als Berli­nal­e­di­rektor, echt 20 Termine pro Tag, also fast einen pro Stunde, darunter Cham­pa­gner bzw. Ingwertee mit Christian Bale. Wahnsinn, der Arme.

Und der Mann ist einfach supernett und universal beliebt, »Dieter Kosslick muntert die Gäste auf«, seine türkische Schnei­derin bekommt zwei Karten – Publi­kums­fes­tival halt. »Angela Merkel lädt Binoche und ihre Mitstreiter ins Kanz­leramt – kurze Lage­be­spre­chung.« Zwischen Merkel und Binoche? Über Trump. »Der abgesagte chine­si­sche Film bedeutet auch einen deut­li­chen Einnah­me­ver­lust beim Ticket-Verkauf.« Ohhhh...
»Man sieht sie denn auch ständig bei der 69. Berlinale: Chatrian und Rissen­beek nehmen an der Eröffnung teil.« Wow!! Als ob der Locarno-Chef und die noch German-Films-Chefin das vorher nicht geschafft hätten.
»Krisen gehören zum Alltag des Festi­val­chefs – und was heißt hier Krise?« »Wer nur ein paar Stunden hinter den Kulissen dabei ist, erlebt einen anste­ckenden Teamgeist; die berühmte Freund­lich­keit der Berlinale prägt auch den inner circle.«
So Zeugs, was Prak­ti­kanten schreiben... Kritik? Fehl­an­zeige! Distanz? I wo – wir lassen uns doch unsere Berlinale nicht kaputt­ma­chen. »Dann geht doch nach Duisburg!«

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Und dann wird dekre­tiert, es folgen Propa­gan­da­be­haup­tungen:
»Kosslicks Nach­folger, der künst­le­ri­sche Leiter Carlo Chatrian und Geschäfts­füh­rerin Mariette Rissen­beek, über­nehmen einen funk­tio­nie­renden (und ökozer­ti­fi­zierten) Laden.« Falsch!
»Dass die Berlinale ein Publi­kums­fest mit vielen Programm­schienen bleibt, wird sich kaum ändern.« Auch da irrt Chris­tiane Peitz.
Es muss und wird sich ändern, sonst geht die Berlinale zugrunde. Gerade die klare Redu­zie­rung des Programms ist die Chance, durch die die Berlinale auch den Zwang los wird, das Publikum immer zu steigern, und sich an Kosslicks Popu­lismus-Zahlen messen zu lassen.
Wenn man plötzlich nur 250 Filme hätte, wie die Viennale, aber doppelt so viele wie Cannes, dann gäbe es keine Vergleichs­größe mehr.

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Quizfrage: Was macht Dieter Kosslick eigent­lich, wenn seine Amtszeit doch irgend­wann ausge­laufen ist?

Eine Freundin aus Argen­tinen hatte schon am ersten Berlinale-Wochen­ende die schöne Antwort: »What could he do? He could only go to the Arabs.«

(to be continued)