69. Berlinale 2019
Nun kann der Sommer endlich kommen! |
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Der lange Winter der Berlinale |
»Nun ist der Winter unsers Mißvergnügens
Glorreicher Sommer durch die Sonne Yorks;
Die Wolken all, die unser Haus bedräut,
Sind in des Weltmeers tiefem Schoß begraben.
Nun zieren unsre Brauen Siegeskränze,
Die schart'gen Waffen hängen als Trophä'n;
Aus rauhem Feldlärm wurden muntre Feste,
Aus furchtbarn Märschen holde Tanzmusiken.«
William Shakespeare: »Richard III.«»It’s a cruel, cruel summer
leaving me here on my own
It’s a cruel, cruel summer
Now you're gone«
Banarama »Cruel Summer«
Cannes, Venedig, Locarno, San Sebastián – die vier größten A-Filmfestivals der Welt neben der Berlinale werden seit vielen Jahren von Filmwissenschaftlern oder Filmkritikern geleitet. Die Berlinale wurde es achtzehn Jahre lang von einem ehemaligen Filmförderer.
Vielleicht sind daher manche bisherige Unterschiede kein Zufall. Und vielleicht können Filmwissenschaftler und Filmkritiker ja manche Dinge besser als Filmförderer.
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Das Ergebnis ist schlagend: Diese Woche wurden erste, noch nicht bestätigte »Line-Ups« für die in drei Monaten eröffnenden Filmfestspiele von Cannes veröffentlicht.
Hier ist die volle Liste der wahrscheinlichen und möglichen Filme, der Favoriten und Outsider auf einen Platz in der »Selection Officielle«:
Darunter die Regisseure Rebecca Zlotowski, Anne Hui, Alice Winocour, Justine Triet, Malgorzata Szumowska, Kelly Reichardt, Jessica Hausner, Flora Lau, Shahrbanoo Sadat, Céline Sciamma, Agnes Kocsis, Katrin Gebbe, Marjane Satrapi, Catalin Mitulescu – vierzehn Frauen für euch Quotenfetischisten!! –, Paul Verhoeven, Ari Folmanm, Wes Anderson, Abdellatif Kechiche, Pedro Almodóvar, Marco Bellocchio, Roy Andersson, Ulrich Seidl, Corneliu Porumboiu, Brüder Dardennes, Lou Ye,
Zhang Yimou (mit dem Film, der während der Berlinale »aus technischen Gründen« aus dem laufenden Wettbewerb genommen wurde, worauf gute deutsche Journalisten sofort einen Anlass – »Zensur!« zum beliebten China-Bashing machten), Arnaud Desplechin, Bruno Dumont, Bong Joon-ho, Jim Jarmusch, Safdie-Brothers, Xavier Dolan, Atom Egoyan, Elia Suleiman, Kiyoshi Kurosawa, Kleber Mendonça Filho, Juliano Dornelles, Justin Kurzel, Bertrand Bonello, Pablo Larraín, Ira Sachs, Fabrice du Welz,
Alejandro Amenabar, Patricio Guzmán, Massoud Bakhshi, Koji Fukada, Cédric Kahn, Guillaume Nicloux, Robert Guédiguian, Claude Lelouch.
Ehemlige Palme d’Or-Sieger sind darunter: Ahmed von den Belgiern Jean-Pierre und Luc Dardenne, Sorry We Missed You vom Briten Ken Loach, der neue Film des Japaners Hirokazu Kore-eda, Once Upon A Time in Hollywood von Quentin Tarantino, Mektoub My Love:
Intermezzo von Abdellatif Kechiche und Radegund von Terrence Malick mit diversen deutschen Darstellern.
Eigentlich muss man jetzt nichts weiter dazu sagen.
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Muss man aber doch. Cannes erfindet sich zur Zeit nämlich gerade neu. »Damit alles so bleibt wie es ist, muss sich alles verändern«, wusste der Graf Lampedusa.
So hat Cannes die langjährige Leiterin der Presseabteilung, Christine Aymé, Anfang des Jahres abgelöst. So hat man in Cannes auch die Auswahlkommission verändert. Beides sind
Schritte, die auch in Berlin überfällig sind, die man aber seit Jahren vermieden hat.
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Der Wettbewerb zwischen Filmfestivals ist extrem hart. Ich gebe zu: Es kam mir schon vergangene Woche merkwürdig vor, als es hieß, dass Zhang Yimous Film One Second, »aus technischen Gründen« aus dem laufenden Berlinale-Wettbewerb genommen wurde. Technische Gründe – das kann eigentlich nicht sein. Eine Stunde vorher, weil das DCP nicht läuft, ok. Aber vier Tage vorher? Sofort schrienen alle relexartig Zensur, titelten »Zensiert China die
Berlinale?«
Wenn man dann aber Wang Xioashuais Dreistünder Farewell my son sah, drängte sich der Gedanke auf: Kritischer kann es eigentlich nicht sein. Warum sollte man Zhang Yimou zensieren, der vielleicht kein Darling des Pekinger Regimes ist, aber immerhin renommiert und gelitten genug, um 2008 die Eröffnungsgala der Pekinger Olympiade zu verantworten, aber weder den kritischen Farewell my son noch das abgründige Shadow Play von Lou Ye, einem relativen Dissidenten, der schon mal mit siebenjährigem Berufsverbot belegt worden war?
Vielleicht könnte es ja andere Gründe geben? Könnte es zum Beispiel sein, dass Cannes seine Hände im Spiel hat? Oder ist das ausgeschlossen? Ein Anruf von »Thierry« an Zhang: »Cher ami, warum zeigst du deinen Film nicht bei uns, das ist doch viel besser?«
Ist das ausgeschlossen? I believe not.
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Es gibt nicht nur gute Nachrichten, the winter of our discontent ist noch nicht ganz zuende. Wer nämlich jetzt sagt und schreibt »Kosslick ist weg«, den muss ich leider enttäuschen. Dieter Kosslick ist als Berlinale-Direktor noch über drei weitere Monate im Amt!
Weil ich entsprechende Andeutungen dafür in meiner Lieblingslokalzeitung, dem Berliner »Tagesspiegel« gelesen habe, und kaum glauben konnte, schrieb ich heute folgende Mail mit fünf Fragen an das Bundeskulturministerium, unter dem Betreff: »Nachfragen zum Zeitplan für Berlinale Stabübergabe«.
»Erlauben Sie eine kurze Nachfrage zum Procedere der Stabübergabe bei der Berlinale. Stimmt meine Information, dass Dieter Kosslick noch bis zum Ende Mai 2019 im Amt ist? Und falls ja: Wie verträgt sich das mit der Tatsache, dass Mariette Rissenbeek bereits im März ihr Amt bei der Berlinale übernimmt? Weiterhin: Wann beginnt der Vertrag von Carlo Chatrian? Falls es zu Überlappungen der Amtszeit kommt: Wie habe ich mir die Entscheidungsfindung während dieser Monate vorzustellen?
Schließlich: Darf ich davon ausgehen, dass der Reiseetat Chatrians und Rissenbeeks bis Ende Mai ‘19 (zum Beispiel nach Cannes) von Herrn Kosslick abgezeichnet werden muss? Und wird?
Voller Neugier auf Ihre Antwort und mit herzlichen Grüßen...«
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Darauf bekam ich am Nachmittag folgende fünf Antworten:
- Ja, sein Vertrag läuft noch bis zum 31. Mai 2019.
- Frau Rissenbeeks Vertrag als Geschäftsführerin beginnt am 1. Juni 2019, nach Auslaufen des Kosslick-Vertrages. Ab 1. März ist sie aber schon im Rahmen einer Vorbereitungszeit unter Vertrag, allerdings noch nicht als Geschäftsführerin.
- Die Vorbereitungszeit von Herrn Chatrian läuft bereits seit September 2018. Ab April 2019 ist er Vollzeit als künstlerischer Direktor für die Berlinale tätig.
- Herr Kosslick leitet
die Berlinale bis Ende Mai 2019 und ist bis dahin auch Geschäftsführer.
- Die beiden neuen Leiter haben einen eigenen Reiseetat, ihre Reisen müssen nicht von Herrn Kosslick genehmigt werden.
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Bezeichnend für den anbiedernden und spießigen Stil der Berliner Lokalpresse, und ihren Verzicht auf alle Distanz war auch ein Text, der bereits während der Berlinale in meiner Lieblingslokalzeitung erschien:
Der Titel »Freundliche Übernahme« war ein Freudscher Verdrucker oder eine List der Textredaktion, ist doch im Text selbst von freundlicher »Übergabe« die Rede. Darin steht dann viel über die Leiden des Alltags als Berlinaledirektor, echt 20 Termine pro Tag, also fast einen pro Stunde, darunter Champagner bzw. Ingwertee mit Christian Bale. Wahnsinn, der Arme.
Und der Mann ist einfach supernett und universal beliebt, »Dieter Kosslick muntert die Gäste auf«, seine türkische Schneiderin bekommt zwei Karten – Publikumsfestival halt. »Angela Merkel lädt Binoche und ihre Mitstreiter ins Kanzleramt – kurze Lagebesprechung.« Zwischen Merkel und Binoche? Über Trump. »Der abgesagte chinesische Film bedeutet auch einen deutlichen Einnahmeverlust beim Ticket-Verkauf.« Ohhhh...
»Man sieht sie denn auch ständig bei der 69.
Berlinale: Chatrian und Rissenbeek nehmen an der Eröffnung teil.« Wow!! Als ob der Locarno-Chef und die noch German-Films-Chefin das vorher nicht geschafft hätten.
»Krisen gehören zum Alltag des Festivalchefs – und was heißt hier Krise?« »Wer nur ein paar Stunden hinter den Kulissen dabei ist, erlebt einen ansteckenden Teamgeist; die berühmte Freundlichkeit der Berlinale prägt auch den inner circle.«
So Zeugs, was Praktikanten schreiben... Kritik? Fehlanzeige! Distanz? I
wo – wir lassen uns doch unsere Berlinale nicht kaputtmachen. »Dann geht doch nach Duisburg!«
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Und dann wird dekretiert, es folgen Propagandabehauptungen:
»Kosslicks Nachfolger, der künstlerische Leiter Carlo Chatrian und Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek, übernehmen einen funktionierenden (und ökozertifizierten) Laden.« Falsch!
»Dass die Berlinale ein Publikumsfest mit vielen Programmschienen bleibt, wird sich kaum ändern.« Auch da irrt Christiane Peitz.
Es muss und wird sich ändern, sonst geht die Berlinale zugrunde. Gerade die klare
Reduzierung des Programms ist die Chance, durch die die Berlinale auch den Zwang los wird, das Publikum immer zu steigern, und sich an Kosslicks Populismus-Zahlen messen zu lassen.
Wenn man plötzlich nur 250 Filme hätte, wie die Viennale, aber doppelt so viele wie Cannes, dann gäbe es keine Vergleichsgröße mehr.
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Quizfrage: Was macht Dieter Kosslick eigentlich, wenn seine Amtszeit doch irgendwann ausgelaufen ist?
Eine Freundin aus Argentinen hatte schon am ersten Berlinale-Wochenende die schöne Antwort: »What could he do? He could only go to the Arabs.«
(to be continued)