72. Filmfestspiele Cannes 2019
»Just a ghost movie« |
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Premieren-Plausch, Kubrick hätte es gefallen | ||
(Foto: Sedat Aslan) |
Von Sedat Aslan
Freitag Abend, 22:30 Uhr in Cannes – den hochgelobten Wettbewerbsbeitrag von Ken Loach ansehen, den neuen Nicolas Winding Refn, oder doch die restaurierte 4K-Fassung von Stanley Kubricks The Shining? Schon absurd, was einem in Cannes für Optionen offen stehen. Vor allem aus zeitlichen Gründen fällt die Wahl auf den Horror-Klassiker, die denkbar beste Friday-Midnight-Show für ein solches Festival. Im Foyer liegen für jeden Zuschauer Replika des originalen Presseheftes von 1980 zum Mitnehmen aus, ein Hingucker in knallgelbem Cover und Schmuckstück für die Sammlung. Wie im Jahr zuvor bei der Neuaufführung von 2001 – Odyssee im Weltraum findet das Ganze im zweitgrößten Saal des Festivals statt, der »Salle Debussy« ist mit etwa 1000 Leuten voll besetzt.
Festivaldirektor Thierry Frémaux lobt die Bereitschaft von Warner Bros., den Film zu restaurieren und ruft Alfonso Cuarón als Präsentator zu ihm auf die Bühne. Ihn begleiten Leon Vitali, der lange Jahre an Kubricks Seite als dessen persönlicher Assistent arbeitete und mit in den Restaurationsprozess einbezogen war, und Katherina Kubrick, die Stieftochter des Meisters. Sie fragt, wer den Film noch nicht gesehen habe – einige Dutzend Hände schnellen hoch, die Zahl derer, die ihn nie auf der großen Leinwand gesehen haben, dürfte hingegen die Mehrheit des Publikums umfassen. Katherine Kubrick versucht die Novizen einzustimmen und gleichzeitig zu beruhigen, nach dem Film würden sie den Saal unversehrt verlassen, »remember: it’s just a ghost movie«. Sie beteuert hörbar bewegt, es hätte ihren Vater stolz gemacht, dass Jahrzehnte danach sich so viele Leute eingefunden hätten, um seinen Film zu sehen – um plötzlich recht energisch hinzuzufügen, niemand solle den ganzen Verschwörungstheorien Glauben schenken, »they are all shit«. Erst 2012 hatte Rodney Aschers Film Room 237 die durchs Internet wiederaufgewärmten vogelwilden Thesen ja auch ins Kino gebracht. Alfonso Cuarón schließt ironisch daran an, als er bemerkt, dies sei natürlich ein Film über Völkermord, über die gefälschte Mondlandung, und wenn man ihn rückwärts abspiele, würden geheime Botschaften Kubricks sichtbar.
Dann gibt er eine Anekdote zum Besten, in der Kubricks Detailliebe deutlich wird: In Barry Lyndon soll eine Figur, der mittlerweile ein Bein amputiert wurde, im Bild sein. Als die üblichen Tricks, wie etwa das Bein abzubinden, für Kubrick nicht befriedigend aussehen, sucht das Team verzweifelt ein Double, dem tatsächlich ein Bein fehlt. Als sie endlich jemand passenden gefunden zu haben glauben, präsentieren sie ihn Stanley. Der steht fassungslos vor dem Mann und sagt nur: »Wrong fucking leg«. Seit er diese Geschichte kennt, so Cuarón weiter, ist das für ihn und seine Crew der Codebegriff dafür, wenn etwas am Set schief gelaufen ist. Direkt vor Filmbeginn betont Leon Vitali, mutmaßlich zum Ärger der letzten Filmromantiker, dass Kubrick das digitale Kino geliebt hätte, weil dort jede Kopie gleich gut ist und er immer sehr besorgt darum gewesen sei, dass eine schlechte Projektion seine ganze Arbeit hätte zunichte machen können. Dann geht endlich das Licht aus, Bild und Ton an.
Über den Film selbst braucht man natürlich nichts mehr zu schreiben, er ist mit The Exorcist einer der Wegbereiter des modernen Horrorfilms. Zur Restauration ist festzuhalten, dass es sich um die 144-minütige US-Fassung handelt, die Kubrick später für den europäischen Markt um ganze 25 Minuten gekürzt hat. Dies ist sein einziger Film, von dem zwei autorisierte Fassungen im Umlauf sind (die retuschierte US-Fassung von Eyes Wide Shut nicht mitgerechnet). Der zweiminütige Epilog fehlt hingegen immer noch, den er seinerzeit nach der Weltpremiere und der Auslieferung aller Kopien per Dekret von den Filmvorführern direkt in den Kinos herausschneiden ließ.
Nun ist The Shining kein Film, der dringend restaurierungsbedürftig gewirkt hätte, er war auch in allen Home-Video-Formaten stets in gutem Zustand repräsentiert. Durch die Abtastung direkt vom 35mm-Negativ sowie die 4K-Auflösung macht das knackscharfe Bild nun einen taufrischen und äußerst lebendigen Eindruck. Die Farbkorrektur ist behutsam und umsichtig, der Look der späten 70er/frühen 80er bleibt erhalten. Man hat zum Glück nie das Gefühl, einen neuen Film zu sehen, aber diesen Film neu sehen zu dürfen. Dazu tragen auch die gekürzten Szenen bei, die zumeist Dialogszenen sind und dem Film im Vergleich zu der uns bekannten Fassung ein stärkeres narratives Fundament verleihen. In dieser Vorführung kommt zudem der Ton zu seinem vollen Recht, die unbehagliche Soundkulisse ist kristallklar abgemischt und fährt einem stellenweise regelrecht unter die Haut.
Als Jack am Ende mit der Axt in der Hand den kleinen Danny durchs verschneite Labyrinth jagt und seine Frau Wendy zeitgleich von blutgetränkten Schreckensvisionen im Overlook Hotel heimgesucht wird, kommen all diese Elemente zusammen und pressen einen ins Polster auf eine Weise, wie es vor dem Fernseher nie passiert, daneben schrecken die Leute aus den Sitzen. Am Ende gibt es lauten Jubel, vor dem Palais windet es, es treten Menschen in dunkler Abendgarderobe mit gelben Shining-Heften unterm Arm zufrieden in die Nacht.