17.08.2019
72. Locarno Filmfestival 2019

Die Ästhetik einer schwarzen Diaspora

Baldwin's Nigger
Herzstück in der diesjährigen Retrospektive: Baldwin’s Nigger
(Foto: Infilms)

Jenseits von Identitätszwängen: Das Filmfestival von Locarno zeigt »Black Light« – eine Passage durch Raritäten und Klassiker. Sie belegt auch: Der Rassismus ist überall; Notizen aus Locarno, 5. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»We know, everybody knows ... that we are not bombing people out of existence, in the name of freedom. ... We are concerned with power, nothing more than that...«
James Baldwin

Das Bild zeigt Auszüge aus einer Tagung in London im Jahr 1969. Es spricht der Schrift­steller und Kultur­theo­re­tiker James Baldwin, der wohl wich­tigste Denker der Schwarzen Amerikas. 25 Minuten lang redet der charis­ma­ti­sche Mann, eingängig und leicht vers­tänd­lich. Er redet und stellt sein Charisma, seine Worte und sein Lächeln in den Dienst einer unbe­quemen Wahrheit: Er redet über den Terror der Identität.

Woher er denn komme, habe ihn ein Londoner gefragt. Er komme aus Harlem. Ja, aber eigent­lich. Er komme aus New York. Nein, woher er wirklich komme. Er komme aus Amerika. Der Frage­steller wollte die Antwort nicht akzep­tieren. Er wollte etwas über »die Wurzeln« wissen, etwas hören über Sklaverei und Afrika, aber Baldwin verwei­gerte die Antwort und hat über seine Antwort­ver­wei­ge­rung dann im Vortrag reflek­tiert. »Ich bin Ameri­kaner. Und der Ort woher ich komme, liegt irgendwo zwischen George Washington und John Wayne.« Sein Ursprung sei ein Willensakt, eine frei­wil­lige Wahl, die bewusst eine Distanz setze zur Sklaverei, wie zum Ursprungs­ter­ri­to­rium Afrika. Wer einen Menschen auf solche Ursprünge festlege, lege die Freiheit nur in andere Ketten, als der Skla­ven­halter.

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Baldwin, der 40 Jahre seines Lebens in Frank­reich zubrachte und zum Zirkel des Pariser Rive Gauche um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gehörte, ist ein Exis­ten­tia­list. Man sei, was man wähle, zu sein. Baldwin spricht über Freiheit und Macht, er spricht schön und ener­ge­tisch, ironisch, seine Reden machen Spaß zuzuhören. Der Film, in dem dieser phäno­me­nale Auftritt im Zentrum steht, heißt Baldwin’s Nigger und stammt vom briti­schen Filme­ma­cher Horace Ové.

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Dieser Film ist ein Beleg dafür, dass die Form eines Films manchmal auch das Unwich­tigste an ihm sein kann.
Denn dieser Film ist vor allem Inhalt. Er ist sein Prot­ago­nist, Baldwin. Und er ist seine Worte. Ein Loblied auf die Rhetorik. Hier sitzt nicht nur jeder Satz, sondern auch jede Atempause.

Trotzdem hat diese Freiheit auch eine andere Seite. »Anders als Weiße müssen wir alles hinter­fragen und unsere Geschichte neu schreiben«, sagt Baldwin seinen Zuhörern in London.

Dieses »Neuschreiben« ist Fluch und Segen der dies­jäh­rigen Retro­spek­tive von Locarno. Es kann nicht gelingen, die Geschichte des Kinos umzu­schreiben, oder auch nur um die Perspek­tive schwarzer Autoren zu erweitern, weil Hautfarbe kein Kriterium sein darf, so wenig wie Geschlecht, Klasse, sexuelle Orien­tie­rung. Auch nicht unter dem Banner der »Diver­sität«, des Wohl­mei­nens, Unter­s­tützen des Anliegens. Man wäre dann in der alten Falle des Rassismus. Und in der neuen, genau so schlimmen: Der Political Correct­ness.
Nein: Man soll schwarze Filme, also Filme von Schwarzen und über Schwarze nicht sehen, weil sie von Schwarzen sind. Sondern weil sie gut sind – und nur dann.

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Baldwin‘s Nigger ist ein Herzstück in der dies­jäh­rigen Retro­spek­tive beim Film­fes­tival von Locarno, die dieser Schau mit zwei, drei anderen Beiträgen ihr theo­re­ti­sches Fundament gibt. Denn unter dem Titel »Black Light«, »Schwarzes Licht«, zeigt man rund 50, ziemlich eklek­tisch zusam­men­ge­stellte Filme, die nur gemeinsam haben, dass sie die Diver­sität schwarzer Lebens­welten und deren Darstel­lung zwischen 1918 und 2000 zeigen. Die von Greg de Cuir Jr. einem in Belgrad lebenden ameri­ka­ni­schen Film­wis­sen­schaftler kura­tierte Schau verwei­gert sich bewusst einfachen Zuord­nungen durch Identität und Sozio­logie. Es gibt keine afri­ka­ni­schen Filme, außer zweien, die aber genau­ge­nommen nicht von Afrika erzählen.
Gut so. Weg von den Ursprüngen!
Die Filme dieser Passage durch Raritäten und Klassiker entfalten Kultur und Ästhetik einer schwarzen Diaspora. Nicht alle, aber viele stammen von schwarzen Regis­seuren, nicht alle, aber viele kommen aus den USA.
Aber die Willkür der Zusam­men­stel­lung, das Flirren der Unklar­heit, warum ein bestimmter Film nun hier zu sehen war, öffnet den Horizont zur zentralen, unter allem liegenden Frage: Was eigent­lich heißt Black Cinema?

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Fast zur gleichen Zeit wie Baldwins Auftritt, im April 1968 in Altanta, Georgia: Minu­ten­lange doku­men­ta­ri­sche Bilder der Beer­di­gung des ermor­deten Martin Luther King, gefolgt von einem langen Ausschnitt aus dessen berühmter »I have a dream«-Rede. Dieser Auftakt formu­liert den poli­ti­schen Rahmen von Uptight, einem Spielfilm des – weißen – Hollywood-Linken Jules Dassin, und einem der wenigen Filme eines großen Studios – Paramount – mit nahezu ausschließ­lich schwarzen Darstel­lern. In die seiner­zeit überaus aktuelle Geschichte einer schwarzen Unter­grund­zelle in Cleveland und eines Verräters lässt Dassin eigene Erfahrung aus den McCarthy-Jahren einfließen. Es geht um die Frage der Recht­fer­ti­gung von Gewalt, über ange­mes­senes oder illu­so­ri­sches Vertrauen in den Rechts­staat. Ein unbe­kannter Schlüs­sel­film, der alle Aufmerk­sam­keit verdient.

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Kurz nach den spek­ta­kulären Morden an King, Malcolm X und Robert Kennedy, drei Symbol­fi­guren der Bürger­rechts­be­we­gung, setzte mit dem gleich­zei­tigen Beginn von New Hollywood eine neue Phase der Darstel­lung Schwarzer im Kino ein – eine Abwendung von der offen rassis­ti­schen Tradition seit D.W.Griffith' Birth of a Nation. Kurz­zeitig boomten die »Blax­ploita­tion«-Filme, die auch in Locarno laufen, und die noch Quentin Tarantino in seinem Jackie Brown (1997) ironisch zitierte.
Doch »Black Cinema« wurde oft zum Label einer Ghet­toi­sie­rung. Schwarze waren zwar immerhin sicht­barer, doch im Main­stream wurde Rassismus nie wirklich zum Thema.

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Oder? Knapp 20 Jahre früher: Ein Nachtclub in den frühen 1950er Jahren. Ein Jüngling, ein typischer »angry young man« dieser Jahre, Kind des weißen Prole­ta­riats, muss sich erst betrinken, bevor er sich traut, die Sängerin, deren Lied ihn berührt hat, schüch­tern anzu­spre­chen: Sie sei die wunder­barste Sängerin der Welt. Doch es dauert nur wenige Sekunden, bis er den Moment sofort ein für alle Mal verdirbt: Sie sei ungemein schön, auch wenn sie eine... Der junge Mann bringt den Satz nicht volls­tändig über die Lippen, aber alle, auch die Zuschauer im Kino wissen, was gemeint ist.
Die afro­ame­ri­ka­ni­sche Sängerin Mauri Lynn spielt diese Frau in einem von nur drei Film­auf­tritten ihres Lebens – es sind Augen­blicke für die Ewigkeit, wenn sie singt, und dann, wenn ihr Gesicht erstarrt, als sie die Belei­di­gung hört. Dies ist die groß­ar­tigste Szene von The Big Night (1951) dem zweiten US-Film des Briten Joseph Losey, der nicht in der Retro­spek­tive vorkommt, obwohl er doch einer der seltenen Momente des Hollywood-Main­stream-Kinos, die Rassismus konkret erfahrbar machen. Als fast beiläu­fige, gewöhn­liche Alltags­er­fah­rung wird die Diskri­mi­nie­rung hier fühlbar gemacht, die durch ihre Norma­lität noch mehr verletzt.

Natürlich gibt es solche Momente zuhauf in Filmen schwarzer Regis­seure. Aber die sind nicht »Hollywood«, Hollywood ist weiß. Schwarze sind hier Rand­fi­guren.

Es ist erstaun­lich, wie wenig sich in den letzten 50 Jahren im Kino wie in der Gesell­schaft geändert hat: Frauen haben sich eman­zi­piert, schwul-lesbische Lebens­weisen sind anerkannt. Aber Rassismus, ob offen, oder variiert als Frem­den­feind­lich­keit, oder kaschiert als Beharren auf kultu­rellen »Diffe­renzen« und »Iden­ti­täten«, vor denen auch Multi-Kulti-Anhänger keines­wegs gefeit sind, gibt es noch immer. In Europa, aber auch in den USA, wo 15 Prozent der Bevöl­ke­rung schwarz sind – und seit langem gut genug, um in dessen Kriegen für das Land zu sterben, dass in ihnen oft nur Menschen zweiter Klasse sehen will.

Der erste schwarze US-Präsident blieb für die gesell­schaft­liche Gleich­heit folgenlos. Derzeit sitzt im Weißen Haus ein offener Rassist. Die Selbst­ver­s­tänd­lich­keit – »black lives matter« (Schwarze Leben zählen) – wird infrage gestellt, jede Gegen­be­we­gung bleibt einst­weilen diffus.

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Viel­leicht wäre es ehrlicher vom Festival gewesen, eine Reihe über »Rassismus im Kino« zu machen, nicht von Anfang an auf die vermeint­liche »Stimme des Anderen« auszu­wei­chen, sondern den Komplex im Eigenen, Weißen zu suchen und zu thema­ti­sieren, in Filmen wie The Big Night. Denn in jedem einzelnen Fall der Filme in Locarno geht es offen oder unaus­ge­spro­chen auch um Rassismus.

Die unaus­ge­spro­chenen Demar­ka­ti­ons­li­nien infrage gestellt hat vor allem der 1957 geborene Spike Lee, mit Do the Right Thing oder Summer of Sam, der wich­tigste schwarze Filme­ma­cher der Gegenwart, und einer der wenigen kommer­ziell wie künst­le­risch erfolg­rei­chen Filme­ma­cher. Er formu­liert ein wider­s­tän­diges, dabei univer­sales, also alle Haut­farben einschließendes schwarzes Selbst­ver­s­tändnis. Er spart auch nicht mit Kritik an der »black community«, sondern zeigt sehr direkt ethnische und religiöse Span­nungen.
Immer wieder, noch in seinem letzten Film BlacKkKlansman (2018) geht der Regisseur dabei auf D.W.Griffith' rassis­ti­schen Birth of A Nation zurück.

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Immerhin auch ein paar Beispiele für wider­s­tän­diges, dabei univer­sales, also alle Haut­farben einschließendes schwarzes Unter­hal­tungs­kino fand man in Locarno. Das klare Highlight bildete der ausge­zeich­nete Deep Cover (1992) ein klas­si­scher Neo-Noir-Poli­zei­thriller von Bill Duke, über einen Under­cover-Poli­zisten, der die Drogen­mafia infil­triert – Lawrence Fish­bourne und Jeff Goldblum spielen die Haupt­rollen.

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Die Schau kommt zum richtigen Zeitpunkt – die ameri­ka­ni­schen Debatten bringen ihr zusätz­liche Aktua­lität. Denn der erste schwarze US-Präsident blieb für die gesell­schaft­liche Gleich­heit folgenlos. Nun sitzt im Weißen Haus ein offener Rassist, der ganz in der Tradition der »White Supremacy« operiert. Selbst­ver­s­tänd­lich­keiten werden infrage gestellt, jede Gegen­be­we­gung bleibt einst­weilen diffus. Und auch ein »Post-Black Cinema« erscheint deshalb allen­falls vage am Horizont.