72. Locarno Filmfestival 2019
Die Ästhetik einer schwarzen Diaspora |
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Herzstück in der diesjährigen Retrospektive: Baldwin’s Nigger | ||
(Foto: Infilms) |
»We know, everybody knows ... that we are not bombing people out of existence, in the name of freedom. ... We are concerned with power, nothing more than that...«
James Baldwin
Das Bild zeigt Auszüge aus einer Tagung in London im Jahr 1969. Es spricht der Schriftsteller und Kulturtheoretiker James Baldwin, der wohl wichtigste Denker der Schwarzen Amerikas. 25 Minuten lang redet der charismatische Mann, eingängig und leicht verständlich. Er redet und stellt sein Charisma, seine Worte und sein Lächeln in den Dienst einer unbequemen Wahrheit: Er redet über den Terror der Identität.
Woher er denn komme, habe ihn ein Londoner gefragt. Er komme aus Harlem. Ja, aber eigentlich. Er komme aus New York. Nein, woher er wirklich komme. Er komme aus Amerika. Der Fragesteller wollte die Antwort nicht akzeptieren. Er wollte etwas über »die Wurzeln« wissen, etwas hören über Sklaverei und Afrika, aber Baldwin verweigerte die Antwort und hat über seine Antwortverweigerung dann im Vortrag reflektiert. »Ich bin Amerikaner. Und der Ort woher ich komme, liegt irgendwo zwischen George Washington und John Wayne.« Sein Ursprung sei ein Willensakt, eine freiwillige Wahl, die bewusst eine Distanz setze zur Sklaverei, wie zum Ursprungsterritorium Afrika. Wer einen Menschen auf solche Ursprünge festlege, lege die Freiheit nur in andere Ketten, als der Sklavenhalter.
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Baldwin, der 40 Jahre seines Lebens in Frankreich zubrachte und zum Zirkel des Pariser Rive Gauche um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gehörte, ist ein Existentialist. Man sei, was man wähle, zu sein. Baldwin spricht über Freiheit und Macht, er spricht schön und energetisch, ironisch, seine Reden machen Spaß zuzuhören. Der Film, in dem dieser phänomenale Auftritt im Zentrum steht, heißt Baldwin’s Nigger und stammt vom britischen Filmemacher Horace Ové.
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Dieser Film ist ein Beleg dafür, dass die Form eines Films manchmal auch das Unwichtigste an ihm sein kann.
Denn dieser Film ist vor allem Inhalt. Er ist sein Protagonist, Baldwin. Und er ist seine Worte. Ein Loblied auf die Rhetorik. Hier sitzt nicht nur jeder Satz, sondern auch jede Atempause.
Trotzdem hat diese Freiheit auch eine andere Seite. »Anders als Weiße müssen wir alles hinterfragen und unsere Geschichte neu schreiben«, sagt Baldwin seinen Zuhörern in London.
Dieses »Neuschreiben« ist Fluch und Segen der diesjährigen Retrospektive von Locarno. Es kann nicht gelingen, die Geschichte des Kinos umzuschreiben, oder auch nur um die Perspektive schwarzer Autoren zu erweitern, weil Hautfarbe kein Kriterium sein darf, so wenig wie Geschlecht, Klasse, sexuelle Orientierung. Auch nicht unter dem Banner der »Diversität«, des Wohlmeinens, Unterstützen des Anliegens. Man wäre dann in der alten Falle des Rassismus. Und in der neuen, genau so
schlimmen: Der Political Correctness.
Nein: Man soll schwarze Filme, also Filme von Schwarzen und über Schwarze nicht sehen, weil sie von Schwarzen sind. Sondern weil sie gut sind – und nur dann.
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Baldwin‘s Nigger ist ein Herzstück in der diesjährigen Retrospektive beim Filmfestival von Locarno, die dieser Schau mit zwei, drei anderen Beiträgen ihr theoretisches Fundament gibt. Denn unter dem Titel »Black Light«, »Schwarzes Licht«, zeigt man rund 50, ziemlich eklektisch zusammengestellte Filme, die nur gemeinsam haben, dass sie die Diversität schwarzer Lebenswelten und deren Darstellung zwischen 1918 und 2000 zeigen. Die von Greg de
Cuir Jr. einem in Belgrad lebenden amerikanischen Filmwissenschaftler kuratierte Schau verweigert sich bewusst einfachen Zuordnungen durch Identität und Soziologie. Es gibt keine afrikanischen Filme, außer zweien, die aber genaugenommen nicht von Afrika erzählen.
Gut so. Weg von den Ursprüngen!
Die Filme dieser Passage durch Raritäten und Klassiker entfalten Kultur und Ästhetik einer schwarzen Diaspora. Nicht alle, aber viele stammen von schwarzen Regisseuren, nicht alle,
aber viele kommen aus den USA.
Aber die Willkür der Zusammenstellung, das Flirren der Unklarheit, warum ein bestimmter Film nun hier zu sehen war, öffnet den Horizont zur zentralen, unter allem liegenden Frage: Was eigentlich heißt Black Cinema?
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Fast zur gleichen Zeit wie Baldwins Auftritt, im April 1968 in Altanta, Georgia: Minutenlange dokumentarische Bilder der Beerdigung des ermordeten Martin Luther King, gefolgt von einem langen Ausschnitt aus dessen berühmter »I have a dream«-Rede. Dieser Auftakt formuliert den politischen Rahmen von Uptight, einem Spielfilm des – weißen – Hollywood-Linken Jules Dassin, und einem der wenigen Filme eines großen Studios – Paramount – mit nahezu ausschließlich schwarzen Darstellern. In die seinerzeit überaus aktuelle Geschichte einer schwarzen Untergrundzelle in Cleveland und eines Verräters lässt Dassin eigene Erfahrung aus den McCarthy-Jahren einfließen. Es geht um die Frage der Rechtfertigung von Gewalt, über angemessenes oder illusorisches Vertrauen in den Rechtsstaat. Ein unbekannter Schlüsselfilm, der alle Aufmerksamkeit verdient.
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Kurz nach den spektakulären Morden an King, Malcolm X und Robert Kennedy, drei Symbolfiguren der Bürgerrechtsbewegung, setzte mit dem gleichzeitigen Beginn von New Hollywood eine neue Phase der Darstellung Schwarzer im Kino ein – eine Abwendung von der offen rassistischen Tradition seit D.W.Griffith' Birth of a Nation. Kurzzeitig boomten die
»Blaxploitation«-Filme, die auch in Locarno laufen, und die noch Quentin Tarantino in seinem Jackie Brown (1997) ironisch zitierte.
Doch »Black Cinema« wurde oft zum Label einer Ghettoisierung. Schwarze waren zwar immerhin sichtbarer, doch im Mainstream wurde Rassismus nie wirklich zum Thema.
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Oder? Knapp 20 Jahre früher: Ein Nachtclub in den frühen 1950er Jahren. Ein Jüngling, ein typischer »angry young man« dieser Jahre, Kind des weißen Proletariats, muss sich erst betrinken, bevor er sich traut, die Sängerin, deren Lied ihn berührt hat, schüchtern anzusprechen: Sie sei die wunderbarste Sängerin der Welt. Doch es dauert nur wenige Sekunden, bis er den Moment sofort ein für alle Mal verdirbt: Sie sei ungemein schön, auch wenn sie eine... Der junge Mann bringt den Satz nicht
vollständig über die Lippen, aber alle, auch die Zuschauer im Kino wissen, was gemeint ist.
Die afroamerikanische Sängerin Mauri Lynn spielt diese Frau in einem von nur drei Filmauftritten ihres Lebens – es sind Augenblicke für die Ewigkeit, wenn sie singt, und dann, wenn ihr Gesicht erstarrt, als sie die Beleidigung hört. Dies ist die großartigste Szene von The
Big Night (1951) dem zweiten US-Film des Briten Joseph Losey, der nicht in der Retrospektive vorkommt, obwohl er doch einer der seltenen Momente des Hollywood-Mainstream-Kinos, die Rassismus konkret erfahrbar machen. Als fast beiläufige, gewöhnliche Alltagserfahrung wird die Diskriminierung hier fühlbar gemacht, die durch ihre Normalität noch mehr verletzt.
Natürlich gibt es solche Momente zuhauf in Filmen schwarzer Regisseure. Aber die sind nicht »Hollywood«, Hollywood ist weiß. Schwarze sind hier Randfiguren.
Es ist erstaunlich, wie wenig sich in den letzten 50 Jahren im Kino wie in der Gesellschaft geändert hat: Frauen haben sich emanzipiert, schwul-lesbische Lebensweisen sind anerkannt. Aber Rassismus, ob offen, oder variiert als Fremdenfeindlichkeit, oder kaschiert als Beharren auf kulturellen »Differenzen« und »Identitäten«, vor denen auch Multi-Kulti-Anhänger keineswegs gefeit sind, gibt es noch immer. In Europa, aber auch in den USA, wo 15 Prozent der Bevölkerung schwarz sind – und seit langem gut genug, um in dessen Kriegen für das Land zu sterben, dass in ihnen oft nur Menschen zweiter Klasse sehen will.
Der erste schwarze US-Präsident blieb für die gesellschaftliche Gleichheit folgenlos. Derzeit sitzt im Weißen Haus ein offener Rassist. Die Selbstverständlichkeit – »black lives matter« (Schwarze Leben zählen) – wird infrage gestellt, jede Gegenbewegung bleibt einstweilen diffus.
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Vielleicht wäre es ehrlicher vom Festival gewesen, eine Reihe über »Rassismus im Kino« zu machen, nicht von Anfang an auf die vermeintliche »Stimme des Anderen« auszuweichen, sondern den Komplex im Eigenen, Weißen zu suchen und zu thematisieren, in Filmen wie The Big Night. Denn in jedem einzelnen Fall der Filme in Locarno geht es offen oder unausgesprochen auch um Rassismus.
Die unausgesprochenen Demarkationslinien infrage gestellt hat vor allem der 1957 geborene Spike Lee, mit Do the Right Thing oder Summer of Sam, der wichtigste schwarze Filmemacher der Gegenwart, und einer der wenigen kommerziell wie künstlerisch erfolgreichen Filmemacher. Er formuliert ein
widerständiges, dabei universales, also alle Hautfarben einschließendes schwarzes Selbstverständnis. Er spart auch nicht mit Kritik an der »black community«, sondern zeigt sehr direkt ethnische und religiöse Spannungen.
Immer wieder, noch in seinem letzten Film BlacKkKlansman (2018) geht der Regisseur dabei auf D.W.Griffith' rassistischen Birth of A Nation zurück.
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Immerhin auch ein paar Beispiele für widerständiges, dabei universales, also alle Hautfarben einschließendes schwarzes Unterhaltungskino fand man in Locarno. Das klare Highlight bildete der ausgezeichnete Deep Cover (1992) ein klassischer Neo-Noir-Polizeithriller von Bill Duke, über einen Undercover-Polizisten, der die Drogenmafia infiltriert – Lawrence Fishbourne und Jeff Goldblum spielen die Hauptrollen.
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Die Schau kommt zum richtigen Zeitpunkt – die amerikanischen Debatten bringen ihr zusätzliche Aktualität. Denn der erste schwarze US-Präsident blieb für die gesellschaftliche Gleichheit folgenlos. Nun sitzt im Weißen Haus ein offener Rassist, der ganz in der Tradition der »White Supremacy« operiert. Selbstverständlichkeiten werden infrage gestellt, jede Gegenbewegung bleibt einstweilen diffus. Und auch ein »Post-Black Cinema« erscheint deshalb allenfalls vage am Horizont.