72. Locarno Filmfestival 2019
Haare im Steinpilzrisotto |
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Man muss dazu nicht nach Rumänien fahren, Westfalen genügt: Das freiwillige Jahr | ||
(Foto: Grandfilm) |
»Du musst dir vielleicht mal klar werden, was du willst, auch wenn du damit vielleicht jemand anderen verletzt.«
- Aus: Das freiwillige Jahr
Vier Mal in den letzten fünf Jahren haben asiatische Filme gewonnen in Locarno, sieben Mal in den letzten 12, erzählt ein Schweizer Kollege. Die Statistik lügt nicht. Trotzdem fällt es schwer zu glauben, dass schon wieder ein Asiate gewinnen wird.
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Es wimmelt hier in Locarno nur so von Altersheimen, in einem wohne ich selbst, seit Jahren immer wieder, denn die Hotels sind während des Festivals knapp. In einem der Altersheime wohnt, wie erzählt wird, auch Marco Solari, die graue Eminenz das Festivals. Grau ist hier doppelt wörtlich zu nehmen, die Farbe der Haare und die Farbe der Anzüge. Solaris vornehmes, kluges Habicht-Gesicht strahlt vor allem eines aus: Macht. Man muss ihn nur einmal ansehen um zu erkennen, einfach zu spüren: Das
hier der wahre Chef des Festivals vor einem steht.
Dies ist ein Festival des Mutes, der Freiheit und der Courage. hatte er zu Beginn des Festivals in seiner Eröffnungsrede gesagt. Ein bisschen klingt das auch wie ein Befehl: So habe es zu sein, nicht feige, nicht erwartbar.
Ob sich das die künstlerische Leiterin Lili Hinstin zu Herzen genommen hast, da bin ich mir kurz vor Ende des Festivals etwas weniger sicher als zu Beginn. Wir werden auch sehen, was die Jurys so machen mit dem,
was ihnen hier in den verschiedenen Sektionen so vorgesetzt wird.
Aber zurück zur Frage der Altersheime. Tatsächlich ist Locarno ja vor allem ein Ferienort ein Kurort; die Menschen, die hier wohnen sind die Älteren und die Betuchten. Die Preise in der ganzen Schweiz sind bereits für europäische Verhältnisse obszön, die Preise in Locarno sind aber selbst für schweizerische Verhältnisse mehr als überdurchschnittlich.
Auch das Festival kostet viel Geld, und zu dem Klatsch, der die Gespräche zwischen den Kinobesuchen, auf der Piazza und an den Restauranttischen in diesem Jahr dominiert gehört viel Gerede über Geld: Ein riesiges Defizit hätte Carlo Chatrian 2018 in seinem letzten Jahr als Direktor hinterlassen, so wird kolportiert. Das kann ich mir gut vorstellen, denn ich hatte auch den Eindruck, dass Carlo in seinem letzten Jahr richtig in die Vollen gegangen ist. Aber auch seine Nachfolgerin
Lili Hinstin hätte bereits im Vorfeld das Budget um eine mittlere sechsstellige Summe überschritten, so erzählen mir gut unterrichtete Schweizer, wie wir es mal hier nennen wollen.
Das kann gut sein, denn Hinstin musste ja noch nie mit einem annähernd so hohen Budget umgehen. Es muss aber auch nicht stimmen – ich erwähne solche Kommentare eher, um die Stimmung zu beschreiben. Man sucht hier in Bezug auf die neue Chefin gerade die Haare im Steinpilzrisotto.
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Der Vor-Vorgänger von Lili Hinstin war Olivier Père. Er amtierte von 2010 bis 2012 als künstlerischer Leiter des Locarno Filmfestivals. Dieser Tage konnte man in Locarno einem gut gelaunten Olivier Père begegnen, der dort, begleitet von seiner neunjährigen Tochter Josephine, einige entspannte Tage verbrachte. Am vergangenen Dienstag moderierte Père die gut besuchte öffentliche Masterclass mit dem diesjährigen Cannes-Gewinner Bong Joon-ho und dessen Lieblingsschauspieler Song Kang-ho. Père erzählte auch, er habe Hinstin im Vorjahr auf die Idee gebracht, sich zu bewerben – da war sie gerade mit ihrer Bewerbung für den Leitungsposten bei der »Quinzaine« in Cannes erfolglos geblieben.
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Über 240 Filme werden in diesem Jahr gezeigt. Das sind weniger als im Vorjahr. Es seien aber mehr Schweizer Filme, betont Hinstin im Gespräch. Auf die Frage, warum es überhaupt so viele Filme sein müssten, und den Hinweis, dass man in Cannes ja nur um die hundert zeigen würde, rechnet sie ihr Programm klein: Da sei ja die Retrospektive dabei. Und die Kurzfilme. »Außerdem programmieren wir bestimmte Sektionen nicht selbst.« Nämlich nicht die Settemana, die Open Doors und den Showcase des
Schweizer Kinos. Hinstin kommt so auf »etwa 80« Filme. Ich rechne das nicht nach, genauso wenig, wie ich sie darauf hinweise, dass die gut 100 Filme in Cannes ja inklusive der beiden unabhängigen Sektionen gerechnet sind.
Es sind so oder so einfach zu viele Filme hier, und die Wege zwischen den Kinos sind noch länger als die Schlangen vor ihnen.
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Wie man sich da überhaupt zurechtfindet, werde ich gefragt. Meine spontane Antwort, wohl inspiriert vom fabelhaften Space Dogs: Streunend, driftend, wie die Straßenhunde in Moskau. Klar bin ich auch ein bisschen süchtig nach alldem, ich mag Filme, ich nehme Filme auch als ein Medium der Welterfahrung. Und ich sehe darin tolle Dinge, ich erfahre etwas. Festivals sind zudem ein sehr
bestimmter, zusätzlich rauschhafter Zustand.
Hinzu kommt, dass man auf Filmfestivals andere Filme sieht, oft bessere. Denn neunzig Prozent von dem, was in unsere Kinos kommt, ist ja relativ deprimierend.
Ich gehe nicht zuletzt deshalb auf Filmfestivals, weil ich hier viel viel viel bessere Filme sehe. Die meisten von denen kommen nie ins deutsche Kino, laufen allenfalls mal bei einem Filmfestival in Deutschland oder in einem Programmkino, vorzugsweise in ganz großen
Städten wie Berlin, München, Köln danach wird es schon düster; die wenigsten Filme die hier laufen werden von deutschen Verleihern gekauft, weil diese Verleiher oft relativ feige sind.
Auch deshalb boomen die Festivals umgekehrt – sie übernehmen diese mutige Arbeit. Der Mut wird allerdings auch mit Steuergeldern vergleichsweise – zur Kinoförderung – üppig finanziert.
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Ein bemerkenswerter Schweizer Film, eine internationale Koproduktion zwischen der Schweiz, Deutschland und England, die auch ins deutsche Kino kommen wird, ist Baghdad in my Shadow vom Schweizer Samir, der zuletzt mit »Iraqi Odessey« auf der Berlinale lief. Der Regisseur, selbst Schweizer mit irakischen Wurzeln, erzählt die Geschichte einer Handvoll Exil-Iraker in London.
Dabei berührt Samir auch mehrere Tabus der arabisch-moslemischen Welt:
Atheismus, die Überbrückung der Frau und Homosexualität.
Baghdad in my Shadow ist ein stimmungsvoller, atmosphärischer Film mit viel Musik. Mal melancholische Jazzklänge mal Punkrock (mit einem Auftritt von Hazel O’Connor), mal arabische Schnulzen aus früheren Jahrzehnten. Das meiste spielt kurz vor Weihnachten. Den Rahmen bildet das Verhör von Taufiq, eines älteren Dichters, der als Nachtwächter arbeitet. Einst wurde er von Saddams Schergen gefoltert. Damals hatte er seinen eigenen Bruder verraten.
Nun kämpft er mit Schuldgefühlen gegenüber dessen Sohn Naseer. Naseer radikalisiert sich zunehmend bei einem salafistischen Prediger. Im Rückblick entfaltet sich die ganze Geschichte. Man begegnet diversen Figuren, einem Dichter, Kommunisten, Agenten des alten Regimes, Religiösen Hetzern. Samir hat die dramatischen Geschichten seiner Figuren in eine poetische Form gegossen.
Der Regisseur zielt auf die Schnittstelle zwischen Westen und Osten, sein Film will vermitteln. Das
gelingt dem Film gut. Eine Stärke sind die hierzulande oft völlig unbekannten Darsteller Haytham Abdulrazaq, Zahraa Ghandour, und Waseem Abbas. Um so bekannter ist dafür Kerry Fox in einer prägnanten Nebenrolle.
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Einen Esel gibt es auch hier. Aber so ganz anders als in Angela Schanelecs Berlinale-Kritikererfolg Ich war zuhause, aber.... Nicht als Faust-aufs-Auge-Bresson-Verweis, sondern als lebendiges Tier. Das die Verbundenheit der jungen Frau mit diesem Ort gleich im ersten Bild vor Augen führt. Sie soll gehen. Will aber nicht. Sie fährt zum Flughafen, aber...
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Vater spricht, Tochter schweigt. Man spürt eine bestimmte unausgesprochene Spannung zwischen den beiden, sie ist am Handy, er sagt »Pack' das doch mal weg, das nervt dich doch selber.« Er weiß, was gut für sie ist, sie sieht das anders. Sie hat Probleme mit ihrem Freund, sie heult. Er holt die Kamera, er macht alle möglichen Dinge »für die Tochter«, die sie gar nicht gemacht haben will, und es ist deutlich, dass er sie eigentlich für sich macht. Wir lernen den Vater sogleich als übergriffigen Menschen kennen, als jemanden der in die Wohnung seines Bruders einbricht, weil der scheinbar nicht aufmacht – tatsächlich ist er nicht da – und erkennen, dass die Tochter mit irgendetwas hadert. Menschen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Eine gewisse Hektik, ja latente Hysterie durchzieht diesen Anfang. Sie ist einerseits der Situation geschuldet, denn Jette, die gerade ihr Abitur gemacht hat, muss zum Flughafen, um nach Costa Rica zu fliegen, wo sie in einem Krankenhaus arbeiten wird. Das ist das »freiwillige Jahr« des Titels von Ulrich Köhlers und Henner Wincklers neuem Film.
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Andererseits hat die Anspannung einen tieferen Grund. Er liegt in der Dynamik der Situation dieser Menschen und ihres Umfelds, die der Film über die folgenden drei Tage entfalten wird. Denn Jette nimmt den Flug nicht, »verpasst« ihn – nicht ganz unfreiwillig. Vorwand ist ein kleiner Blechschaden am Auto, als ihr Freund sie zum Flughafen bringt. »Bleib doch hier«, sagt er, und dann bleibt sie tatsächlich im Auto. Die beiden verbringen dort auch die folgende Nacht, nehmen Anrufe der Angehörigen nicht an. Man lernt mit Vater und Tochter somit zwei Menschen kennen, die ihr Leben in irgendeiner Weise nicht ganz unter Kontrolle haben. Tochter Jette hat Schwierigkeiten, sich zu entscheiden. Sie weiß nur, was sie nicht will. Etwa als der Freund am Morgen doch seine Mutter anruft, geht sie kurzerhand einfach weg, geradeaus in den Wald, um erst am Abend wieder aufzutauchen. Eine Verweigerungshaltung.
Vater Urs entscheidet viel, vor allem für Andere. Für den praktischen Arzt, der er ist, ist sein Benehmen und die Art, wie er mit seinem Mitmenschen (nicht) kommuniziert, allerdings erstaunlich unsensibel. Urs ist auf gewisse Weise ein Chaot, und oft unwirsch. Er hört nicht auf andere, ist sehr auf sich fixiert und auf seine Tochter. Die erzieht Urs offenbar allein – von der Mutter ist nicht die Rede, bis zum Ende des Films erfährt man nicht, ob die Eltern getrennt sind, oder die Mutter gestorben. Urs' Verhältnis zu den anderen Mitmenschen ist oft unfreundlich. Er will es zwar allen recht machen, macht es dadurch aber niemanden recht, zumal klar ist, dass er auch will, dass alle seinen Erwartungen entsprechen.
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Die beiden Berliner Regisseure Ulrich Köhler und Henner Winckler – beide Jahrgang 1969 – entwickelten und inszenierten diesen Film gemeinsam – ursprünglich als reine Fernseharbeit für den WDR. Das merkt man dem Film kaum an. Im Gegenteil findet auch Kameramann Patrick Orth immer wieder ungewöhnliche Bilder und überraschende, schiefe, auch poetische Perspektiven auf die Figuren und den Ort.
Die Regisseure erzählen von dieser schwierigen
Vater-Tochter-Beziehung und entfaltet die Dynamik der Situation dieser Menschen und ihres Umfelds. So geht es in diesem Generationenstück auch um ein etwas anderes, schräges Portrait des Dorflebens, der Provinz und eines »ganz normalen« bundesrepublikanischen Mittelstands. Die Alten können nicht loslassen, die Jungen kopieren entweder schon alternativlos das Lebensmodell ihrer Eltern, oder sie müssen noch lernen, die Bevormundungen durch deren Erwartungen abzuwerfen.
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Dies ist ein in leichter Weise erzählter Film, einer der leider viel zu seltenen Fälle, wo es überhaupt versucht wird, dass ein Film die Balance zwischen Ernst und Witz hält, ohne nach einer der beiden Seiten abzustürzen. Über allem schwebt in diesem Fall auch der Schatten von Toni Erdmann, jener anderen deutschen Geschichte über eine untrennbare, kaputte Vater-Tochter-Beziehung, zu der sich Das freiwillige Jahr manchmal wie eine bewusste, durchaus liebevolle Karikatur und Farce, jedenfalls als Kommentar verhält. Man muss dazu nicht nach Rumänien fahren, Westfalen genügt.