72. Locarno Filmfestival 2019
Die Mandarins von Locarno |
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Was ist los? Mit Locarno, mit dem Kino? Pedro Costas Siegerfilm Vitalina Varela | ||
(Foto: Grandfilm) |
Das Filmfestival von Locarno ist schon lange kein Trendsetter mehr. Einer der Preisträger der letzten zehn Jahre ist schon tot: 2012 bekam Jean-Claude Brisseau (1944-2019) den Goldenen Leoparden. Er war mit 68 Jahren der älteste in einer Herrenrunde, von der nur ein einziger, der Spanier Albert Serra, zum Zeitpunkt der Preisverleihung noch unter 40 Jahre alt war. Lav Diaz war 54, Hong Sang-soo 55, Wang Bing 50, und der diesjährige Preisträger, Pedro Costa ist über 60. Einzige
Ausnahme: Die Bulgarin Ralitza Petrova. Sie war 43.
Die Zukunft des Kinos? Wohl kaum.
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Einst war das anders: John Frankenheimer bekam den Goldenen Leopard mit 27, Stanley Kubrick mit 31, Glauber Rocha mit 29, Milos Forman mit 32, Alain Tanner mit 39, Mike Leigh war 29, Krystof Zanussi 34, Bela Tarr 27, Wolfgang Becker 34, Jim Jamusch 31, um jetzt nur mal die bekanntesten Namen zu nennen. Aber die Liste könnte man verlängern.
Jugend war die Regel für einen Locarno-Sieger wie überhaupt für die Wettbewerbsteilnahme. Das ging so weiter, bis einschließlich Guo Xiaolu
und MIlagros Mumenthaler, die 2010 mit 36, bzw. 2011 mit 34 gewannen.
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Dann ein Bruch, und plötzlich kamen die Alten. Und mit ihnen setzte sich auch ein sehr einseitiger Stil am Lago Maggiore durch: Eine akademische Kunstattitüde, nach der Filme sehr langsam erzählt sein müssen, mit möglichst wenigen Schnitten und noch weniger Dialogen. Nach der alles sehr stilisiert und gleichzeitig sehr einfach zu sein hat, »natürlich«. Nach der Wesentliches gern unausgesprochen bleibt.
Gewiss: Es gibt keine Verschwörung des Kunst-Fundamentalismus und der
Antinarrativen gegen den Rest der Welt. Gewiss gibt es Unterschiede: Bei Hong Sang-soo wird zum Beispiel oft viel geredet. Aber die generelle Richtung ist dieselbe. Warum auch immer.
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Jetzt hat der portugiesische Film Vitalina Varela von Pedro Costa den Goldenen Leoparden gewonnen, und außerdem die Hauptdarstellerin Vitalina Varela, nach der der Film benannt ist, den Preis für die beste Darstellerin.
Auch Costas Film ist sehr langsam und fast ohne Worte oder Emotionen erzählt und fast ausschließlich in der Dunkelheit gedreht. Der Film ist eine trotz kunstvoll
komponierter, hochstilisierter Bilder, naturalistische und in Teilen dokumentarische Studie über das Leben in einem von kapverdischen Emigranten bewohnten Ghetto in Lissabon.
Dieser Preis war alles andere als eine große Überraschung, jedenfalls nicht für die, die mit internationalen Filmfestivals und den dort zur Zeit wirkenden inneren Dynamiken vertraut sind – eher eine allzu vorhersehbare Entscheidung, erst recht, wenn man wusste, wer in der Jury saß. Denn Regisseur Pedro Costa ist zum einen der mit Abstand bekannteste Name im Wettbewerb, zudem ein »üblicher Verdächtiger« des Hardcore-Kunstkinos, und seit Jahrzehnten Gast im internationalen Festivalzirkus.
Auch die übrigen diesjährigen Preise entsprechen im großen Ganzen der Richtung, die die Jury mit dem Hauptpreis einschlug: Anspruchsvolle Kunstfilme ohne viel Handlung, dabei sogenannte »relevante« Themen. In diesem Fall Armut und Flucht. Wenig Dialog, kein schnelles Erzählen, sondern viel Meditation und Minimalismus.
Tatsächlich gab es auch keinen anderen Film, der sich nach zehn Tagen aufgedrängt hätte – eher bot der diesjährige Wettbewerb zwar ein paar
interessante Filme, aber wenige echte Highlights. Zudem relativ viel Tristesse – und kaum einen Film, der verschiedene gegensätzliche Stimmungen miteinander zu verbinden vermochte.
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Einst waren in Locarno nicht nur die Filmemacher jünger, sondern – ich wage das zu behaupten – ihre Filme waren besser.
Nun wird Locarno von einem Festival für Entdeckungen und Newcomer zu einem für die Insider der Art-Szene, für die Freunde der Freunde.
Was ist los? Mit Locarno, mit dem Kino?
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Welchen Sinn macht es, in einem Festival, das immer eines des Nachwuchses, der Jugend und der Entdeckungen gewesen ist, einen Regisseur auszuzeichnen, der über 60 Jahre alt ist, der eher am Ende seiner Karriere steht? Und einen Film, der allenfalls für ein Nischenpublikum und das Festival-Stammpublikum der immer gleichen hundert Kuratoren, Einkäufer, TV-Redakteure und Filmkritiker attraktiv ist, das breite Publikum aber sehr bewusst ausschließt?
Denn das tut Costa. Gerade wer
ihn mag, wird ihm nicht nachsagen, er wisse nicht, was er tue. Sein Film ist unglaublich langsam und antinarrativ, eine Zumutung auch für viele professionelle Zuschauer – oder eine erzieherische Maßnahme.
Das ab und an so ein Film den Leoparden gewinnt, ist ok. Aber muss es fast jedes Jahr sein?
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Dies ist also eine überaus durchwachsene Bilanz im ersten Jahr der neuen Direktorin Lili Hinstin – und angesichts der Geschichte des Festivals von Locarno und dem scharfen Wettbewerb mit anderen Festivals, gerade auch dem neureichen Newcomer von Zürich im eigenen Land, muss einem um die mittelfristige Zukunft von Locarno sogar angst und bange werden.
Das liegt auch daran, dass die neue künstlerische Leiterin, die in Paris prächtig vernetzt ist, und – offenes Geheimnis – lieber als in der Tessiner Provinz in der Quinzaine von Cannes den Direktorenposten bekommen hätte, ein bisschen sehr viel der üblichen Verdächtigen und des elitären Festival-Jet-Sets an den Lago Maggiore gebracht hat: Albert Serra moderiert John Waters, Olivier Père moderiert Bong Joon-ho, es gibt einen Festivalpreis für Komplizenfilm, Valeska Griesebach sitzt in der Jury, Ulrich Köhler im Wettbewerb – gegen jede einzelne dieser Entscheidungen ist nichts zu sagen, aber im Gesamtbild wirkt das alles schon sehr einseitig. Es fehlt die Diversität, die doch gerade von Hinstin in anderem Zusammenhang so betont wird.
Unübersehbar ist, das Locarno sein Programm in den letzten zehn Jahren gewandelt hat. Seine Rolle als Ort für die Entdeckung neuer Trends, gar der Zukunft des Kinos, die Locarno mal hatte, hat das Festival eingebüßt. Was einst ein Filmfestival für Newcomer gewesen ist, wo das Kino der Zukunft entdeckt wurde, und später berühmte Filmemacher ihre ersten Preise bekamen, als sie Anfang oder Mitte 30 waren, da liegt der Altersschnitt der Preisträger plötzlich über 50.
Und stilistisch
ist es die Norm des Anti-Normalen, der Affekt gegen die Konventionen, die sich hier durchsetzen obwohl sie längst keinen mehr überraschen.
Fast muss man also allen »normalen« Filmemachern raten, ihre Filme vorerst ja nicht mehr nach Locarno zu geben. Sie werden hier jedenfalls keinen Preis gewinnen.
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Die beschriebene Entwicklung spiegelt im Übrigen die auch ansonsten spürbare Überalterung des Autorenkinos wie auch dessen zunehmendes stilistisches Auf-der-Stelle-treten. Seit 15 Jahren gibt es kaum noch wirkliche ästhetische Innovationen im Kino. Nichts, was man nicht schon gesehen hätte. Stattdessen einen Akademismus, der zunehmend verknöchert und dogmatisch wird, das Bestehende verwaltet, aber keine neuen Ideen hat.
Sie spiegelt auch die zunehmende Formatierung des
Autorenkinos. Denn auch die Filmsprache und Ästhetik, die hier wieder ausgezeichnet wurde, ist zuletzt immer uniformer und einseitiger geworden: Ein überwiegend anti-narratives, meditatives, lakonisches, mit sehr langen Einstellungen arbeitendes Kino. Das ist nicht weniger konventionell, als das Blockbuster- und Mainstream-Kino, nur anders. Es gibt nämlich auch einen »Kunst-Mainstream«, der einen Teil der aktuellen Kinolandschaft insgesamt prägt.
Wenn man in anderen Fällen sehr zu Recht den Hang zum Inhaltismus kritisiert, zu Filmen, die nur gefeiert werden, weil sie ohne Rücksicht auf Ästhetik irgendwelchen Inhalte oder Themen auf die Leinwand bringen, die man für wertvoll hält, dann muss man hinzufügen: Die andere Seite dieses Inhaltismus, die diesem komplett entspricht, ist der Formalismus, die Verabsolutierung der Form.
Die Eindimensionalität des Mainstream-Kinos wird nur gespiegelt durch die
Eindimensionalität des Kunstsektors.
Wenn das »Dazwischen« fehlt, schadet das dem Kino.
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»Dies ist ein Festival des Mutes, der Freiheit und der Courage« hatte Festivaldirektor Marco Solari bei der Eröffnung der Filmfestspiele betont. Doch das Programm war in diesem Jahr wenig mutig.
Klar: Wer im Wettbewerb ist, kann und darf gewinnen. Aber soll er? Man muss vielleicht einfach ganz andere Filme in den Wettbewerb nehmen. Riskantere, überraschendere, auch auf hohem Niveau gewöhnlichere. Denn wenn alles sich betont unkonventionell gibt, ist die Konvention
plötzlich überraschend interessant.
Auch klar: Die Verteidiger von Pedro Costa sagen jetzt: Dieser Alte ist im Herzen jünger, als wir alle zusammen.
Das Kino der Zukunft liegt in solchen Preisen aber jedenfalls nicht. Das Kino der Zukunft muss beides verbinden, überraschend sein, irritierend – auch für den Festival-Jet-Set.
Einstweilen findet die Zukunft des Kinos woanders statt: Zum Beispiel in zehn Tagen in Venedig.