Noch einmal Sommer |
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Grund genug, nach San Sebastián zu fahren: die Roberto Gavaldón-Retrospektive |
»Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß./ Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,/und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;/ gib ihnen noch zwei südlichere Tage,/ dränge sie zur Vollendung hin, und jage/ die letzte Süße in den schweren Wein.«
Rainer Maria Rilke, 21.9.1902, Paris
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Zehn Tage lang noch einmal Sommer, südliche Tage, tolles Essen und gute Filme. Das sind die Aussichten. Das Internationale Filmfestival San Sebastián ist unter den großen europäischen »A-Festivals« das viertwichtigste der Welt, unbedingt wichtiger, als das vor allem von den Deutschen immer stark überschätzte Festival von Locarno, das nicht nur durch seine Nachwuchslastigkeit sehr einseitig wirkt.
Dies ist in allen Reihen eine prachtvolle Bühne des Autorenkinos und seiner
neuesten Tendenzen. Insgesamt ist alles hier allerdings auch etwas weniger experimentell – insofern für den Arty-Farty-Teil der Cinephilen und Film-Buffs weniger interessant, fürs etwas breitere Publikum aber interessanter, weil alles weniger elitär wirkt.
Es gibt zwei Wettbewerbe, den großen um die »Goldene Muschel«, der anständig ist und qualitativ viel besser als der von Locarno, und den kleineren »Nuevos Directores« mit ersten und zweiten Filmen. Da findet man –
das verbindet San Sebastián mit Locarno – oft die interessanteren Filme, Entdeckungen, und man lernt ein paar Filmemacher kennen, die man später in den Wettbewerben von Cannes und Venedig wieder trifft. In Berlin weniger; bisher jedenfalls.
Und dann eine Art Schaufenster zu den neuen Filmen aus Spanien und aus Lateinamerika. Es lohnt sich. San Sebastián ist also ein schönes und gutes, oft großartiges Festival. Mehr noch aber: Es ist eine sehr schöne und großartige
Stadt. Vor allem darum, reden wir mal nicht drum herum, fahre ich seit vielen Jahren gern hierher.
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In San Sebastián schaut man immer auch Retrospektive – nicht nur als Cinephiler. Wo gibt es das sonst, eine einer Person gewidmete Retrospektive? Allein Grund genug, hierher zu fahren. Früher waren es drei Retrospektiven, dann noch zwei, neuerdings ist es nur noch eine. Stattdessen viel Quatsch: Kulinarisches Kino. Nächstes Jahr, wenn diese Kosslick-Idee bei der Berlinale glücklicherweise wieder abgeschafft wird, ist San Sebastián das einzige Festival mit so einer
Sektion.
Diesmal geht es in der vollständigen Autorenretro um den Mexikaner Roberto Gavaldón. Der Filmemacher war der erste mexikanische Regisseur, der für einen Oscar nominiert war. Über 50 Filme hat er als Regisseur gemacht, leider ist die Retro alles andere als komplett: Nur 25 Filme werden hier gezeigt.
Das mexikanische Kino kennen wir, heute, wo Alfonso Cuarón, Alejandro González Iñárritu, Guillermo del Toro und Carlos Reygadas fortwährend in den Wettbewerben von
Cannes und Venedig laufen, wenn sich mit Michel Franco und Amat Escalante bereits die nächste Generation etabliert hat.
Das mexikanische Kino kennen wir also. Aber kennen wir auch seine Geschichte? Und was kennen wir von ihr? Die mexikanische Filmgeschichte ist extrem reichhaltig, aber man muss sie eben auch erzählen. Dies ist dafür ein Anfang.
Interessant wird es sein, diese Filme mit den Sachen zu vergleichen, die zur selben Zeit bei den Amerikanern gemacht wurden. Denn
klarerweise haben sich die Mexikaner stark an Hollywood ausgerichtet. Aber auch mit den Europäern wird man Vergleiche anstellen. Buñuel und Eisenstein haben in Mexiko gearbeitet. Hat das Spuren hinterlassen?
Gavaldóns Filme sind auch Genrefilme in einer Zeit, in der das Genre noch mehr als heute oft das wahre Autorenkino in sich barg. Es war dann ein Mittel, um klandestine Inhalte wie Contrabande, wie Schmuggelware direkt ins Bewusstsein der Zuschauer und vor allem in ihr
Unterbewusstsein zu schmuggeln.
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Ich freue mich auf diese Retro, aber schon auch auf einiges im normalen Programm. Die neuen Filme von Alejandro Amenábar und Malgorzata Szumowska. Der zweite Wettbewerb der »Nuevos Directores« ist oft gut. In den »Horizontes Latinos« und in der »Best of Festivals«-Reihe, den Perlas, kann ich einiges nachholen. Ein Stammgast ist der argentinische Schauspieler Ricardo Darín, der angeblich alle jungen Mädchen seines Landes und ihre Mütter und Großmütter in Leidenschaft versetzt, egal
was für Filme er macht.
Und dann ist da natürlich die Serie »Nisman«, die von den Berliner Gebrüdern Beetz produziert wurde. Eine Doku-Serie, die wie ein Polit-Thriller funktioniert, und die nach ihrer Premiere vor allem in Argentinien im Vorfeld der Wahlen für politischen Wirbel sorgen dürfte.
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Die Anreise nach San Sebastián ist immer ein Abenteuer. Man fliegt mit Zwischenstopps, ich diesmal mit Iberia über Madrid. Und dann nach Bilbao, weil der direkte Flug nach San Sebastián zu teuer ist. Von Bilbao geht es dann mit dem Bus, eine gute Stunde an der Küste entlang.
Ich beschreibe immer wieder gern diese Busfahrt. Die Landschaft ist so anders, als sie sich alle vorstellen, die noch nicht hier waren; so anders als man denkt, dass Spanien aussieht. Bergiges waldiges Gelände,
manchmal richtig steile Kurven, manchmal richtig tiefe Täler, grobe Felsen. Es sieht alles eher wie Bayern aus oder ein anderes Voralpengebiet, und man kann sich gut vorstellen, wie sich im frühen Mittelalter die christlichen Ritter hierhin zurückgezogen haben und dann ein paar Jahrhunderte in den Bergen warteten, bis sie zur Reconquista ins Tal zogen, um die Araber zu vertreiben.
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Das Rechtschreibprogramm im Smartphone macht aus Basken Spasten. Aber nur heute, nur am ersten Tag. Schon morgen wird es das neue Wort gelernt haben.
Die baskische Küste schön rau und wild. Das Meer ist immer bewegt. Gleichzeitig gibt es hier auch abends noch 24 Grad, hohe Luftfeuchtigkeit und trotzdem Wind. Dass die baskische Sprache schön ist, behaupten nur Basken.
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Vorher war ich in Osnabrück. Ein Kontrast, ohne Frage, und dann wieder auch nicht. Dort lief mein Film Hitlers Hollywood, und es gab am Theater eine Diskussions-Veranstaltung zum Thema »Nazi-Parodien in Film und Theater«. Und am Schluss eine Lokal-Oase namens »Tiefenrausch«, mit Augustiner-Bier im Norden.
Die Anfahrt von dort war ganz schön nervig, weil sich alles in die Länge gezogen hat, und ich saumüde war: Aufgestanden um 6:30 Uhr und dann um 7:23 Uhr mit dem Zug zum Hamburger Flughafen; ich wollte auf Nummer sicher gehen. Am Flughafen Hamburg ein Interview für 3sat-»Kulturzeit« zur Erklärung zum Fall Mendig und dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechts.
Vorher noch Zigaretten und Halstabletten gegen Husten, trotz Vorahnung keine Klamotten im Handgepäck, dann ist es passiert: Der Koffer ist zwischen Madrid und Bilbao hängengeblieben und kommt erst am nächsten Tag im Hotel an.
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Am ersten Abend, bevor das Festival losgeht, gehe ich einmal am Hafen essen, auch wenn die Restaurants hier Touristenfallen sind. Man kann nicht viel falsch machen, wenn man »Tomate y Atún« und dann noch gegrillten Thunfisch bestellt; nur zu viel bezahlen. So war es dann auch.
In diesem Restaurant habe ich vor acht Jahren einen Abend verbracht, an den ich seitdem immer wieder denken muss, wenn ich hierher komme: Sara Brito, Freundin und Journalistin, und seinerzeit bei »El Público«
eine der 20 führenden, vor allem eine der jüngsten Filmkritikerinnen Spaniens, hatte mir da erzählt, dass sie aufhören würde. Einfach so. Es war auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, die Spanien oberflächlich tiefer erschüttert hatte als die Bundesrepublik. Vor allem auch die spanischen Medien. Was Sara wohl macht? Ich hatte sie ein Jahr später noch mal in Madrid getroffen, da war sie schon aufs Land gezogen und auf der Suche nach etwas Neuem.
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Zur leichten Enttäuschung wurde dann noch der Besuch im Café Artess. Diejenigen Leser, die mich und diese San Sebastián-Notizen seit Jahren kennen, wissen, dass dies mein Lieblingsort ist. Direkt neben dem Cine Príncipe gelegen, kann man hier wunderbar zwischen den Filmen einen kurzen Kaffee trinken, Leute treffen, ein paar Notizen machen, oder auch mal drei Stunden lang eine neue artechock-Notiz schreiben. Dies ist auch ein guter Treffpunkt für den Abend. Lange Jahre hatte das Café
Artess, das wohl auf eine Art früher ein Gewerkschafts- oder Genossenschafts-Café für Arbeiter gewesen war, einen leicht zurückgebliebenen, antiquierten Eindruck gemacht. Es war, wie man das heute nennt, »niedrigschwellig« und integrativ. Lange Jahre hatte es den Charme der 50er Jahre bewahrt, eine Art des Widerstands auch gegen die allgegenwärtige Konsumkultur. Vor ein paar Jahren bereits hatte man es dann mal renoviert. Schon da wurde es nicht unbedingt schöner. Plötzlich war
alles, was vorher hellbraun gewesen war und gekachelt, Weiß, Ikea-Weiß, also ein Weiß, das sehr schnell schmutzig wird.
Jetzt hat man es endgültig herausgeputzt. Im Inneren stehen nun massive braune Ledersofas mit irgendwie neo-kolonialer Anmutung. Die Fläche zum Rumstehen – was der Spanier manchmal gern tut, der Tourist aber nicht – ist reduziert.
Draußen sind die puren runden Metalltische durch rötliche quadratische Holztische ersetzt, die auch qualitativ einfach
viel schlechter sind, und schon jetzt, nach einem Dreivierteljahr an vielen Stellen kaputt.
Nichts passt mehr zusammen. Es ist ein Jammer.
Trotzdem werde ich natürlich auch diesmal um das Artess nicht herumkommen, zumal die Bedienungen wieder gleich sehr angenehm sind, und ich Lust habe, ihnen zuzugucken.
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Danach zappe ich im Hotel durch den Fernseher. Ich bleibe hängen bei der tollen Szene in der Bibliothek aus Interstellar, wenn Matthew McConaughey in einem Zeittunnel ist und von hinten die Bücher bewegt, und seiner Tochter zuschaut, die mal 10 ist und mal so alt wie Jessica Chastain, wenn er sich selber zuschaut in jüngeren Zeiten, dazu die sehr sehr gute Musik von Hans Zimmer – ausgerechnet jetzt, heute Interstellar im spanischen Fernsehen. Das könnte nicht besser anfangen. »Do not go gentle into that good night/ Rage rage against the dying of the light.«
(to be continued)