Vielleicht eine Schnapsidee, sogar im Wortsinn. Irgendwann eines Abends im November fiel mir auf, dass nun ja bald das Jahrzehnt zu Ende geht. Auch das des Kinos. Man denkt dann so vor sich hin – ich neige sowieso zum Bilanzieren, Strukturieren, versuche, Dinge auf ihren Begriff zu bringen –, trinkt noch ein Bier und überlegt, was es gebracht hat, und was man darüber schreiben möchte. Klare Frage ist dann auch schnell: Welche Filme bleiben? Auf den ersten Blick ist mir nicht so viel eingefallen. Und auch jetzt glaube ich, und dazu bald mehr, dass die Zehnerjahre eher (und manchem Offensichtlichen zum Trotz) ein Jahrzehnt des Kinostillstands waren. Aber, aber… Und dann entstand die Idee mit den Listen.
Ich liebe Listen. Ich lese sie gern, nicht nur an Jahresenden, schreibe sie gern, manchmal nur für mich, manchmal stelle ich auf Bitten für andere irgendwelche Listen nach irgendwelchen Wünschen und absurden Kriterien auf. Sie bringen Ordnung, wenn auch nur willkürliche, ins Chaos. An den Listen der anderen kann man sich reiben, selbst da, wo man enthusiastisch zustimmt, kann es die perfekte Liste nicht geben. Schon die eigene ist ja nicht perfekt. Listen in ihrer Ordnungssuggestion stoßen uns auf die Unordnung, auf den Rest, der aus irgendwelchen Gründen nicht reinkommt, auf das Leben, könnte man sagen.
Und weil die eigene Liste aufzustellen schon schwer genug ist, dachte ich bald: Ich möchte damit nicht allein sein. Andere sollen sich auch mal den Kopf zerbrechen. Und meine eigene Liste kenne ich schon, darum möchte ich mal die anderer lesen. Anderer, die ich mag, deren Meinung und Blick ich schätze.
Also habe ich Freunde und gute Bekannte gefragt, nur welche, die irgendwas mit Film zu tun haben, und ohne Anspruch auf Vollzähligkeit. Nicht sehr bewusst, aber dann doch ziemlich gut gegendert, mit leichtem Frauenüberschuss. Wer nicht gefragt wurde, sich aber angesprochen fühlt, und das hier liest, bitte ich um Entschuldigung.
Erbeten wurde eine beliebig geordnete Liste mit »21 Lieblings-Filmen aus den Jahren 2010-2019«. Weiter hieß es: »Alles ist erlaubt: Müssen keine Langspielfilme sein, dürfen reine Festivalpremieren sein, auch reine Streamingfilme, aber bitte keine Serien. ... Und falls Du Lust hast, auch gern stichwortartig, kannst Du alles dazu schreiben, was Dir noch einfällt: Ein paar Ideen zum Kino der Zehnerjahre, Tendenzen, Veränderungen, Hoffnungen, Ängste oder ein Ausblick auf die Zwanziger Jahre, oder einfach noch die nächsten 25 Lieblingsfilme, oder 111 oder…«
Auf dieses Anschreiben haben die allermeisten positiv bis enthusiastisch geantwortet, es gab wenig Absagen, über 40 Zusagen.
Diese werden wir hier in den nächsten Wochen in Form einer losen Serie aus Blöcken unter dem Titel »21 films« veröffentlichen. Es gibt alles: Zum Teil längere Kommentare, zum Teil nackte Listen.
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Und nun noch zu ein paar FAQ: Warum 21? Warum nicht? Irgendeine Zahl sollte es sein, 10 wären zu wenig, 50 viel zu viel, runde Nummern fand ich doof. Mit dem Film 21 Grams hatte das erstmal nichts zu tun, aber dann hat der Zusammenhang von Kino und Herzschlag, Kino und Leben zusätzlich verführt. Und die Zahl 21 bedeutete nüchtern betrachtet 2 Filme pro Jahr plus ein Joker. Das muss reichen für die Ewigkeit – der Rest oder zumindest eine Handvoll mehr kann ja auch genannt werden, wenn’s sein muss, und bei mir zum Beispiel muss es das definitiv.
Naja, und »Lieblingsfilme«, oh je... »Beste Filme« und den quasi-objektiven, päpstlichen Absolutheitsanspruch dieses Begriffs hätte ich halt auch wieder doof gefunden.
Jeder hat einen anderen Begriff von Lieblingsfilmen. Für mich sind Lieblingsfilme Filme, die ich (immer) wieder sehen möchte.
Ein Freund, der mitgemacht hat, hat mir geschrieben: »Bei Lieblingsfilmen, denen man zu einem bestimmten Zeitpunkt begegnet ist, ist ja nicht unbedingt notwendig, dass sie zeitgleich entstanden sind. Wenn ich heute über Lieblingsfilme aus dem gewünschten Zeitraum nachdenke, müsste ich eigentlich viele nochmals sichten, denn nun haben auch Filme Eingang
in die Liste gefunden, die ich halt damals als Lieblingsfilme empfunden habe, und dieses Empfinden habe ich gewissermaßen eingefroren, sodass ich sie, angesprochen auf diese zeitliche Phase, (teilweise) nach wie vor nenne. Das meint möglicherweise letztlich subjektiv … Wie auch immer. Eigentlich eine komplexe Angelegenheit, das Erstellen von Lieblingsfilmlisten …«
Wie recht er hat. Denn genau darum geht’s ja: Um das eingefrorene Damals; das ist viel wichtiger, als das objektivistische Gemäkel hinterher. Aber es gibt natürlich Filme – und das ist dann das Glück – die vertragen den zweiten, dritten Blick…
Ein paar Regeln hab ich mir aufgestellt, so wie jeder natürlich seine eigenen Regeln gemacht hat. Dürfen zum Beispiel Regisseure mehrfach vorkommen? Ich habe mich entschieden, das auszuschließen, und nur den für mich schönsten Film des Regisseurs zu nennen, das erleichtert die Sache. Aber es ist auch Quatsch, wenn man mehrere Filme der gleichen Person einfach sehr mag.
Der Begriff der Lieblingsfilme ist auch gefährlich. Er hat eine Tendenz zum etwas zu Freundlichen, Anschmiegsamen, und wie alle Begriffe schließt er auch bestimmte Filme aus. The Wolf of Wall Street zum Beispiel ist für mich der wohl ohne Frage beste Film Scorseses aus dieser Dekade, und zeigt Unglaubliches, verrät sehr viel von unserem Zeitalter. Ein kluger, sehr witziger Film.
Aber
er nervt eben auch kolossal, das gehört zwar dazu, aber eben darum, weiß ich nicht, ob ich ihn allzu oft wiedersehen möchte, und einen Lieblingsfilm nennen kann.
Lieblingsfilme, nun ja. Ein besserer Begriff fand sich nicht.
So oder so ist es eine Wahnsinnserfahrung diese Liste zu erstellen, auch für mich. Was ich da rauskegeln musste, hätte ich nie gedacht, so wurde es eine zen-buddhistische, passivistische Übung im »Los-lassen« und gleichzeitig im Gegenteil, in einer Samurai-Härte »gegen sich selbst«.
Die Übung stimmt optimistisch, denn man realisiert, wie viele gute Filme es doch gibt, im Kino. Der Alltag lässt einen das
schnell vergessen. Aber wenn man pro Jahr fünf, sechs Filme findet, die Bestand haben, die man wiedersehen möchte und die beim Wiedersehen wie neu erscheinen, dann ist das genug.
In diesem Sinn machen wir allen unseren Lesern hiermit hoffentlich Lust auf das Kino, auf das Wiedersehen alter Filme und auf die Golden Twenties, die vor uns liegen…