68. Festival de Cine de San Sebastián 2020
Apokalyptische Träume |
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Hier passiert Unrecht: Antonio Mendez Esparzas Courtroom 3 H | ||
(Foto: Press Service SSIFF 2020) |
»You can’t judge an artist by bourgeois standards.«
Aus: Rifkin’s Festival von Woody Allen
Dies ist ein Filmfestival, wie man es sich träumt: Jean-Luc Godard bekommt den »lifetime achievement award«. Dazu läuft dann Außer Atem, »À bout de souffle«, und im Publikum sitzen unter anderem der Festival-Direktor und seine Assistentin. Die Filme hier heißen »The perfect Mind« oder »Woman dress«, oder »Apocalyptic Dreams«. Letzterer stammt von Phillippe, dem französischen Autorenfilmer, der von Louis Garrel gespielt wird, dessen Vater tatsächlich Phillippe mit Vornamen heißt und ein französischer Autorenfilmer ist.
Das alles ist aber selber nur ein Traum. Geträumt hat ihn Woody Allen, der in seinem Film Rifkin’s Festival das reale Filmfestival von San Sebastián mit einem ausgedachten vermischt. Diese Vermischung von Realität und Fiktion, vom Künstler Woody Allen und der Hauptfigur ist das Prinzip von Allens Film.
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Er macht Witze über die Presse, eine Schauspielerin wird gefragt: »Were all of your orgasms special effects?«, Allens Held und Alter Ego kommentiert Phillippes neueste Pläne: »Einen Film über Frieden in Israel – es ist schön, wenn jemand einen Science-Fiction-Film dreht.« und über Jesus heißt es später: »Jesus ist ein regular guy. Er hätte am Labour Day wieder auferstehen sollen.«
Oder über Phillippe: »He just won an award in Cologne, Germany today.« – »Oh nice –
wasn’t Eichmann from there?«
Es sind diese nicht schlechten, aber doch etwas abgestandenen Witze, die den Film kennzeichnen. Erwachsene Witze, ein leichter durchaus melancholisch eingefärbter Humor. Teilweise ein Humor für Kenner und Intellektuelle, teilweise auch ein Humor, der schon meinen Eltern und ihren Freunden gefallen hätte – und so schlimm ist das auch nicht.
Man kann sagen: Mitunter sind es Alt-Herren-Witze. Aber mit solchen Charakterisierungen ist
nicht viel gewonnen, außer dass sich der, der sie macht, darüber erhebt. Sie sind also am Ende des Tages arrogant und prätentiös. Dann soll man bitte mal zeigen, wo bessere Witze gemacht werden und welche Komödien im Kino oder überhaupt Filme im Kino denn witziger sind. Wes Anderson lasse ich gern gelten, auch wenn es nicht immer mein Humor ist. Aber ansonsten? Man muss erstmal dahin kommen, wo Allen schon lange ist, und auch ein schwächerer Woody Allen hat immer noch ein paar gute Witze.
Dazu eine bissige Kritik am Moralismus der Mitmenschen: »You can’t nudge an artist by bourgeois standards« hören wir. Aber man muss auch wissen: Wer sagt das hier zu wem?
Der Film konstatiert die Verachtung der Welt für den »cracky little introvert«, die Allen auch selber spürt: »Who wants to know if there is something instead of nothing?«
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Die Entscheidung, Woody Allen und seinen neuen Film zur Eröffnung des diesjährigen Filmfestivals von San Sebastián einzuladen, konnte man gewagt finden nach der Vorgeschichte der letzten Monate, dem Streit um die Veröffentlichung seiner Autobiografie und den wieder aufgewärmten, aber in ihrer Substanz nach wie vor unbelegten Missbrauchsvorwürfen.
Zugleich ist sie ganz natürlich: Denn am Ende interessieren sich Festivals nicht für PC-ness und die neuen Moral-Taliban,
sondern für Aufmerksamkeit und die (Schein-)Skandale, die diese bringen.
Und ein Film, der auf einem Filmfestival spielt, und zwar keinem anderen als dem von San Sebastián – das ist natürlich auch Grund genug, diesen Film einzuladen. Jedes Filmfestival der Welt wäre eigentlich dankbar für die Chance, einen Woody-Allen Film im Programm zu haben, zumal er immerhin für eine Dosis Humor gut ist – eine rare Ware auf den oft von sehr ernsten und tristen Filmen dominierten Filmfestivals.
Ein Festival kann sich nichts Schöneres wünschen, als so einen Film, der einerseits tatsächlich von filmhistorischen Referenzen und kleinen Hommagen an den europäischen Autorenfilm nur so strotzt, und dann auch noch den notorischen Betrieb eines Festivals, der sich in mancher Hinsicht auch nur Insidern und Teilnehmern wirklich erschließt, ins Zentrum nimmt, und ihn sehr charmant ironisiert – nicht gehässig, sondern voller Liebe für diesen ganz besonderen einmaligen Ort. Allens Film bewegt sich souverän in dieser Welt für sich.
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Im Wettbewerb läuft unter anderem Courtroom 3 H vom Spanier Antonio Mendez Esparza. Dies ist ein Dokumentarfilm. Erkennbar von Frederick Wiseman beeinflusst. Das heißt: eine No-Nonsense-Dokumentation, also man stellt die Kamera an und tut so, als ob man einfach abfilmt, was passiert. Tatsächlich geschieht natürlich etwas ganz anderes: Es wird konsequent aufgenommen in Close-ups und Halbtotalen. Das bedeutet: Nähe, aber kein Überblick; subjektive, nie
objektive Positionen.
Es wird viel geschnitten und gegengeschnitten, es wird möglicherweise auch sehr tendenziös geschnitten – das wissen wir nicht, weil auf der einen Seite alles nüchtern und ohne Kommentare daherkommt, also auch ohne dass wir wissen, was die eigene, möglicherweise sogar propagandistische Intention des Filmemachers war. Gezeigt wird mit einer versteckten Agenda, die wir im besten Fall glauben können, mit der wir bestenfalls sympathisieren können.
Vielleicht aber auch nicht.
Dieser Film zeigt die Praxis an amerikanischen Gerichten, und zwar an Familiengerichten, wo es nicht um Strafe geht, sondern darum, ob Kinder ihren Eltern weggenommen werden oder nicht. Das Jugendamt ist involviert, Experten, der Richter. Die Anwälte der Eltern, die Anwälte der Kinder. Die Kinder selbst allerdings bleiben stumm.
Und das ist vielleicht das Schmerzhafteste an dem, was dieser Film zeigt. Ansonsten zeigt er einen Richter, der
sympathisch ist und bemüht, der eine gute Art hat, mit den Leuten zu reden. Der aber gleichzeitig viel zu viel redet, auch im Film, und je länger der Film dauert, umso mehr wird auch deutlich, dass er seine Vorannahmen hat und seine eigene, ihm selber gar nicht bewusste Agenda.
Eingeleitet wird der ganze Film mit einem James-Baldwin-Zitat, aus dem hervorgeht, dass die Gerechtigkeit »in diesem Land« – gemeint sind die US of America –, dass diese Gerechtigkeit durch
Anhörung und Kommunikation hergestellt wird. Das Problem beginnt aber damit, dass die Menschen, von denen hier die Rede ist und die eigentlich reden sollten, sich gar nicht ausdrücken können. Dass sie so illiterat sind, dass sie eigentlich auch stumm sind. Ein Großvater, ein Schwarzer mit offensichtlich sehr niedrigem Bildungsniveau sagt einen Satz in diesem Film, der mir hängengeblieben ist: »Warum nimmt man die Kinder den Eltern weg?« Er verweist auf die UdSSR, wo es angeblich
üblich gewesen sei, und selbst heute nicht mehr üblich sei. Aber in den USA wird etwas gemacht, was selbst in der Sowjetunion nicht gemacht wird. Das scheint weit hergeholt zu sein und die Sowjetunion ist nicht gerade ein Beispiel eines Rechtsstaats, in dem irgendeiner von uns leben will. Aber sind die USA so viel besser? Fühlt es sich für Amerikaner, die dort leben müssen und die der Justiz dieses Landes ausgesetzt, ja ausgeliefert sind, fühlt es sich für die besser an?
Der Richter
mit dem skandinavischen Namen argumentiert schlüssig: »Die Kinder können sich nicht selber schützen. Wir müssen es tun.« Das Problem ist, dass dieser Satz, der sowieso ein sehr elastischer, interpretierbarer Satz ist, vom Gericht und noch mehr von den amerikanischen Sozialbehörden als ein Gummiparagraph gehandhabt wird. Das heißt: Sie interpretieren ihn nach Belieben. Das heißt: Sie nehmen die Kinder in Obhut und sie sagen, was gut ist für die Kinder. Sie sagen, wovor die
Kinder beschützt werden müssen. Hierbei passiert Unrecht.
Was dieser Film zeigt: Sie nehmen den Eltern die Kinder weg. Aber sie nehmen auch den Kindern die Eltern weg.
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Woody Allen – das immerhin nimmt für ihn und diesen Lichtblick in einem ermüdenden Spätwerk ein – hat einen Film gemacht, bei dem es um Fantasien geht. Er weiß selbst, dass viele dieser Fantasien überflüssig sind. Aber wir alle haben solche Fantasien, haben wie die Hauptfigur Rifkin unsere Festivalflirts. Manchmal mit Filmen, machmal mit Figuren, manchmal mit Menschen. Manchmal ist es weniger, manchmal mehr als das. Manchmal ist es einfach eine nette Mitarbeiterin an der
Kartenausgabe, mit der wir uns lieber unterhalten, als mit den anderen, also gehen wir immer zu ihr und freuen uns vielleicht fünf Minuten vorher schon, dass wir gleich mit ihr reden werden. Und manchmal ist es jemand wie Arantxa, die seit ein paar Jahren hier am Presse-Counter sitzt und die mich genau so kennt, wie ich sie. Man begrüßt sich, man erzählt sich, wie das Jahr war, jetzt erst recht bei Covid, man redet über dies und das, man erzählt sich während des Festivals ein bisschen von
den Filmen. Soziales Leben und wahrscheinlich ist es so, dass wir beide außerhalb des Filmfestivals nicht mehr übereinander nachdenken. Gut möglich, das Arantxa schon während des Filmfestivals nicht weiter über mich nachdenkt. Umgekehrt: ich immerhin schreibe ja jetzt etwas über sie.
Allen benennt die Tatsache, dass solche losen banalen Gefühle durchaus intensiv sein können. Dass es bei ihnen noch gar nicht so sehr um die Personen geht, auf die sie sich richten. Auch das werden
jetzt manche banal finden. Aber es sind solche Emotionen, die einen durchs Leben tragen und solche Gedanken. Allen hat einen Film darüber gemacht, dass unser ganzes Leben zu einem großen Anteil aus solchen Fantasien besteht und in ihnen stattfindet. Die wahren Abenteuer sind im Kopf. Und wenn sie da nicht sind, dann sind sie nirgendwo.
(to be continued)