68. Festival de Cine de San Sebastián 2020
Im Kino der Grausamkeit |
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Eine einzige Qual: »In the Dusk« | ||
(Foto: Press Service SSIFF 2020) |
»Family drama is everywhere.«
Sharunas Bartas
Warum sollten mich eigentlich die Zeugen Jehovas in Georgien mehr interessieren als Jules und Jim?
Wir sehen eine provisorische Kirche. Später wird klar, dass dies die Zeugen Jehovas sind, eine kleine geschlossene kirchliche Gemeinde, an der Sprache ist klar, dass wir uns in Georgien befinden. Eine Frau begrüßt die Gemeinde, ein Mann, der offensichtlich der Priester ist, hält einen Vortrag über Abraham und Isaak. Was wollte Abraham tun und was wollte Gott von Abraham? Das Ganze geht vor sich hin, in einer einzigen langen Einstellung gefilmt aus der Distanz, und man erwartet nicht
unbedingt, dass hier jetzt etwas Plötzliches passiert. Doch genau das ist der Fall. Es gibt einen Brandanschlag auf die Kirche, plötzlich bricht im für die Kamera vorderen, hinteren Teil des Raums Feuer aus, und dann fliegt auch noch ein Brandsatz auf der anderen Seite durchs Fenster. Eine gewisse Panik bricht aus, der Priester beruhigt zugleich.
Sofort ist klar: Dies ist ein richtiger Film. Und dies ist eine gute Filmszene.
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Gleichzeitig sorgt die Ästhetik dafür, dass sich sofort der Eindruck des Künstlichen, und damit auch des Gewollten, ja: Prätentiösen herstellt. Die nächsten Szenen werden in jeweils relativ langen Einstellungen erzählt, die erste Viertelstunde des Films hat nur etwa 10 Schnitte. Wir erfahren in ihnen, dass Yana, die Frau vom Anfang die Ehefrau des Priesters ist, und dass beide einen gemeinsamen Sohn haben. Nach dem Anschlag auf die Kirche will sie aus dem Ort weg. Sie ist hier aufgewachsen, sie kennt die Leute. Er will bleiben und wird in den nächsten Wochen Geld auftreiben, um den Wiederaufbau der Kirche zu finanzieren.
Im Folgenden sehen wir, dass die Frau in der Zeit der Abwesenheit des Mannes sich einerseits um ihren Sohn kümmert, und in ihrem Alltag weiterlebt. Eines Abends bekommt sie Besuch von einem der Polizisten, die wegen des Brand-Anschlags ermitteln. Doch dieser Besuch wird schnell unangenehm. Zum einen legt der Polizist der Frau nahe, ihren Mann dazu zu überreden, die Anzeige gegen Unbekannt wegen des Brandanschlags zurückzuziehen. Es ist klar, dass Dorfbewohner für den Anschlag
verantwortlich sind.
Zum Zweiten belästigt der Polizist die Frau auch sexuell, versucht sie einzuschüchtern. Dies gelingt ihm. Auch weil die Frau ihre Angst zugibt und dem Polizisten gegenüber nicht wirklich irgendeine Form von Gegenwehr zeigt. Mit dieser Bemerkung möchte ich die Situation beschreiben, nicht die Filmfigur moralisch für das verantwortlich machen, was wir hier geschieht, und noch geschehen wird. Da aber dies, das Unangenehme der Situation von Anfang an klar ist, wird
jeder, der diese Szene sieht, auch dazu animiert, sich sein Urteil über die Handlung der Figuren zu bilden.
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Einige Film-Minuten später kommt es schließlich zu einer – in ihren Details überaus harten – Vergewaltigung der Frau durch den Polizisten. Nur knapp kommt sie überhaupt mit ihrem Leben davon.
Ich kann sagen, dass ich diese Szene auch rückblickend als die unangenehmste des ganzen Festivals empfand. Nicht zwar geschmacklich, denn sie ist interessant, ja sehr gut gefilmt, so wie der ganze Film auf der rein ästhetischen Ebene beeindruckend ist.
Aber so, wie ich immer gerne argumentiere, dass man das Moralische und Politische nicht vom Ästhetischen trennen kann, und das allein moralische oder politische Sympathien für einen Film noch keinen Grund sind, diesen Film gut zu finden, so gilt dies natürlich auch umgekehrt: Man kann das Ästhetische nicht komplett von dem trennen, was in der Form transportiert wird. Form und Ästhetik haben immer auch eine Moral und eine Politik. Und so wie ich das ästhetische Können in diesem Fall anerkenne, so kann ich das, was hier moralisch und politisch geschieht, verachten.
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Bald nach der Vergewaltigung besucht die Hauptfigur ihre Mutter, erzählt aber nichts von der Vergewaltigung. Die Mutter spürt aber, dass etwas nicht in Ordnung ist, und es kommt zu Gesprächen der Frauen unter sich. Die Mutter geht davon aus, dass ihre Tochter eine Affäre hat. Sie sagt: »your husband doesn’t need to know.«
In den nächsten Szenen inszeniert der Film den Zusammenbruch der Frau. Wir sehen im Folgenden auch, das Ausschnitte des Gesprächs zwischen der Frau und dem Polizisten aufgenommen und dem Mann zugespielt wurden, um ihn zu erpressen. Darin sprach die Frau über seine sexuellen Vorlieben. Dies erschüttert den Mann weitaus mehr, als die Vergewaltigung, von der er erfährt.
Wir sehen ein paar Kinder bei der Taufe. Das ist ein glücklicher schöner unschuldiger Moment. Aber so unschuldig darf es natürlich nicht bleiben.
Der Mann sagt dann irgendwann Yana I want to forgive you, und kommt sich sicher sehr klug und vergebend vor. Sie schneidet Gurken und mixt diese mit Milch und Pillen. Es ist offensichtlich, dass sie sich selbst, und ihren Sohn vergiften will. Später kommt es zu einem schönen Dialog, der Ehemann fragt die Ehefrau beim Abendessen: »How come, he went to bed so early?« Ihre Antwort: »I killed him.«
Und dann gibt es noch einen schönen Computer-Trick: Der Polizist, geht auf der Jagd mit dem Schrotgewehr, er bleibt hinter den anderen zurück und wird offensichtlich gerade vom lieben Gott mit Schluckbeschwerden und körperlicher Schwäche bestraft. Dann kommt ein Schnitt und dann schlürft er über einen ausgetrockneten See, bricht dort zusammen, liegt auf dem Boden und dan lässt der Film diesen auf dem Boden liegenden Mann mit dem Sand verschmelzen. Hier darf man sogar kurz an Michel Foucault denken und seine Bemerkung, das Subjekt verschwinde wie ein Gesicht im Sand. Aber das ist sicher anders gemeint.
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Das ist alles so diktatorisch in der Machart, zugleich so klein in der Perspektive. Man hat zugleich den Eindruck, dass ein Film dieser Art vor 20 oder 15 Jahren viel besser von Bruno Dumont gemacht wurde. Man hat auch den Eindruck, hier sei ein Wannabe-Reygadas aus Georgien am Werk.
Es ist ein nihilistischer Film. Kino der Grausamkeit. Der Grausamkeit gegenüber den Zuschauer. Der Grausamkeit gegenüber den Menschen und der Idee des Menschen. Und der Grausamkeit gegenüber dem Medium Kino.
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Dies ist der Zeitpunkt, zu berichten, dass ich, wie viele andere Kollegen, mit denen ich nach dem Film über »Beginning« sprach, fest der Überzeugung war, der Regisseur sei ein Mann. Dies schien alles so typisch für einen bestimmten Typus vor allem osteuropäischer Filmemacher.
Tatsächlich ist Dea Kulumbegashvili eine Regisseurin – für den Hinweis auf das Geschlecht der Regisseurin möchte ich mich bei Frederic Jaeger bedanken. Dies hätte ich natürlich leicht aus dem Katalog erfahren können. Dies ist der Beweis, dass ich beim Schreiben meiner Filmkritiken nicht Hilfe aus dem Katalog in Anspruch nehme. In diesem Fall aber sehr ärgerlich, weil ich auch im Podcast über den Film rede, als sei er von einem Mann gemacht worden. Aber interessant, denn man sieht hier, dass auch Frauen unter Umständen sehr männliche Filme machen können, und dass Frauen auch sehr arrogante und dem Zuschauer wie den Figuren gegenüber sadistische Attitüden an den Tag legen können.
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Schon im Kino und dann unmittelbar nach dem Film habe ich gedacht: Was aus dem Autorenkino geworden ist! Es geht in diesen Filmen nicht mehr um Glück, nicht um den Sinn des Lebens, es geht nicht mehr um Anthropologisches und Universales. Komödien werden auch nicht mehr gemacht. Sondern dieser doch reichlich begrenzte Typus miserabilistischen Autorenkinos nimmt reichlich viel Platz ein. Wenn man so etwas sieht, dann kommt man dazu, sich in Bezug auf die Zukunft des Kinos den Pessimisten anzuschließen.
Nochmal: Warum sollten mich die Zeugen Jehovas in Georgien mehr interessieren, als Jules und Jim?
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Ein schlimmer Tiefpunkt des Wettbewerbs, nicht nur in seiner Ästhetik, sondern in dem, was er erzählen, genauer gesagt dem Publikum aufdrücken will, ist »In the Dusk« vom Litauer Sharunas Bartas.
Der Film spielt 1948 in der UdSSR, zu der damals bereits Litauen gehörte. Die ersten Bilder zeigen ein paar Partisanen im Dreck, irgendwo im Wald. Sie sehen aus wie Hippies, sind zerlumpt, sie blicken stumpf vor sich hin. Die Depression und der nahe Tod sind hier schon präsent. Aber ein paar
Wochen, genau gesagt hier rund zwei Stunden filmisch geraffter Zeit, die dieser Film braucht, bis er sich an sein Ende geschleppt hat, werden sie noch am Leben bleiben. Zu diesen Bildern läuft pseudo-ernste, bedeutungsschwere Kitsch-Musik.
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Auch hier wieder ein Effekt, der in diesem Typ Film oft zu beobachten ist: Man sieht immer, wenn Hände betont auf dreckig geschminkt sind. Man sieht das daran, dass sie dann den Dreck nicht nur unter den Fingernägeln, sondern auch am Nagelbett haben. Es sieht immer gleich aus, und ich kann nicht anders, als hier manikürte Schauspieler-Hände zu sehen, die auf dreckig geschminkt sind. Das ist der böse Blick des Filmkritikers.
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Die Partisanen als sind schmutzig und verlaust, sie haben Dreck im Gesicht und an den Händen, und erkennbar monatelang nicht geduscht. Nur das eine Mädchen unter den ganzen Partisanen-Jungs ist sauber und rein. Schneewittchen und die sieben Zwerge. Der Partisanen-Priester erinnert ein bisschen an den Priester in Robin Hood: Er ist dick und der kann gut kämpfen.
Die Sowjets sind in diesem Film, wie in anderen Filmen die Nazis. Sie haben Ledermäntel an. Sie sind sadistisch. Sie
haben Spaß daran, Menschen zu quälen. Sie sind niemals auch nur von einem Funken Idealismus getragen. Sondern sie sind einfach böse – anders ist es ja für diesen Film auch nicht zu erklären, dass man Kommunist wird.
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Der Führer der Partisanen sieht ein bisschen aus wie Jesus: Die Augen liegen tief in den Höhlen, der Bart ist lang, die Haare länger. Er sagt dann so Dinge wie: »Ich habe einen Eid geschworen. Ich muss meine Leute beschützen.« Ja, so waren sie: aufrecht und ehrenhaft, nie an das eigene Leben denkend, nur an die Nation Litauen. Und sie sagen dann Sätze wie: »Nur die Wahrheit ist heilig.«
Damit wir Zuschauer alle mitbekommen, wie schwer das Leben ist, sehen wir, dass die Menschen, wenn sie Feuer machen, und dafür ein Streichholz verwenden, dieses Streichholz gleich dreimal reiben müssen, bevor sich der Funke entzündet. Denn nichts war einfach in dieser schweren Zeit. Bestimmt sind es kommunistische Streichhölzer, die nicht richtig funktionieren und auf die einfach kein Verlass ist.
Und dann sieht man, woran der litauische Nation letztendlich scheiterte: Natürlich nicht an den Kommunisten. Mit denen wäre man schon fertig geworden. Sondern an sich selbst. Denn es gibt Verräter und die machen sich gegenseitig fertig. Der einzige unsympathische Partisan, der einzige ohne Menschlichkeit, der einzige, der eine Art Fanatiker ist, der entpuppt sich dann als Verräter.
Sharunas Bartas zeigt Litauer, die den alten Zeiten nachtrauern, von der Vergangenheit reden,
langsam und bedeutungsschwer. Früher war alles besser. Und alle Litauer halten zusammen: Die Großgrundbesitzer und die Bauern.
Dieser Film ist ein Propagandafilm. Er hat nichts, aber auch gar nichts mit der Wirklichkeit zu tun.
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Dies ist eine einzige Qual, eine Zumutung. Wäre ich nicht Mitglied in der FIPRESCI-Jury, wäre ich aus diesem Film ziemlich bald herausgegangen, weil ich eigentlich denke: ich muss mir so etwas nicht ansehen. Weil ich in jeden Fall weiß: ich möchte mir so etwas nicht ansehen.
Es gibt viel zu viele andere schöne Dinge im Leben, und sovviele bessere Filme. Filme ohne diese quälende Selbstgerechtigkeit, Filme ohne den Belehrungsimpuls, ohne den Wunsch, dem Publikum fortwährend
irgendeine Wahrheit aufs Brot zu schmieren, ohne den Blick auf Zuschauer als Objekte, die nicht hören wollen, und von denen die Filmemacher wissen, dass sie sie nicht hören wollen, ohne diese Lust am Ekel, ohne diese Lust an der Hässlichkeit, ohne diese Lust am Breittreten der Depression.
(to be continued)