77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Endlich wieder im Risikogebiet! |
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Feiern vor Corona – im Eröffnungsfilm der Filmfestspiele, Daniele Luchettis LACCI | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»There are decades when nothing happens, and there are weeks when decades happen.«
Lenin»Wie das in Venedig immer so ist, wirkt der Lido einen Tag vor dem Festival so, als wäre die Eröffnung noch Wochen entfernt. Überall wird gebaut und gewerkt, aufgestellt und eingerichtet. Nur auf der Terrasse des Excelsior haben die Foto-Agenturen bereits ihre Claims abgesteckt...«
Michael Althen, SZ 02.09.1999
Silbern schillert die Lagune im Morgengrauen. Langsam fährt am frühen Morgen der Zug aus München von Mestre aus nach Venedig ein. Erwartung scheint in der Luft zu liegen, aber das ist im Zweifelsfall nur der allgemeinen Morgenstimmung und meinem persönlichen Zustand geschuldet.
Auch zurück auf dem Lido, nach einem Jahr, trifft man lauter Bekannte. Man hat nicht den Eindruck, dass hier die Dinge diesmal wesentlich anders sind als sonst. Das Filmfestival von Venedig findet statt. Mit Masken, aber es findet statt.
Das Glas ist halb voll. Ich habe mich entschlossen, das zu sehen, was gut funktioniert. Natürlich fehlen alle möglichen Dinge, die ein Festival ausmachen, das ist schon vorab klar: Vor allem die Spontaneität, das Flanieren, der plötzliche Seitenwechsel, der Haken, den man schlägt, aber natürlich auch erst recht die persönlichen Begegnungen.
Der entscheidende Unterschied ist nämlich der, dass man sich für sämtliche, wirklich sämtliche Vorstellungen vorab registrieren lassen muss – das heißt, dass man sich den Tag durchbucht mit Vorstellungen und lieber ein oder zwei mehr bucht als zu wenig, und dies über ein Online-Ticketsystem, über das wir hier sicher noch detaillierter sprechen werden, das aber nach ein paar Kinderkrankheiten am letzten Sonntag im Großen und Ganzen sehr, sehr gut funktioniert. Einmal mehr beweist dies, dass Italiener dann, wenn sie wirklich müssen, ziemlich gut und effektiv und sehr pragmatisch arbeiten, und dass sich die Deutschen von den Italienern eine ganze Menge abschauen können – nicht nur in dieser Hinsicht. Aber auch.
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Mein 20. Venedig. Kein einziges Mal seit 2001 habe ich gefehlt. Andere erleben ihr 40. Festival. Ein in Paris lebender türkischer Kollege, der immer seinen Geburtstag feiert am 2.9., immer während Venedig.
Fahrt am Lido entlang, im Sonnenschein. Es riecht nach Meer, nicht nach Desinfektionsmittel. Vielleicht ist das Meer auch die beste Kur in all den Zuständen, in denen wir uns gerade befinden, und vielleicht ist das wirklich gesunde Leben nicht das mit Maske und Waschzwang auf Distanz.
Das In-der-Sonne-Sein, das unbefangene, gedankenlose Wohlbefinden ist etwas, das zumindest nicht unterschätzt werden sollte in Zeiten der Seuche. Aber manchen gilt man, wenn man so etwas ohne
Disclaimer hinschreibt, schon als „Coronaleugner“ – auch so ein furchtbarer Ausdruck unter vielen.
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Es geht los, endlich! Nach Monaten des Stillstands beginnt das älteste und eines der wichtigsten Filmfestivals der Welt mehr oder weniger auf Normalbetrieb Filme zu zeigen.
Persönlich bedeutet das für mich das reine Glück. Die nächsten dreieinhalb Wochen werde ich investieren und nicht zuletzt hier berichten, denn auf Venedig folgt direkt San Sebastian – allen Unkenrufen, und allen interessierten Kreisen zum Trotz!
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Endlich bin ich wieder im Risikogebiet. Denn das wahre Risikogebiet, das sind nicht Infektionsherde, sondern Filmfestivals. Und mit ihnen konfrontiert wird die ganze Idee von der Infektionsvermeidung fragwürdig. Hier entlarvt sich das allzu wohlfeile Gerede: Denn in geistiger und ästhetischer und politischer und künstlerischer Hinsicht können wir uns gar nicht genug infizieren! Wir müssen uns anstecken mit neuen Ideen und Anregungen und diese Vorstellung, die gerade aus leicht nachvollziehbaren Gründen viel Beifall findet, dass eine Infektion per se etwas Schlechtes ist und dass man ein Risiko, so gut es geht, vermeiden soll, die wird hier entlarvt.
Jedes Filmfestival ist im Grunde ein Risikogebiet. Jedenfalls wenn es etwas taugt. Denn warum geht man jetzt hierher? Und warum geht man überhaupt hierher? Doch wohl, weil man sich riskieren will. Weil man ein Risiko eingehen will.
Der beste mögliche Film ist einer, der einen so erschüttert, dass danach alles anders ist. Diese Erfahrung, nach der wir uns alle sehnen, ist aber auch ein Risiko: Denn wenn danach nichts so ist, wie zuvor, dann müssen nicht nur wir unser Leben ändern,
dann hat sich dieses Leben bereits ohne unser Zutun geändert.
Mal schauen, ob sich etwas Derartiges einstellt. Die neuen Regeln haben allerdings Folgen.
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Allein im Kino. Einigen geht es jetzt bestimmt so: Endlich hat man den Abstand, den man sich immer gewünscht hat. Endlich sitzt vor allem keiner, der schnarcht, hinter einem keiner, der stinkt.
Aber es ist natürlich komplizierter: Einerseits ist Kino schon der Ort, an dem man sich am besten allein befindet, ungestört durch soziale und emotionale Nebengeräusche. An dem man sich vergessen kann. Darum ohne Freunde, erst recht, ohne Geliebte, aufzusuchen.
Zugleich ist Kino etwas unbedingt Soziales. Es gehört essentiell zum Kino, dass man die Erfahrung teilen möchte. Natürlich kann man später darüber reden, später anderen von dem erzählen, was man erlebt hat. Das Schönste aber ist es, nach einer Vorführung draußen vor dem Kino zu stehen und sich gegenseitig zu bestätigen, sich einig zu sein, dass das, was man da gerade gesehen hat, etwas ganz besonders Gutes, ein Glücksfall ist.
Das gilt alles erst recht auch für Filmfestivals. Nichts ist wichtiger an Festivals, als die Begegnung mit anderen Menschen, vor allem die Begegnung mit Neuem und Unerwartetem. Im Zweifelsfall sollte man einen Film sausen lassen für ein gutes Gespräch oder ein fröhliches Abendessen. Nur weiß man das vorher natürlich nicht – und nicht wenige Filme können das Gespräch, das Abendessen im Nachhinein aufwiegen, zumal sich das ja sowieso nachholen lässt. Es gibt natürlich den Typus Grottenolm, der sich auf Festivals gar nicht so selten herumtreibt, dem sein Leben entgleitet, weil das eigentliche Leben im Kino stattfindet und nicht mehr außerhalb.
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Es gibt das neue Genre der Pandemie-Gespräche. Also die Frage: »Wie geht’s dir mit Corona« wird zum Anlass, mehr oder weniger breit seine Angst mitzuteilen, oder seine nicht vorhandene, sein Beharren auf der Normalität, seine Lust an der sogenannten »neuen Normalität« und so weiter und so weiter – alles ziemlich langweilig.
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Ganz kann man der Versuchung natürlich nicht entgehen, hier die Masken-Debatte weiterzuführen. Ich meine jetzt nicht die Frage, ob man überhaupt Masken tragen soll und wie nützlich die ganze Chose ist. Das ist ein doch eher langweiliger Aspekt des Maskenzwangs. Sondern die Frage, was das eigentlich für Folgen hat für unsere Kultur, also auch: Wie nehmen wir einen Menschen wahr, wenn wir sein Gesicht gar nicht oder nur sehr unvollständig sehen? Wie wichtig ist jener Teil, der bedeckt
ist? Und dann natürlich jener kuriose bis absurde Aspekt, dass die Innenpolitiker der meisten Parteien die letzten 30 Jahre damit zugebracht haben, so etwas wie ein Vermummungsverbot im öffentlichen Raum durchzusetzen, teilweise über die Islamismus-Diskussion, teilweise nach jeder Demo, bei der ein Teil der Demonstranten austickt.
Immens teure Gesichtserkennungssoftware haben die Demokratien von den autoritären Regimes dieser Welt dafür übernommen. Jetzt ist sie
Makulatur. Die Terroristen unserer nahen Zukunft werden sich auf den Maskenzwang berufen, wenn sie sich maskieren. Interessant ist auch die Frage, ob eigentlich der Bankraub neue Konjunktur hat – in den letzten Jahren sah es ja eher schlecht aus für die klassischen Bankräuber, Helden oder Halbhelden vieler nicht nur US-amerikanischer Spielfilme.
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Hat das Tragen der Maske im Kino eigentlich Folgen? Ermüdet weniger Sauerstoffzufuhr schneller? Will man vor dem Film sein Gesicht verhüllen?
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Vielleicht ist dieses Filmfestival ja das entscheidende Signal der Selbstbehauptung des Kinos. Vielleicht ist es auch ein Treffen all jener, die darauf beharren, dass die Dinge wieder so werden sollen wie sie zuvor waren, die die Veränderung der Welt nicht akzeptieren wollen, die gegen die Veränderung dieser Welt rebellieren.
Wir leben in der besten aller Welten. Jeder Filmkritiker ist irgendwann auch mal in der Rolle von Candide, dem naiven Helden oder wahrscheinlich Antihelden Voltaires, der einfach stur und kontrafaktisch daran festhielt, dass wir in der besten aller Welten leben.
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Endlich du Lutscher! Aus Luce, dem italienischen Wort für Licht, macht das Rechtschreibprogramm »Lutscher«.
(to be continued)