77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Hoffnungen und Geheimnisse |
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Die Stärke von Luchettis Film liegt ganz in seiner Story | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Das ganze Leben ist Verrat.«
Cesare Pavese»Es heißt, Eastwood sei schon einen Tag früher angereist, 'um seine Freiheit zu haben'. Und es kann gut sein, dass er in der Accademia sitzt und Gemälde von Carpaccio bewundert – so wie er es am Anfang von seinem vorletzten Film 'Absolute Power' getan hat. Ein Mann mit einem Hut in einem Museum. Und nur im Kino kann es passieren, dass dieser Mann hinterher Zeuge wird, wie der Präsident der USA eine Frau vergewaltigt und ermordet.«
Michael Althen, SZ 31.08.2000
Space Cowboys von Clint Eastwood – das war vor genau 20 Jahren der Eröffnungsfilm der Mostra. Und Eastwood war da erst gerade mal schlappe 70 Jahre alt.
Diese Erinnerung mag den Abgrund andeuten, der das diesjährige Festival von einer normalen Mostra trennt, und uns alle vom Kino, wie es vor zwanzig Jahren noch Normalzustand war – als man Telefone nur zum Telefonieren benutzte und bei »Netflix« vielleicht an einen neuen Internetbrowser gedacht hätte.
Aber heute sind wir alle froh, dass es überhaupt wieder losgeht, und wer erstmal einen Schreck bekommen hatte, bei der Ankündigung, dass diesmal in Venedig statt mit dem nächsten Oscarfavoriten mit einem italienischen Film eröffnet wird, den kann man hier schon mal beruhigen.
Lacci („Schnürsenkel“) vom sechzigjährigen italienischen Regisseur Daniele Luchetti, der erste italienische Eröffnungsfilm seit vielen Jahren, ist ein guter Film, und für den Auftakt dieses Filmfestivals mehr als in Ordnung.
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Eine einfache Geschichte über die komplizierteste Sache der Welt. Alles spielt in Neapel in den frühen 80er Jahren. Mit einem Gruppentanz Erwachsener geht es los, ein Paar wirft sich bedeutungsvolle Blicke zu. Im Hintergrund amüsieren sich die Kinder. Dann geht es nach Haus, das Paar bringt seine Kinder ins Bett; der Vater ist zärtlich, er liest Märchen vor, schon im Schlafanzug sieht man gemeinsam fern: Eine Sendung über Tiere. Der Sprecher erzählt von den Löwenkindern, bei denen »die Familienbande« angeblich für immer halten, wenn sie einmal geknüpft sind. Spätestens da ahnen wir, dass das mit den Familienbanden für diese Menschenkinder nicht so einfach gelten wird. Es wird dies nämlich der letzte ganz unbeschwert glückliche Abend ihrer Kindheit sein. Denn ein paar Minuten später gesteht Aldo, der Vater, der beim Radio arbeitet, dass er eine Affäre mit einer Arbeitskollegin hat. Vanda, die Mutter, gespielt von Alba Rohrwacher (und als alte Frau dann von Laura Morante), stellt zunächst ein paar sehr gute Fragen. Zum Beispiel: »Warum hast du es mir gesagt? Wer ist sie? Wie lange geht das schon?«. Dann stellt sie fest: »Wenn es unwichtig wäre, hättest du es mir nicht sagen sollen«, und gerät zunehmend außer sich. Schließlich schmeißt sie Aldo aus der Wohnung.
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Was lernen wir daraus? Besser nichts sagen? Vielleicht. Es hätte Aldo aber nicht viel gebracht, denn das mit der Kollegin wird ernster.
Später spricht Vanda nicht nur über Liebe, sondern über Liebe hinaus von Loyalität. »Wir haben einen Pakt geschlossen, ich hätte auch noch etwas Besseres haben können.«
Lacci verfolgt die Beziehung über 40 Jahre – man weiß bald, dass die beiden irgendwie wieder zusammenfinden, obwohl das so gar nicht verständlich scheint. Am Anfang steht der Film ganz auf Seiten von Vanda und der gemeinsamen Kinder, die leiden und vom Vater wenig wissen wollen. Es wird
über die Naivität der Männer geredet, darüber, wie wichtig ihnen Prestige ist. Und wie man sich mit Leuten umgibt, die für das eigene Prestige hilfreich sind. Das Leben der Männer sei nicht nur leer, es sei geprägt durch Angst vor der Leere. Harte Diagnose, aber nicht falsch.
Doch je länger der Film dauert, wird alles zunehmend komplizierter. Wir lernen die anderen Seiten kennen, auch Aldos Geliebte. Und lernen, wie die Beziehung zwischen Vanda und Aldo sich langsam wieder aufwärmt, wie aus Vertrautheit neue Liebe wird.
Oder ist dies nur ein perverser Zusammenhalt in gegenseitiger Selbstverachtung. Wunschloses Unglück?
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In der Jetztzeit, als beide alt sind, überlagern Frustration, Enttäuschung und Kälte die Vertrautheit. »No life without betrayal – kein Leben ohne Verrat.« heißt es einmal, ohne dass klar wird, wie genau der Satz gemeint ist. Als Einsicht in pragmatische Notwendigkeit, als Essenz unseres Daseins? Bei Cesare Pavese ist das konsequenter, auch existentieller formuliert: »Das ganze Leben ist Verrat.« Aber auch hier bleibt offen, wie hoch der Anteil des Selbstverrats liegt.
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Der interessanteste Aspekt dieses Schlussteils ist, wie sich unser Blick auf die Kinder wandelt, mit denen man so lange mitfühlte.
Diese niedlichen Kinder werden als Erwachsene nämlich zu sozialen Terroristen. Man kann das natürlich so abtun, dass man sagt, hier sieht man mal wieder, was Trennungen und was die Capricen der egoistischen Erwachsenen den Kindern antun. Aber der Film zeigt, dass auch Kinder schon früh Egoisten sind. Interessant ist es, die Szenen, die man schon einmal gesehen hat, aus Kinderperspektive dann noch mal zu sehen. Also etwa zu erkennen, wie die Tochter, die sich keineswegs, wie man
glaubte, mit der sitzengelassenen Mutter solidarisiert, sondern sie eigentlich fürchterlich findet und Angst vor ihr hat, wie sie zugleich aber nicht zugeben will, dass sie eigentlich lieber bei der Geliebten des Vaters leben würde. Das ist ein hochinteressanter, auch bewegender Moment.
Im Nachhinein versteht man auch den Albtraum der Tochter, sie sei tot gewesen, nicht mehr als Reaktion auf Elterntrennung, sondern als frühes Zeichen einer psychisch Labilen.
So oder so
sind die Kinder als Erwachsene drei Klassen uninteressanter als die Eltern: Die Tochter dick, hässlich, krank, der Sohn ein Prick. Aber die Kinder verachten die Eltern auch noch vollkommen ungerechtfertigt, deren Leben und Interessen sie nicht zu schätzen wissen: Der Vater sei „ordinary clever“, aber ein Dante sei er nicht.
Familie als Terrorzusammenhang, mal wieder. Aber auch als Büchse der Pandora. Das größte Unglück ist die Hoffnung.
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Man merkt, dass die Stärke des Films ganz in seiner Story liegt. Die Machart ist konventionell, allerdings doch eine Konventionalität, wie sie französische Filme haben, und zu der deutsche Filme eigentlich nie hinfinden: Hier zeigt man etwas, guckt interessiert zu, hat Sinn für Bilder und Rhythmus, und quatscht nicht jede Szene mit Erklärdialogen zu.
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Noch eine andere Erfahrung hatte ich im Kino: Die Leinwand zeigt Menschen, die sich nahe sind, sich berühren, miteinander sind, ohne Abstand, ohne Masken.
Die Wirklichkeit auf der Leinwand ist reicher und wirklicher als die, die wir leben. Die Filme zeigen uns, was uns fehlt, wie pervers der Zustand ist, in dem wir uns befinden, auch wenn wir alle uns längst an ihn gewöhnt haben und manche von uns sich vielleicht sogar gut mit ihm arrangieren.
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Über Clint Eastwood, der hier vor 20 Jahren eine Masterclass gab, schrieb Michael Althen damals noch ein paar Dinge, die heute so zeitgemäß klingen wie damals: »Ein Mann, der begriff, dass der Western und der Jazz die ureigensten Kunstformen seines Landes sind – und der das auch reflektieren konnte. Dass Gewalt und Show in Amerika untrennbar verbunden sind. Und dass die Freiheit des Westens von Anfang an eine Sache kapitalistischer Ausbeutung war. Was Buffalo Bill mit seinen Wildwest-Shows war, das hat Eastwood nicht nur mit Bronco Billy realisiert, sondern in gewisser Weise auch mit seinem Star-Status, der den Geschmack von Freiheit und Abenteuer vermarktet hat.«
(to be continued)