04.09.2020
77. Filmfestspiele von Venedig 2020

Tod und Venedig

Lacci
Jetzt schon der schönste Film des Festivals? – »Molecule« von Andrea Segre
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service)

Am Ende kommen Touristen – wieder – Notizen aus Venedig, Folge 3

Von Rüdiger Suchsland

»In Venedig gehören Sehen und Sterben unlösbar zusammen.«
Michael Althen; SZ 02.11.1990

Venedig ist seit jeher ein Ort des Morbiden und der Morbi­dität gewesen, der Nähe zur Kultur des Sterbens und der engen Beziehung zwischen Tod und Leben.
Bei Thomas Mann ist Venedig ein Ort der Dekadenz und des Laissez-Faire, hier kommt das Verdrängte an die Ober­fläche. Der Künstler Aschen­bach, den Dirk Bogarde so unver­gess­lich in Viscontis Verfil­mung der Novelle »Tod in Venedig« spielte, lässt sich gehen, gibt seine »Lebens­lüge« der Selbst­zucht auf, bekennt sich zum Abgrund. »Seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Unter­gangs«, schreibt Mann – als ob es ums Kino ginge.
Wenn es um Filme zum Thema geht, fallen einem Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) sofort ein, Paul Schraders Der Trost von Fremden, Patricia Highsmith' Ripley-Romane, aber auch »Venedig kann sehr kalt sein«. Und dann doch vor allem zwei andere Filme: La signora senza camelie ein ganz früher, genau gesagt der zweite Spielfilm von Antonioni, der auch noch zum Teil während der Film­fest­spiele von Venedig auf dem Lido spielt. Ein Film, der nach innen blickt, auf die Falsch­heiten und Lebens­lügen der Film­in­dus­trie, und auf den Tod der Kunst durch die Trivi­al­kultur. Man kann ihn, wenn nicht im Kino, gerade komplett auf YouTube sehen. Lucia Bosé, Haupt­dar­stel­lerin in diesem wie dem ersten Spielfilm Anto­nionis, ist erst dieses Jahr im März im kasti­li­schen Segovia mit 89 gestorben.
Dann Agostino (1962) von Marco Bolognini (auch der, wenn auch hunds­mi­se­rabel, auf YouTube). Er spielt im sagen­um­wo­benen »Hotel des Bains«, das auch Thomas Mann 1911 besuchte, und in dem Visconti später drehte. Noch später, bis in die ersten Nuller-Jahre, war es das Highlight eines jeden Mostra-Besuchs. Auch der Trotzkist Ken Loach genoss es, hier zu wohnen.

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Auch deshalb kann man sich keinen besseren Ort denken für die Wieder­auf­er­ste­hung des Kinos, die wir mögli­cher­weise gerade hier erleben. Viel­leicht geht von Venedig so etwas aus wie eine neue Wert­schät­zung des Kinos, eine neue Wert­schät­zung seiner Kraft, ein besseres Bild unseres Lebens und auch ein Gegenbild zu ihm zu entwerfen.
Viel­leicht sind das alles aber auch nur letzte Zuckungen – eines Mediums, das seine beste Zeit längst hinter sich hat und in Wahrheit nur noch vor sich hin rottet. Auch hierfür bildet die Seren­nis­sima immer ein groß­ar­tiges unver­gleich­lich treff­si­cheres Bild ab.

Denn immer wieder mal muss man hier aus Venedig auch erzählen, wie es hier aussieht. Man muss an die Geschichte des Film­fes­ti­vals erinnern, des ältesten der Welt, zwischen in die Jahre gekom­menen Belle-Epoque-Hotels – die Deutschen trium­phierten hier vor allem in Zeiten, an die sie nicht mehr so gerne zurück­denken wollen: Leni Riefen­stahl und Veit Harlan gewannen hier große Preise und Heinz Rühmann war mehr als einmal zu Gast; er soll sogar einst mit seinem Privat­flieger hier­her­ge­kommen und auf dem kleinen Flughafen im Norden des Lido gelandet sein.

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Viel­leicht habe ich den schönsten Film des Festivals schon am Dienstag gesehen, als Aller­erstes. Molecole.

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»Aus der Tiefe meiner Zukunft, sagte er, stieg mir während all dieses absurden Lebens, das ich gelebt hatte, ein dunkler Hauch entgegen, durch die Jahre hindurch, die noch nicht gekommen waren...« – mit diesen Sätzen aus Albert Camus' »Der Fremde« beginnt alles.

Die alten Videos und Super-8-Filme des Vaters waren der Ausgangs­punkt für den Regisseur Andrea Segre, um endlich doch seinen Film über seine Heimat­stadt zu machen. Er wollte einen Film machen über die zwei Themen, die aus seiner Sicht Venedig am meisten plagen: Die regel­mäßige Flut und die Touristen. Am 20.2. 2020 wollte er beginnen zu drehen. »Keiner hatte irgend­eine Vorstel­lung, was kommen würde.«

Das von Touristen bis zum Bersten gefüllte Venedig ist mit einem Mal leer.

Der Regisseur räsoniert darüber, ob Ignoranz unter Umständen gut sein könnte? Er erzählt: Der Großvater war Jude, die Groß­mutter nicht. Aber für sie sei die Shoa ein lebens­langer Schrecken gewesen. So beiläufig ist der Zivi­li­sa­ti­ons­bruch des Jahr­hun­derts präsent. Er habe das Gefühl gehabt, dass ihm der Vater einiges verschwieg. Aber was?
Der Film beob­achtet, aber er hat keinen klaren Plot, sondern er beschreibt die Erfah­rungen und lässt sich mit den Erfah­rungen treiben.
Ein Fischer zitiert ein chine­si­sches Sprich­wort: »Wenn du heiratest, dann bist du eine Woche lang glücklich. Wenn du dein Schwein schlach­test, dann bist du einen Monat lang glücklich. Wenn du Fischer wirst, dann bist du ein Leben lang glücklich.« Und dann lachen sie alle und sagen »die Chinesen!« – und bestimmt war ich nicht der einzige im Saal, der dann mitge­dacht hat, was zu dem Zeitpunkt, als der Fischer in der Heimat­stadt von Marco Polo, dem Entdecker Chinas, diese Geschichte erzählt und dann ausruft »Die Chinesen«, gerade auf der anderen Seite der Welt in Wuhan los war.

Der Regisseur räsoniert über Apoka­lyp­tiker und Bukoliker.

Die Lagune sei ein großes Schwimmbad, sie sei seicht. »Die ganze Lagune sah aus wie dies hier« kommen­tiert die Forscherin eine von Seeane­monen bedeckte Fläche. Es war schwierig, in ihr zu fahren, es gab in diesem Bad in Pflanzen nur wenige Fahr­rinnen.

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Eine junge Frau beherrscht die alte Ruder­technik der Gondo­liere. Sie erzählt davon, wie das Wasser sich verändert und wie man die Stadt sieht, wenn man aus Venedig kommt. Am 06.03.2020 beschließen die beiden, noch einmal raus­zu­fahren: »Fahren wir raus, solange wir noch können.«
Da ist es bereits absehbar, dass die Regierung eine Ausgangs­sperre verhängen wird. Aber ist es nicht inter­es­sant, wie hier zwei vernünf­tige junge Menschen, die keines­wegs Lust haben, ihre Mitmen­schen zu gefährden, auf die doch auch im Prinzip vernünf­tigen Maßnahmen der Regierung reagieren? Indem sie die eine legale Lücke, die noch existiert, nämlich jetzt hier und heute auszu­fahren, auch ausnutzen. Sie benehmen sich nicht so, wie die Deutschen, die in der größten Mehrzahl sich noch an solche Vorschriften halten, die überhaupt nicht exis­tieren – Haupt­sache Vorschriften, Haupt­sache Gehorsam –, sondern sie verhalten sich wie normale Menschen. Sie tun nämlich das, was sie tun wollen: sie genießen ihr Leben, sie sind vernünftig, aber nicht über­ver­nünftig.

Man hätte ja auch erwarten können, dass sie in voraus­ei­lendem Gehorsam bereits das Richtige tun, weil sie wollen, bevor sie es müssen. Das ist so handeln, wie der preußi­sche Philosoph Immanuel Kant geboten hat: »Du kannst, weil du sollst!«
Aber nichts da!
Die Regierung ist der Antipode – viel­leicht nicht der Feind, aber der Antipode – der Bürger, nicht ihr Freund.
Besten­falls ein wohl­mei­nender Antipode, der etwas tut, was ganz vernünftig ist, aber keines­falls ist die Regierung das, womit wir uns gemein machen müssen, von der wir ein Teil sind, die nur unsere Vertreter sind.

Sie fährt in der Giudecca und sagt: Dies ist ein Anblick, den es viel­leicht mehr als 1000 Jahre nicht gegeben hat. Und sie hat recht: denn kein einziges Boot außer diesem fährt gerade auf der größten Wasser­straße von Venedig. Und noch erstaun­li­cher: es gibt keine Wellen. Warum? Weil der Seegang kein natür­li­cher ist, nicht etwa vom Meer stammt, denn für diesen ist die Lagune ja durch die Sandbänke wie das Lido geschützt. Sondern der Wellen­gang stammt von den vielen Booten, die den ganzen Tag die Wasser­straßen von Venedig durch­pflügen.
Wenn es nur immer so wäre!

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Viele beiläu­fige Episoden: Die Sängerin, aus deren zartem Körper überaus kraftvoll und viel mächtiger scheinbar die Stimme kommt und »Lascia ch'io pianga« singt. Sie ist in diesem Augen­blick nur Körper, ihre Hände machen will­kür­liche Bewe­gungen, wie bei einer Spas­ti­kerin, ihren Körper vergisst sie ganz – obwohl er genau der Ursprung dieser Stimme ist. Eine hübsche, über­ra­schend junge Frau, ganz Stimme, entrückter Leib.

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Die Schönheit der Erde ohne Menschen – das ist natürlich auch ein bisschen Pandemie-Kitsch. Aber es ist auch eine inter­es­sante, weil wider­sprüch­liche Erfahrung: Denn diese Schönheit der Erde ohne Menschen braucht doch die Menschen, um erfahren zu werden.

Elegant mischt der Film alte und neue Bilder Venedigs.

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Als ob nichts geschehen wäre... Aber es ist etwas geschehen! Dieser Film hat einen Sinn für die Erschüt­te­rung unser aller Leben.

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Der Fischer beschreibt das Fischen. Woher weiß er, wo er einen guten Fang machen wird? Wie sieht er die Bewegung des Schwarms, die doch unter Wasser ist. Er beschreibt selbst all seine Erfahrung »like not knowing why you know«.

Und benennt damit die Erfahrung aller Kunst, man wird von etwas ergriffen und dann war es das, aber man weiß nicht genau, warum, und immer wieder streift man die Grenze dessen, wo dieses Wissen nicht mehr kommu­ni­zierbar ist.

(to be continued)