77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Tod und Venedig |
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Jetzt schon der schönste Film des Festivals? – »Molecule« von Andrea Segre | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»In Venedig gehören Sehen und Sterben unlösbar zusammen.«
Michael Althen; SZ 02.11.1990
Venedig ist seit jeher ein Ort des Morbiden und der Morbidität gewesen, der Nähe zur Kultur des Sterbens und der engen Beziehung zwischen Tod und Leben.
Bei Thomas Mann ist Venedig ein Ort der Dekadenz und des Laissez-Faire, hier kommt das Verdrängte an die Oberfläche. Der Künstler Aschenbach, den Dirk Bogarde so unvergesslich in Viscontis Verfilmung der Novelle »Tod in Venedig« spielte, lässt sich gehen, gibt seine »Lebenslüge« der Selbstzucht auf, bekennt sich zum Abgrund.
»Seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs«, schreibt Mann – als ob es ums Kino ginge.
Wenn es um Filme zum Thema geht, fallen einem Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) sofort ein, Paul Schraders Der Trost von Fremden, Patricia Highsmith' Ripley-Romane, aber auch
»Venedig kann sehr kalt sein«. Und dann doch vor allem zwei andere Filme: La signora senza camelie ein ganz früher, genau gesagt der zweite Spielfilm von Antonioni, der auch noch zum Teil während der Filmfestspiele von Venedig auf dem Lido spielt. Ein Film, der nach innen blickt, auf die Falschheiten und Lebenslügen der Filmindustrie, und auf den Tod der Kunst durch die Trivialkultur.
Man kann ihn, wenn nicht im Kino, gerade komplett auf YouTube sehen. Lucia Bosé, Hauptdarstellerin in diesem wie dem ersten Spielfilm Antonionis, ist erst dieses Jahr im März im kastilischen Segovia mit 89 gestorben.
Dann Agostino (1962) von Marco Bolognini (auch
der, wenn auch hundsmiserabel, auf YouTube). Er spielt im sagenumwobenen »Hotel des Bains«, das auch Thomas Mann 1911 besuchte, und in dem Visconti später drehte. Noch später, bis in die ersten Nuller-Jahre, war es das Highlight eines jeden Mostra-Besuchs. Auch der Trotzkist Ken Loach genoss es, hier zu wohnen.
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Auch deshalb kann man sich keinen besseren Ort denken für die Wiederauferstehung des Kinos, die wir möglicherweise gerade hier erleben. Vielleicht geht von Venedig so etwas aus wie eine neue Wertschätzung des Kinos, eine neue Wertschätzung seiner Kraft, ein besseres Bild unseres Lebens und auch ein Gegenbild zu ihm zu entwerfen.
Vielleicht sind das alles aber auch nur letzte Zuckungen – eines Mediums, das seine beste Zeit längst hinter sich hat und in Wahrheit nur noch
vor sich hin rottet. Auch hierfür bildet die Serennissima immer ein großartiges unvergleichlich treffsicheres Bild ab.
Denn immer wieder mal muss man hier aus Venedig auch erzählen, wie es hier aussieht. Man muss an die Geschichte des Filmfestivals erinnern, des ältesten der Welt, zwischen in die Jahre gekommenen Belle-Epoque-Hotels – die Deutschen triumphierten hier vor allem in Zeiten, an die sie nicht mehr so gerne zurückdenken wollen: Leni Riefenstahl und Veit Harlan gewannen hier große Preise und Heinz Rühmann war mehr als einmal zu Gast; er soll sogar einst mit seinem Privatflieger hierhergekommen und auf dem kleinen Flughafen im Norden des Lido gelandet sein.
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Vielleicht habe ich den schönsten Film des Festivals schon am Dienstag gesehen, als Allererstes. Molecole.
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»Aus der Tiefe meiner Zukunft, sagte er, stieg mir während all dieses absurden Lebens, das ich gelebt hatte, ein dunkler Hauch entgegen, durch die Jahre hindurch, die noch nicht gekommen waren...« – mit diesen Sätzen aus Albert Camus' »Der Fremde« beginnt alles.
Die alten Videos und Super-8-Filme des Vaters waren der Ausgangspunkt für den Regisseur Andrea Segre, um endlich doch seinen Film über seine Heimatstadt zu machen. Er wollte einen Film machen über die zwei Themen, die aus seiner Sicht Venedig am meisten plagen: Die regelmäßige Flut und die Touristen. Am 20.2. 2020 wollte er beginnen zu drehen. »Keiner hatte irgendeine Vorstellung, was kommen würde.«
Das von Touristen bis zum Bersten gefüllte Venedig ist mit einem Mal leer.
Der Regisseur räsoniert darüber, ob Ignoranz unter Umständen gut sein könnte? Er erzählt: Der Großvater war Jude, die Großmutter nicht. Aber für sie sei die Shoa ein lebenslanger Schrecken gewesen. So beiläufig ist der Zivilisationsbruch des Jahrhunderts präsent. Er habe das Gefühl gehabt, dass ihm der Vater einiges verschwieg. Aber was?
Der Film beobachtet, aber er hat keinen klaren Plot, sondern er beschreibt die Erfahrungen und lässt sich mit den Erfahrungen treiben.
Ein
Fischer zitiert ein chinesisches Sprichwort: »Wenn du heiratest, dann bist du eine Woche lang glücklich. Wenn du dein Schwein schlachtest, dann bist du einen Monat lang glücklich. Wenn du Fischer wirst, dann bist du ein Leben lang glücklich.« Und dann lachen sie alle und sagen »die Chinesen!« – und bestimmt war ich nicht der einzige im Saal, der dann mitgedacht hat, was zu dem Zeitpunkt, als der Fischer in der Heimatstadt von Marco Polo, dem Entdecker Chinas, diese Geschichte
erzählt und dann ausruft »Die Chinesen«, gerade auf der anderen Seite der Welt in Wuhan los war.
Der Regisseur räsoniert über Apokalyptiker und Bukoliker.
Die Lagune sei ein großes Schwimmbad, sie sei seicht. »Die ganze Lagune sah aus wie dies hier« kommentiert die Forscherin eine von Seeanemonen bedeckte Fläche. Es war schwierig, in ihr zu fahren, es gab in diesem Bad in Pflanzen nur wenige Fahrrinnen.
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Eine junge Frau beherrscht die alte Rudertechnik der Gondoliere. Sie erzählt davon, wie das Wasser sich verändert und wie man die Stadt sieht, wenn man aus Venedig kommt. Am 06.03.2020 beschließen die beiden, noch einmal rauszufahren: »Fahren wir raus, solange wir noch können.«
Da ist es bereits absehbar, dass die Regierung eine Ausgangssperre verhängen wird. Aber ist es nicht interessant, wie hier zwei vernünftige junge Menschen, die keineswegs Lust haben, ihre Mitmenschen zu
gefährden, auf die doch auch im Prinzip vernünftigen Maßnahmen der Regierung reagieren? Indem sie die eine legale Lücke, die noch existiert, nämlich jetzt hier und heute auszufahren, auch ausnutzen. Sie benehmen sich nicht so, wie die Deutschen, die in der größten Mehrzahl sich noch an solche Vorschriften halten, die überhaupt nicht existieren – Hauptsache Vorschriften, Hauptsache Gehorsam –, sondern sie verhalten sich wie normale Menschen. Sie tun nämlich das, was sie tun
wollen: sie genießen ihr Leben, sie sind vernünftig, aber nicht übervernünftig.
Man hätte ja auch erwarten können, dass sie in vorauseilendem Gehorsam bereits das Richtige tun, weil sie wollen, bevor sie es müssen. Das ist so handeln, wie der preußische Philosoph Immanuel Kant geboten hat: »Du kannst, weil du sollst!«
Aber nichts da!
Die Regierung ist der Antipode – vielleicht nicht der Feind, aber der Antipode – der Bürger, nicht ihr Freund.
Bestenfalls ein wohlmeinender Antipode, der etwas tut, was ganz vernünftig ist, aber keinesfalls ist
die Regierung das, womit wir uns gemein machen müssen, von der wir ein Teil sind, die nur unsere Vertreter sind.
Sie fährt in der Giudecca und sagt: Dies ist ein Anblick, den es vielleicht mehr als 1000 Jahre nicht gegeben hat. Und sie hat recht: denn kein einziges Boot außer diesem fährt gerade auf der größten Wasserstraße von Venedig. Und noch erstaunlicher: es gibt keine Wellen. Warum? Weil der Seegang kein natürlicher ist, nicht etwa vom Meer stammt, denn für diesen ist die Lagune ja durch die Sandbänke wie das Lido geschützt. Sondern der Wellengang stammt von den vielen Booten, die den
ganzen Tag die Wasserstraßen von Venedig durchpflügen.
Wenn es nur immer so wäre!
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Viele beiläufige Episoden: Die Sängerin, aus deren zartem Körper überaus kraftvoll und viel mächtiger scheinbar die Stimme kommt und »Lascia ch'io pianga« singt. Sie ist in diesem Augenblick nur Körper, ihre Hände machen willkürliche Bewegungen, wie bei einer Spastikerin, ihren Körper vergisst sie ganz – obwohl er genau der Ursprung dieser Stimme ist. Eine hübsche, überraschend junge Frau, ganz Stimme, entrückter Leib.
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Die Schönheit der Erde ohne Menschen – das ist natürlich auch ein bisschen Pandemie-Kitsch. Aber es ist auch eine interessante, weil widersprüchliche Erfahrung: Denn diese Schönheit der Erde ohne Menschen braucht doch die Menschen, um erfahren zu werden.
Elegant mischt der Film alte und neue Bilder Venedigs.
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Als ob nichts geschehen wäre... Aber es ist etwas geschehen! Dieser Film hat einen Sinn für die Erschütterung unser aller Leben.
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Der Fischer beschreibt das Fischen. Woher weiß er, wo er einen guten Fang machen wird? Wie sieht er die Bewegung des Schwarms, die doch unter Wasser ist. Er beschreibt selbst all seine Erfahrung »like not knowing why you know«.
Und benennt damit die Erfahrung aller Kunst, man wird von etwas ergriffen und dann war es das, aber man weiß nicht genau, warum, und immer wieder streift man die Grenze dessen, wo dieses Wissen nicht mehr kommunizierbar ist.
(to be continued)