77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Liebestod im Irrenhaus... |
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Ein kleiner Film von großer Zärtlichkeit: »Oasis« von Ivan Ikic | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»A writer needs a pen, an artist needs a brush, but a filmmaker needs an army.«
Orson Welles»Jean-Luc Godard zieht in 'For Ever Mozart' eine Verbindungslinie vom Theater über den Krieg und das Kino zur Musik. Er spielt dabei Sarajewo nach, und wer das für frivol hält, der hat im Grunde schon verstanden, worum es Godard geht. So wie früher die Carabiniers in den Krieg zogen und mit einem Haufen Postkarten zurückkamen, so gilt auch heute noch: Vom Krieg kann man sich kein Bild machen. Und wer es trotzdem tut, muß sich nicht wundern, daß den Bildern ein Hauch von Theatralik und der Geruch von Verwesung anhaftet. Cocteaus Spruch, daß man im Kino dem Tod bei der Arbeit zusehen kann, bleibt den Helden hier nicht ohne Grund im Munde stecken.«
Michael Althen, SZ 06.09.1996
Endlich mal das Beispiel eines bosnischen Films, in dem der jugoslawische Bürgerkrieg überhaupt keine Rolle spielt. Welch ein Glück!
Oasis von Ivan Ikic läuft in den Giornate degli Autori und beginnt einleitend mit einem kurzen tollen alten Reportagefilm, aus dem Jahr 1968, in pinkem Agfacolor: Ein seinerzeit hypermodernes Wohnheim für geistig Behinderte wird da vorgestellt, der Sprecher redet in paternalistischem Ton immer wieder von den »armen
Geschöpfen« und den »Unglücklichen«, die man früher ins Meer geworfen oder in den Bergen ausgesetzt hatte. Jetzt gebe es das schöne Heim.
Dort, in einem inzwischen heruntergekommenen, etwa 60 Jahre alten Gebäude mit funktionalistischer Architektur, spielt dann der eigentliche Film. Und zeigt das Glück dieser angeblich so Unglücklichen: Die Liebe!
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Hätte man mir vorher erzählt: »Es geht um Liebesbeziehungen geistig Behinderter in Bosnien«, hätte ich – ganz ehrlich – wahrscheinlich mit den Augen gerollt und wäre gar nicht ins Kino gegangen. So kann man sich täuschen. Denn von Anfang an ist das alles erstaunlich faszinierend und überraschend.
Die drei, um die es geht, heißen Marija, Dragona und Robert. Alle um die 16. Marija ist die Neue. Sie ist recht hübsch und die ebenfalls gut aussehende Dragona erkennt in ihr sofort eine geistesverwandte Rebellin. Oder eine Konkurrentin, was vielleicht aufs Gleiche hinausläuft. Die beiden freunden sich an. Doch dann ist da Robert, auf den Dragona schon länger ein Auge geworfen hat, und der die Mädchen durch ein Loch im Zaun zu kleinen Ausflügen in die Wiesen und Wälder einlädt. Vielleicht ist das die Freiheit des Filmemachers, vielleicht geht es in bosnischen Irrenhäusern tatsächlich so paradiesisch frei zu, vielleicht herrscht nur Personalmangel – jedenfalls können die Insassen ziemlich oft einfach unbeaufsichtigt tun und lassen, was sie wollen. Und so bleibt es nicht beim Spazierengehen. Eines Tages behauptet Dragona, sie sei schwanger, Marija ist es, wie sich dann herausstellt, tatsächlich und wird zur Abtreibung gezwungen.
Ganz langsam ziehen die Konflikte und die Spannung in Oasis an, die Liebe der Verrückten wird tatsächlich fou und eskaliert, die fehlende Freiheit drückt immer mehr, Hoffnung und Utopie liegen bald nicht mehr im gemeinsamen Leben, sondern im Tod.
Auch gelinde gesagt liberal ist in dieser Anstalt der Umgang mit Küchenmessern. Schon früh hat man gesehen, dass alle drei Hauptfiguren sich in der Vergangenheit öfters selbst verletzt haben. Und immer wieder geht es in ihren Gesprächen ums »Schneiden« und die Faszination der Todesnähe. Und man kann sich sicher sein, dass jedes Messer und jede Scherbe, die wir in diesem Film sehen, irgendwann noch benutzt werden wird – und nicht nur zum Gurkenschneiden.
Das ist bis zum bitteren, vorhersehbaren Ende sehr dezent und unaufdringlich, dafür mit um so größerer Neugier inszeniert. Wie im koreanischen Film Night in Paradise (s.u.) schauen sich hier die Menschen im Moment des Sterbens in die Augen.
Ein kleiner Film von großer Zärtlichkeit.
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Die andere Seite des bosnischen Kinos verkörpert Jasmila Zbanic. 2006 gewann sie, sehr überraschend, mit erst 32 Jahren den Goldenen Bären für Grbavica, in dem sie recht zwingend über eine Mutter-Tochter-Geschichte von den Folgen der Massenvergewaltigungen im jugoslawischen Bürgerkrieg erzählte.
Auch 15 Jahre später hat sie das Thema nicht losgelassen. Das muss man
respektieren. Wie sie vom Krieg erzählt, allerdings nicht. Dies ist ein Monument, ein Film wie ein Denkmal, das auf einer Opfergedenkstätte einen würdigeren Platz fände, als auf der Leinwand.
Quo vadis, Aida? spielt im Juli 1995 in Srebrenica. Aida ist der Name der Hauptfigur, einer Frau mittleren Alters, einer Gymnasiallehrerin für Englisch, die jetzt als Übersetzerin für die vor Ort stationierten niederländischen UNO-Truppen arbeitet. Anhand dieser Konstellation erzählt die Regisseurin vom Massaker von Srebrenica.
Ästhetisch ist der Film von der Kamera-Arbeit interessant und gut, er ist auch souverän inszeniert. Aber in dieser Souveränität beginnt das Problem – es ist schon oft bemerkt worden, dass es ein Widerspruch ist, einen Antikriegsfilm vom Feldherrenhügel aus zu inszenieren – und auch in diesem Film stört immer wieder die glatte Maschinerie und komplexe Logistik, mit der Maschinerie und Logistik des Mordens choreographiert werden.
Das Problem dieses Films ist, dass er eigentlich nur die 25 Jahre alten FAZ-Leitartikel illustriert, in denen Johann Georg Reißmüller und Fritz Ullrich Fack den jugoslawischen Krieg zum abendländischen Verteidigungskampf gegen kommunistische Aggressoren und Serbien zu Tätern und Angriffskriegern stilisierten. Und die zum großen Unglück der Jugoslawen leider erheblichen Einfluss auf die auch von Alliierten kritisierte parteiische deutsche Außenpolitik der Kohl-Regierung im Jugoslawien-Krieg hatten.
Das politisch-moralisch Infame liegt dabei gerade darin, dass es in diesem konkreten Fall schon alles ungefähr so gewesen sein wird, wie der Film zeigt.
Aber wenn man noch nicht mal die Hälfte der Wahrheit zeigt, wird diese zur Lüge. Man kann sich dann nicht mehr damit herausreden, dass man bei Morden und Menschenrechtsverletzungen nicht aufrechnen soll – hier ist alles vollkommen aus dem Zusammenhang eines blutigen, von allen Seiten mit Verbrechen geführten Bürgerkrieges
gerissen.
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So sind wieder die Serben die einzigen Bösen. Man sieht nur hässliche, muskelbepackte, bis an die Zähne bewaffnete Männer, die fortwährend schreien und mit den Augen rollen. Und die alle schon so aussehen, wie Menschen, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte. Dieser Film zeigt nicht einen positiven Serben. Und er zeigt nicht einen unsympathischen Bosnier.
Die Serben werden hier alle so gezeigt, wie in alten Hollywoodfilmen die Indianer, Sie haben nichts anderes im Sinn, als
möglichst viele weiße Skalps zu erobern – und die Bosnier sind in diesem Western die Weißen. Sie sind grundgut, solidarisch, es gibt nicht einen Verräter unter ihnen, und natürlich keinen Bosnier, der je eine Waffe gegen ein anderes Volk gehoben hätte. Dass dies ein einziges Klischee ist und im Kontext obszön, zeigt allein schon die Tatsache, dass Ratko Mladic, der Mörder von Srebrenica, ja nicht einfach ein Serbe ist, sondern ein bosnischer Serbe. Geboren in Bosnien – und
solche Widersprüche machen ja gerade die Abgründe des jugoslawischen Bürgerkriegs aus. Dass man zwischen Gut und Böse, zwischen Bosniern, Serben, Kroaten und allen anderen nicht besonders gut und klar und jedenfalls bestimmt nicht moralisch unterscheiden kann.
Der Regisseurin geht es aber lieber darum, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen, nicht darum zu zeigen, dass bereits die Unterscheidung, die dieser Idee der verschiedenen Seiten zugrunde liegt, selbst obszön ist, moralisch, politisch und anthropologisch fragwürdig.
25 Jahre nach dem Krieg müsste man über sowas hinaus sein, und müsste gerade in der Lage sein, klar zu machen, dass der Nationalismus als solcher das Übel ist, nicht eine Unterscheidung zwischen guten und bösen Nationen.
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Auch die Rolle der Niederländer und ihres Kommandanten Karremans wird sehr fragwürdig zusammengestutzt. Schuldzuweisungen sind einfach, der Film versäumt, seine Fragen zu vertiefen, ob die Katastrophe vom Juli 1995 nicht eher von der UNO zu verantworten ist, die spätestens in diesem Krieg ihre Unfähigkeit und Überflüssigkeit bewiesen hat.
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Und dann die Hauptfigur: Mittendrin im Massaker sagt sie wie einst Mutter Beimer Sätze wie »We just need to stick together«, und beginnt sich fast ausschließlich um ihre Familie zu kümmern. Dass Aida besonders ihre Söhne retten will, ist verständlich und womöglich ein an Drehbuchworkshops unterrichtetes Motivationstool für eine Filmfigur – aber was soll das eigentlich für ein moralisches und politisches Statement des Films sein?
Wahrscheinlich gar keins, sondern
der Dramaturgengedanke: Dann verstehen’s die Leute besser, dann bleibt alles nicht abstrakt.
Nie gönnt dieser Film seinen Zuschauern eine Verschnaufpause, er treibt die Manipulation voran bis zum bitteren Ende, malt seine Vorgaben exakt aus.
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Tilda Swinton in einem Heimwerkermarkt vor dem Stand, an dem man Äxte kaufen kann, ist ein schönes Bild.
Damit beginnt The Human Voice ein Kurzfilm von Pedro Almodóvar, der aus unerfindlichen Gründen vor Quo vadis, Aida? lief. Mit dem hat er nichts zu tun.
Anfangs steht Swinton in einem leeren Filmstudio mit einem roten Kleid – auch ein schönes Bild. Danach sieht man sie in einer typischen Almodóvar-Wohnung, die kunterbunt und übertrieben stylisch eingerichtet ist. Sicher alles sehr teuer, aber ein bisschen sieht es auch aus wie von Ikea.
Es folgt ein Monolog in Großaufnahmen, bei denen der Hund an ihrer Seite das Lebendigste ist. Natürlich wird man Tilda Swinton bewundern wollen – aber das wussten die meisten ihrer Bewunderer schon, bevor der Film anfing. Womit nicht gesagt werden soll, dass sie Bewunderung nicht verdient. Aber der Film?
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Ein ziemlich lustiger Film über den Tod. Und natürlich zugleich auch ein sehr trauriger. Vor allem aber ein ganz konsequenter Film – und über wie viele Filme kann man das schon sagen?
Night in Paradise ist ein Gangsterfilm. Sehr schön, extrem hart. Erstmal sieht man das, von dem man glaubt, dass man es schon hundertmal aus Korea gesehen hat: Koreaner in Anzügen dreschen aufeinander ein, als gäbe es kein Morgen. Und für viele von ihnen gibt es das auch nicht. Das machen sie gerne auch mit langen Messern, weniger gern mit Faustfeuerwaffen, aber zur Not tun es diese auch. Dabei können sie einstecken, was das Zeug hält. Bald sind sie über und
über mit Blut besudelt und stehen trotzdem immer wieder auf.
Man kann auch dieses Kino wieder als die Einführung ins Sterben-lernen bezeichnen. Aber vor allem lernt man hier, wie schwer sterben ist, und dass es ganz schön lange dauert und nie so schnell geht, wie man erwarten und erhoffen würde, auch nicht für sich selber.
Night in Paradise erzählt von zwei Todgeweihten, einem jungen Mann, der von einem Mafiaboss als Killer auserkoren wird, um einen Konkurrenten zu beseitigen. Das tut er dann auch, in einer spektakulären Aktion in einem Badehaus. So weit, so gut. Genau gesagt: so, weit, so schlecht. Denn das auserkorene Mordopfer ist nicht ganz tot. Und auch der große Boss hat nicht ganz saubere Arbeit gemacht. Zu viele Leute bleiben am Leben. So kommt es bald zu Gegenschlägen.
Er wird auf einer russischen Insel geparkt.
Die aber zum großen Teil von Koreanern bevölkert ist. So gelingt es auch sogar diesem stinknormalen Genrefilm, in tolle, aber fremde und durchaus faszinierende Lebenswelten einzuführen. Wir lernen also ein Gebiet kennen, das ein bisschen so aussieht, wie Skandinavien, also flach und bewaldet mit einem eher grauen als blauen Himmel. Auch im Sommer muss man sich hier etwas wärmer anziehen. Wie die Finnen oder Norweger tragen die Menschen
Daunenjacken. Wie die Norweger verdient man das Geld mit der Fischerei, mehr Geld allerdings mit den Waffen, die unter den Fischen geschmuggelt werden.
Auf der Insel trifft er ein junges Mädchen, das schießen kann wie ein Gangster, weil ihre Familie von der Mafia ermordet wurde. Die beiden müssen sich erst besser kennenlernen. Dann verbringen sie einen sehr schönen Nachmittag, an dem sie die Zeit anhalten, trinken Soju und essen rohe Fischsuppe. Dann kommt, was kommen muss.
Davor sieht man harte Menschen beim Essen brüchige Verträge knüpfen, eine Styroporkiste voller abgeschnittener Finger, Tatort-Reinigung mit Feuerzeug und Benzinkanistern – am Ende geht es in dieser Todes-Sinfonie auch um Rache: Das Mädchen rächt den Tod dessen, den sie kaum kannte, dann geht sie zum Meer und schießt sich in den Kopf. Bis zum Letzten zeigt der Film in schönen Bildern schöne Orte und ist sehr konsequent – und über wie viele Filme kann man das schon sagen.
(to be continued)