77. Filmfestspiele von Venedig 2020
When? Why? Wow! |
||
Dieser starke Film der leisen Stimmungen, des Wartens, der Zwischentöne, dieser wunderschön photographierte Film könnte die Jury überzeugen: Mona Fastvolds The World to Come | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Jedes Jahr im September hier zehn Tage ins Kino gehen und darüber schreiben – das kann man ja fast nicht Arbeit nennen. Sagt sie. Ich würde das vielleicht doch Arbeit nennen, aber auch mit niemandem tauschen wollen.«
Michael Althen, FAS 12.09.2009»It’s a good thing, to remember, that our imagination can always be cultivated.«
aus: »The World to Come«
28 Grad und ziemlich luftfeucht ist es am Lido, und auch am späten Abend noch kann man im offenen Hemd über den Lido radeln. Fahrräder mieten hier viele, um sich auf dem Festival schnell und geschmeidig bewegen zu können.
Morgen soll der Regen kommen. Mal sehn...
+ + +
Es geht los wie ein Wannabe-Malick: Aus dem Off erzählt eine Frau in amerikanischem Englisch, das man gut verstehen können muss, um diesen Film überhaupt ganz zu würdigen, von harter Arbeit und routinierter Ehe, die Natur ist groß, der Mensch klein in diesem Amerika des Jahres 1856.
Das wird schnell anders und entfaltet einen guten Sog, ohne dass man das, was die Norwegerin (und Brady-Corbet-Drehbuchautorin/Ehefrau) Mona Fassvold zeigt, nicht schon gesehen hätte. So aber eben
nicht.
Abigail, eine Farmerin, erzählt in Form von Tagebucheinträgen. Sie lebt mit Mann und kleiner Tochter ein hartes einsames Leben. Dann stirbt die Tochter. »I have become my grief.«
Als eine neue Familie in die Gegend zieht, freundet sie sich schnell mit der neuen Nachbarin Tallie an: »You made my day.« – »How pleasant and uncommon it is to make someone’s day.« Es gibt Winterstürme und viel zu tun, aber die beiden verbringen immer mehr Zeit miteinander und bald ist klar: Es
ist mehr als Freundschaft.
+ + +
Fern von Herbstmilch und Schimmelreiter-Bildern des Bauernlebens zeigt Fassvold Routinen und die Komplizenschaft der Frauen gegen die hergebrachte Welt. Doch dann schlägt diese zurück. Sogar ein Mord steht im Raum. Dann mündet alles in das wunschlose Unglück eines verpassten Lebens.
Katherine Waterston als Abigail hat mich vor allem überrascht; dass Vanessa Kirby als Tellie erschütternd gut war, und wenn sie im Bild ist, allen die Schau stiehlt, ist zwar gar nicht mehr überraschend, aber immer wieder flamboyant anzusehen.
Der dritte Star des Films ist Casey Affleck als Abigails verschrobener, duldsam liebender und rührend toleranter Ehemann.
Dies ist ein starker Film der leisen Stimmungen, des Wartens, der Zwischentöne, wunderschön photographiert, auch präzise und mit viel Sinn für Natur und Sinneseindrücke – dabei fern von allem Naturalismus.
Man kann solche Filme auch darin unterscheiden, dass es den Typus gibt, in denen den verwöhnten Schauspielern von den Maskenbildnern immer Dreck unter die manikürten Fingernägel geschmiert wird, damit alles »lebensecht« aussieht – und andere, wo die Hände sauber bleiben, weil die große Illusion des Kinos nichts mit Nachäffen zu tun hat, sondern mit »bigger than life«.
The World to Come ist so ein Film.
Erstmals in diesem Jahr habe ich den Eindruck: Dieser Film könnte eine Jury mit Menschen wie Cate Blanchett, Veronika Franz, Christian Petzold überzeugen – eben weil er mehr ist als nur das überfällige Gegenstück zu Brokeback Mountain als inhaltistisches Statement für sexuelle Toleranz, und von einer Frau gedreht, was zumindest letzteres eine conditio sine qua non des diesjährigen Goldenen Löwen sein wird. Wetten dass?
Aber auch hier gilt der schöne – und letzte – Satz dieses Films: »It’s a good thing, to remember, that our imagination can always be cultivated.«
+ + +
Vor zehn Jahren gewann hier schon mal eine Frau den Goldenen Löwen. Sofia Coppola. Das hat dann auch wieder nicht allen gepasst, weil ihre Filme nicht so unmittelbar herzerwärmend sind, wie es die Mehrheiten gerne hätten, und weil Coppola einen großen Namen trägt. Neid spielte also auch eine Rolle.
Jetzt ist eine andere Coppola am Lido, Gia, Sofias Nichte. Mainstream heißt ihr zweiter Film
nach Palo Alto vor 7 Jahren. Schon der war erstaunlich gut – durchzogen vom Independent-Flair eines 90er Jahre »Generation X«-Films.
+ + +
Wenn Abel Ferrara „Old School“ ist, wie er selbst sagt, dann ist Gia Coppola „Young School“. Denn Mainstream gelingt die Unmöglichkeit, gleichzeitig ziemlich hip zu sein und aus der Netzwelt allerlei Gimmicks für die große Leinwand anzuschauen, und zugleich angenehm schwerelos und altmodisch zu sein.
Die Story kreist um ein junges einsames Mädchen namens Frankie, sie arbeitet in einer 08/15-Bar und hat eine ihr keineswegs schlecht stehende Narbe auf der linken Gesichtsseite, von dem Autounfall, bei dem ihr Vater starb. In der ersten Szene lernt sie einen hochbegabten Außenseiter kennen und hat, nachdem die beiden sich zusammentun mit einem gemeinsamen Social-Media-Projekt, auch Erfolg – bevor sie sich auf die wahren Werte besinnt.
Neben der bittersüßen Melancholie und dem präzis eingefangenen Lebensgefühl einer Jugend, der es an nichts mangelt, außer einem Sinn im Leben, ist die zweite Säule des Films seine überraschend explizite Medienkritik: Sehr direkt und vielleicht manchmal etwas plump sagt der Film: »Schmeißt Eure Handys weg, löscht die Social-Media-Accounts, die digitalen Medien machen euch zu Zombies« – Es liegt in der Natur dieser Botschaften, dass diese nur sehr direkt vermittelt werden können und subtil überhaupt nicht transportierbar sind, auch nicht durch Bilder in einem Kinofilm. Hätte man – was es übrigens gibt – Instagram- und Facebook-süchtige junge Menschen als Zombies gezeigt, wäre das auch nicht weiter subtil gewesen.
Gebrochen ist die Entschiedenheit durch viele gute Witze: Zum Beispiel über »Make-up Tutorials for Christians: Look fresh for Jesus«. Dies ist auch eine ätzende Talk-Show-Satire.
Mainstream ist ein formal sehr einfallsreicher, ungewöhnlicher, mit digitalen Elementen virtuos spielender, einfacher und direkter Film, der hervorragend gespielt ist und vor allem in seiner Atmosphäre und kleinen Momenten gefällt.
Die Hauptrolle spielt Maya Hawke, die Tochter von Uma Thurman und Ethan Hawke. Neben Link, dem von Alex Garfield gespielten verzogenen Genie, spielt Nat
Wolff, der schon bei Palo Alto dabei war, Frankies besten Freund. Man hofft die ganze Zeit, dass diese beiden ein Paar werden – und wenn sie am Ende den Kopf auf seine Schultern lehnt, dann ist es vielleicht auch so.
+ + +
»Climate change is not sexy«, sagt eine zynische Figur in Coppolas Film – da sind wir schon beim nächsten Thema: Die Medien und das Klima. Das hat Greta Thunberg zu ihrem Lebensprojekt gemacht. In Venedig zeigt man jetzt den ersten Dokumentarfilm über den schwedischen Klima-Star.
Dieser Film war von Anfang an dabei. Schon an einem der ersten Tage im August 2018, als Greta Thunberg ihren Schulstreik fürs Klima begann – die Kamera zeigt sie von fern, aber ein Mikrophon lauscht ganz nahe mit, als Greta sich mit einer älteren Dame unterhält, die ihr rät, doch besser in der Schule zu lernen, als zu streiken.
Kurz darauf sieht man ein anderes, besonders schönes Bild: Sie sitzt da wirklich allein auf den Straßen Stockholms, und winkt einem kleinen Mädchen zu, das
sie anguckt.
Diese beiden Momente der frühen Greta zeigen die Ambivalenz, die diesen guten, sehr interessanten Dokumentarfilm durchzieht: Einerseits lernt man hier eine Greta kennen, die man bisher nicht kannte: Nämlich ein fröhliches Kind, wirklich ein Mädchen von gerade 15 Jahren, das ihre Hunde liebt, das in freien Minuten gern tanzt, das sehr viel lacht und ausgelassen sein kann, und auch ihrer medialen Präsenz und der öffentlichen Greta gegenüber ironische Distanz wahrt.
Die andere
Seite ist die des Medienbewusstseins und der medialen Inszenierung. Denn auch wenn die beschriebene Seite Gretas ganz authentisch sein mag, so sind diese »privaten« Momente eben nicht privat, sondern immer von einer Kamera begleitet, von Greta und ihren Eltern für die globale Öffentlichkeit freigegeben. Das mag ohne böse Absicht geschehen sein – aber bestimmt nicht zufällig. Wir lernen gerade in diesem Film, wie intelligent Greta ist, wie wach und selbstbewusst. Sie selbst
beschreibt ihre Auftritte in der UNO und den anderen Orten sehr schnell als Rollenspiel, als »role-playing game« und als »fake«. Sie durchschaut die Mechanismen der Öffentlichkeit. Und das offenbar von Anfang an. Denn das Mikrophon und die Kamera waren schon an den ersten Tagen dabei.
Der Film macht von Anfang an klar, wo er steht. Deshalb kann man sich hier auch selber platzieren: Denn über die Grundhaltung von Greta der Welt gegenüber kann man durchaus streiten: Es ist ein bisschen einfach, wenn sich eine 15-jährige hinstellt und behauptet, dass alle anderen von nichts eine Ahnung haben, nur sie: Die Politiker zum Beispiel: »they don’t have a single clue.« Niemand versteht irgendwas. Später sagt sie: »Menschen sind Herdentiere und ich muss die Herde führen, ich muss die Herde warnen.« Da merkt man schon, dass sie mit Demokratie auch nicht viel am Hut hat.
+ + +
Manchmal fragt man sich in dem Film, ob das ganze Klima-Ding nicht auch eine Form der Rache Greta Thunbergs an der Welt ist, die sie als Außenseiterin gemobbt hat. Oder eine Form der Therapie.
»It’s time to rebel« steht auf einem Plakat und dazu sieht man ein Bild mit ihr und einer Krone – das genau zeigt auch die Ambivalenz des Themas.
Es gibt diesen einen Moment, an dem dann die Bösen oder die sogenannten Bösen der Welt aufmarschieren Trump, Bolsonaro, Putin und andere der üblichen Verdächtigen. Wie gesagt: dieser Film weiß immer ein bisschen zu genau, wo er steht, und was gut und richtig ist – das macht ihn nicht besser, sondern schlechter.
Auch schmieren die Filmemacher – oder waren es die Fernseh-Redakteure? – oft zu viel Kitschmusik unter die Bilder, die diese Bilder nicht nur nicht nötig
haben, sondern die ihnen schaden.
In jedem Fall wusste hier jemand von Anfang an: Das wird ein ganz großes Ding – und begann den Film. So gesehen ist die ganze Greta-Sache vielleicht doch wieder nicht ganz so unschuldig, wie man es gerne hätte.
+ + +
Bisher habe ich die polnische Regisseurin Malgorzata Szumowska gemocht. Man möchte wissen, was in sie gefahren ist, dass sie Never Gonna Snow Again gedreht hat, den polnischen Film im Wettbewerb.
Einen Film, der schon mit jenem Walzer von Schostakowitsch losgeht, den wir alle, die wir keine Musikexperten sind, vor 21 Jahren kennengelernt haben, als Kubricks Eyes Wide Shut in Venedig Premiere hatte, dem kann man in den seltensten Fällen vertrauen. Hier haut jemand auf die Zwölf fürs Arthouse-Publikum.
Im Film arbeitet ein Ukrainer als Masseur in einer Gated Community in den Suburbs von Warschau. Täglich geht er von Haus zu Haus, nimmt Massagetermine wahr, lächelt viel und redet wenig. Er hypnotisiert auch und tröstet die neurotischen Kunden durch Gespräche. Einmal tanzt er durch das Haus einer Kundin und da sieht man dann,
dass der Hauptdarsteller ein ausgebildeter Tänzer ist.
Das alles ist irgendwie auch eine schräge Komödie, in der es um die Absurditäten des menschlichen Lebens an sich und der polnischen Gesellschaft im Besonderen geht. Auch ein Film der versteckten, unterdrückten Leidenschaften, der Kuriositäten, der allerlei kaputten und nerdigen Typen. Das kann man aber nicht Kritik an den Reichen nennen, die Chabrol-Schärfe fehlt.
Sehr gleichmäßig plätschert der Film vor sich hin,
entwickelt überhaupt keinen Rhythmus – das Ganze führt auch nicht auf etwas zu, sondern wird zunehmend öder und langweiliger. Insgesamt eine bizarre und reichlich aseptische Atmosphäre. Irgendwas mit Tschernobyl und einer gestorbenen Mutter, gesellschaftskritisch gemeint vielleicht. Aber in diesem Film geht nichts voran, und man soll darüber lachen, dass die Klingeln der Häuser in absurden Klingeltönen verschiedene Klassiker variieren, von Mozarts »Kleiner Nachtmusik« bis
zu Wagners »Ritt der Nibelungen«.
+ + +
Der italienische Kritikerfreund Ugo Brusaprorco sagte es am Abend klarer und kürzer: »incredible shit.«
(to be continued)