77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Krieg. Und Frieden im Krieg |
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»Notturno«: ein klassischer Propagandafilm für Bildungsbürger? | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Hier am Lido ist es manchmal ..., dass einen die Filme mit einer Überdosis Realität auf den Boden der Tatsachen zurückholen, indem sie von Arbeitslosigkeit, sexueller Gewalt und Ausbeutung, Gefängnis und Krieg erzählen. Und mitunter scheint es fast so, als würde die Wahrnehmung in dieser Schleuse zwischen Traum und Wirklichkeit empfindlicher auf diese Themen und auf die Art, wie sie oft mutwillig forciert werden, reagieren.«
Michael Althen, SZ 11.09.1999»Das Schußfeld hat sich in einen Drehort verwandelt, das Schlachtfeld ist zu einem für Zivilisten zunächst gesperrten Filmset geworden.«
Paul Virilio
Der Krieg und das Kino sind enge Verwandte. Jeder Film ist ein kriegerischer Akt, und ein Ort der Kriegsführung. Das weiß man spätestens seit den 1980er Jahren und den Studien von Jean Baudrillard und Paul Virilio.
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Dieser Film fängt denkbar schlecht an. Mit einer Texttafel, auf der der »Fall des Osmanischen Empires« mit »den Kolonialherren« und dem »Aufstieg korrupter Regimes« in Verbindung gebracht wird.
Da möchte man im Kino gleich aufschreien und gegenfragen: Waren die Regimes vorher nicht korrupt? Regierten die Völker sich selber? Und: Wussten die Völker überhaupt, dass sie Völker waren? Waren die Menschen glücklicher ohne die Kolonialherren?
Offenbar möchte der italienische Regisseur Gianfranco Rosi einen Nullpunkt finden, einen Punkt, an dem alles gut war, und von dem aus das gegenwärtige Unglück seinen Anfang nahm. Einen solchen Nullpunkt gibt es aber nicht, und das Jahr 1918 ist ganz bestimmt kein Nullpunkt.
Wo ist ein solcher Nullpunkt? Wo ist der Punkt, an dem wir anfangen können oder dürfen? Wo ist der Punkt, an dem uns nicht irgendjemand erzählt, dass hier die Welt schon längst böse war? Wo ist der Nullpunkt, an
den wir zurücksollen? Im Jahr 700, als die Araber die spanische Halbinsel besetzt hatten? Als sie kulturelle Aneignung praktizierten – wie böse! – oder vielleicht im Jahr 500, als Alexandria römisch war? Oder lange vorher, als die Pharaonen herrschten?
Solche Fragen beantwortet Rosi nicht, denn er stellt sie gar nicht, sie scheinen in seinem Bewusstsein überhaupt nicht aufzutauchen. Stattdessen zeigt er alte wimmernde Frauen in einer Gefängniszelle, die irgendwo in
der Welt stehen könnte, die dann dort jammern: »My son feel your presence.«
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Geschichtssinn zu haben, heißt nicht nur einen Sinn für die Opfer zu haben, sondern auch dafür, wie sich Schicht über Schicht legt. Dafür, dass alle Menschen Opfer und Täter sind – wir auch!
Rosis Anfang ist ein klassisches Framing. Ohne den Kommentar würde man einfach erstmal hingucken. Und etwas anderes, etwas Eigenes, Unklares sehen. So aber guckt man hier, und sieht, was man sehen muss und sehen soll.
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Rosi zeigt Vignetten des Orients: Sein neuer Film nimmt viel stärker als seine früheren Werke Sacro GRA und Fuocoammare eine geopolitische Gesamtsituation in den Blick. Rosi schlägt Schneisen in den Dschungel dessen, was wir gewohnt sind, die »Nahost-Krise« zu nennen.
Seine Bilder zeigen einen Jäger im Delta von Euphrat und Tigris, wo im Hintergrund die Riesengasfackeln sprudelnder Ölquellen die Nacht zum Tag machen; Peschmerga-Kämpferinnen in Kurdistan; traumatisierte Kinder, die sich bei ihrer Therapeutin in einem Flüchtlingslager in Nordsyrien die unvorstellbaren Grausamkeiten der ISIS-Gotteskrieger von der Seele reden; verlassene Forts der Kolonialherren; einen Jungen, der seine sechs Geschwister als Fischer und Jäger ernährt; und eine Nervenheilanstalt im Irak, deren verwirrte Insassen für ein Bühnenstück Reden gestürzter Führer und verblasster Hoffnungsträger rezitieren. Zwischen diesen wiederkehrenden Szenen stehen viele kleine Wirklichkeit-Elemente und Momentaufnahmen: Ein Schimmel, der auf einer Kreuzung steht, ganz ruhig zwischen fahrenden Autos. Ein Liebespaar, Wasserpfeife rauchend auf einer Dachterrasse, das schüchtern miteinander spricht.
Dafür hat Rosi drei Jahre in der Region verbracht. An der Kamera sieht man, dass er vieles inszeniert, dass Rosi schon genau weiß, wo einer auftauchen wird, wo er dann abbiegen wird, der Kameraschwenk ist vorbereitet. Und all das zeigt, dass diese Szenen komplett gestellt sind. Man könnte das an vielen Einzelheiten sofort vorführen.
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Überhaupt die Kamera!
Dies ist so einer jener Filme mit einer statischen Kamera, bei der eine Einstellung erst geschnitten wird, wenn sämtliche Figuren wieder aus dem Bild heraus gelaufen sind, auch Passanten, die nur zufällig im Bild auftauchen. Das kann dauern. Deshalb weiß man auch schon vorher, dass in 20 oder auch erst 40 Sekunden geschnitten wird. Denn tatsächlich wird bei Rosi immer genau dann geschnitten, wenn die letzte Figur aus dem Bild heraus läuft. Das ist auf Dauer ganz schön dämlich.
Glaube bitte niemand, das sei undidaktisch. Im Gegenteil ist das ein sehr didaktisches Filmemachen, nur nicht mit Worten, aber mit Bildern. Die Didaktik von Notturno liegt in seinen Bildern. Die überaus kontrollierten, oft erkennbar nachgestellten oder inszenierten, nach Vorbildern klassischer Malerei aufgebauten Tableaus sind autoritär in ihrer behaupteten Reinheit und Alternativlosigkeit. Mitunter wirkt der Kontrast zwischen der Schönheit und dem
Stilwillen der Bilder und ihrem Gegenstand allerdings unangemessen.
Dem Zuschauer soll eine bestimmte Weisheit des Hinguckens eingebläut werden. Ein Hingucken, das nicht das Bild öffnet, um dem Zuschauer Freiheit zu geben, sondern das den Zuschauer sediert.
Der Mann hält eine Vorlesung. Das ist nicht weniger didaktisch, als die Filme von Ken Loach, nur anders. Zum Beispiel weniger humorvoll.
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Man könnte also sagen: Dies ist ein klassischer Propagandafilm für Bildungsbürger, das heißt, er benutzt alle Chiffren bis Kunstkinos virtuos, aber er sieht nichts, sucht nichts, deswegen findet er auch nichts Unerwartetes, sondern nur das, was er schon vorher wusste, dass er es finden würde. Er könnte uns aber an seiner Suchbewegung teilhaben lassen.
Er benutzt aber auch ganz schön viele Klischees, und macht es sich sehr einfach. Kinder! Tiere! Wahnsinnige – damit also die klassischen Wahrheitslieferanten jener Facette moderner Kunst, die sich in naive Unschuldszustände zurückwerfen will.
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Mitunter hätte es dem Film gutgetan, hätte der Regisseur ein bisschen mehr Kontext vermittelt, ein bisschen mehr Bezüge zu dem, was er zeigt, gegeben. Zum Beispiel, von wem genau jene Texte stammen, die auf der Irrenhausbühne gesprochen werden. Oder in welcher Region sich alles gerade befindet.
Rosis Position in diesem Film ist – und das kann wahrscheinlich für einen essayistischen Dokumentarfilm auch gar nicht anders sein – die eines DJ, der seine Bild-Elemente sampelt, und der diese Bild-Elemente in einen Rhythmus bringt, und der dadurch eine Erzählung konstruiert, die in den Elementen selber nicht drin liegt. Diesen Eindruck einer gelegentlichen Glättung des Erzählens und Glättung des Erzählten hätte der Regisseur vermeiden können, wenn er uns Zuschauer ermächtigt hätte, wenn er uns Zuschauern Kontext-Informationen gegeben hätte. Ich spreche hier nicht von viel, sondern von ganz wenigen Dingen, etwa der Information, wo eine Szene sich gerade ereignet, wo wir uns räumlich und zeitlich befinden, oder eine Information über die Namen der jeweiligen Protagonisten, die komplett namenlos bleiben – natürlich auch, weil sie Stand-Ins sind, Stellvertreter, die für etwas Generelles stehen. Oder die Orientierung, in welchem Teil Arabiens wir uns befinden – denn klarerweise erzählt dieser Film von jenen klassischen Maschrek-Staaten, die nordöstlich von Ägypten liegen, und nicht auf der arabischen Halbinsel und südöstlich der Türkei.
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Klingt alles ganz schön negativ. Ganz so ist es aber nicht gemeint. Das sind nur Einwände, die sich aufdrängen, zu denen aber Rosis Antworten legitim sind. Jeder ist ja nicht nur selbst dafür verantwortlich, was er sieht, sondern auch, was er aus einem Film macht.
Dieser Film ist auch sehr anregend. In seinen allerbesten Szenen ist dies ein Film, der einfach hinguckt. Und man kann sich gut in dem Film aufhalten. Weil Rosi sich Zeit nimmt, weil seine Bilder etwas zu zeigen haben,
beobachtet man sich beim Nachdenken über die Lage in Nahost.
Bei allem Schrecken bergen die Orte und Lebensverhältnisse auch eine seltsame Poesie. Mir ging es im Film mehrfach so, dass ich dachte: Da möchte ich sofort hin.
Das Ergebnis überzeugt als präzis beobachtete Momentaufnahme, die zum Weiterdenken und Vertiefen anregt. Analytisches Vermögen fehlt dem Film allerdings völlig.
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Mich haben die Buhrufe nach dem Film trotzdem überrascht. Nach einem Film zu buhen, ist nie besonders nett, in diesem Fall aber ist es vollkommen unangemessen. Selbst wenn man mit Rosi nichts anfangen kann, ist dies zumindest ein Film, der im Gegensatz zu manchen anderen sehr wenig Exploitation-Elemente hat.
Interessant ist dabei der Vergleich mit Rosis anderen Filmen: Fuocoammare war noch viel didaktischer. Bei dem Film hatte man das Gefühl, der Mann möchte wirklich jeden Aspekt der Flüchtlingssituation erklären, und alle paar Minuten musste dann auch ein neues politisches Statement gemacht werden, alle paar Minuten mussten auch schwarze Flüchtlinge in Not gezeigt werden.
Vielleicht weil der Film sich an die Italiener richtete und weder an die Flüchtlinge, noch an das Publikum der Welt. Es gab viele Probleme in diesem Fall – andererseits war dies eine sehr präzise Antwort auf eine sehr präzise Situation.
Interessant ist: Rosi bewegt sich von einem in seiner Heimatstadt Rom ziemlich genau umrissenen Bogen rund um Rom, über die ähnlich genau umrissene Insel Lampedusa, die aber weiter weg von Europa liegt. Und wo Rosis Blick schon über Europa
hinausgeht, hin zu einem geopolitischen Entwurf. Konsequenterweise müsste sie das nächste Mal die ganze Welt, mindestens einen ganzen Kontinent in den Blick nehmen.
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In der Haut der Jury, die das vergleichen muss, möchte man aber nicht stecken. Wie will man diese dokumentarische Arbeit mit einem Spielfilm vergleichen?
Hat der Film echte Chancen auf einen Goldenen Löwen? Eher nicht. Rosi hat schon einen Goldenen Löwen, und er hat einen Goldenen Bären, und er ist ein Mann. Das alles spricht dagegen, dass er diesen Preis bekommt. Aber sein Thema ist hip.
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Ein guter ergänzender oder in meinem Fall vorbereitender Kommentar zu diesem Film war Guerra e Pace von Martina Parenti und Massimo D’Anolfi – ein Dokumentarfilm über die Beziehung zwischen Menschen, Bildern und Krieg.
Strukturell ist alles diskutabel, und jedenfalls nicht ganz geglückt, aber die Einzelteile sind umso interessanter.
Im ersten Teil gibt es Bilder von der italienischen Libyen-Invasion 1911: »Der Krieg findet seinen Weg ins Kino«. Die Bilder sind toll, die Musik nicht, da soll etwas verfremdet werden und man darf sich als Zuschauer bloß nicht wohlfühlen. Was man hier aber auch sieht, nebenbei, ist, wie stark und schön Zelluloid ist.
Die nächste Frage ist hier: Warum vertraut der Film nicht seinen Bildern? Warum wird da auf die alten Bilder eine idiotische Tonspur gelegt, in der der heutige Libyen-Krieg analysiert wird? Allerdings ist diese Analyse ganz gut, nur sie hat nichts mit dem Material zu tun: Gaddafi sei der einzige gewesen, der mit den Stämmen des Landes umgehen konnte und sich arrangieren konnte. Das Ende Gaddafis sei auch das Ende der »legalen Fiktion Libyen« gewesen.
Der zweite Teil ist das erste Herzstück: Es zeigt den Krisenstab des italienischen Außenministeriums. Permanent flimmern Nachrichtenbilder auf allen Kanälen: Eine Attacke der Al-Shabaab-Miliz. Ein Italiener in Somalia in Not. Dann passiert gerade der Anschlag von Halle und man sieht die Bilder live im Netz. Und so fort.
Die Weltsicht dieser Menschen ist unvergleichbar.
Der dritte Teil, »Das Handwerk der Bilder«, erzählt von »Bilder-Soldaten« in Frankreich. Sie analysieren ein Bild von Velasquez, und der sehr gute Lehrer erklärt: Es gibt eine objektive und eine subjektive Analyse. Er sagt auch: Um etwas zu verstehen, muss man es analysieren.
Dann wird zum Beispiel erklärt, wie die blau-weiß-rote Trikolore beim französischen Präsidenten drapiert wird, wenn er eine Rede hält oder fotografiert wird. Dann ist die Flagge hinter ihm zu sehen – es sind spezielle Flaggen, bei denen die weiße Fläche kürzer ist als die blaue und die rote. Damit man das Rot überhaupt sieht. Sonst würde es nämlich zu weit unten hängen, mit Rot aber sehen die Bilder schöner aus.
Viele kluge Fragen, etwa zum Umgang mit schlimmen Bildern, werden gestellt.
Zugleich sehen wir Soldaten der Legion beim Drill. Zwischen regelmäßigen Liegestützen bekommen die Legionäre beigebracht, wie sie ihre Facebook-Seite gestalten sollen und was von der Legion auf Facebook stehen darf und was nicht.
Auch das ist Bilder-Politik.
(to be continued)