77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Keine Gewalt ist auch keine Lösung |
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Immer wieder bleibt es nur beim Bebildern der Ereignisse... | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. ... Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.«
Grundgesetz, Art 20»Wer lange genug mit dem Rücken zur Wand steht, kann irgendwann ohne Wand nicht mehr stehen. Das deutsche Kino stand lange Zeit mit dem Rücken zur Wand, hat sich vor dem Angriff der Gegenwart in die übrige Zeit geflüchtet und mit Vorliebe solche Geschichten erzählt, die sich schon vorab damit begnügten, ihre Existenz zu rechtfertigen. Die wenigsten Filme zeigten mehr als das, was sich für die Gremien schwarz auf weiß zu Papier bringen ließ. Daran hat sich zwar nichts geändert, aber manchmal gibt es doch etwas zu sehen, wovon das deutsche Kino bislang nicht zu träumen wagte. Es gibt Filme, die sich mehr für die Vergangenheit ihrer Regisseure als für die ihrer Förderer interessieren. Das spürt man sogar an den Stellen, wo das Interesse noch keine rechte Form findet.«
Michael Althen, SZ 30.10.1990
Es gibt eine offensichtliche Vorliebe des Filmfestivals von Venedig für die deutsche Aristokratie. Dies ist natürlich zuerst eine ironische Beobachtung, die ich nicht zu ernst nehmen möchte. Aber sie hat die Fakten für sich. Allemal ist es schon lustig: Julia von Heinz, Florian Henckel von Donnersmarck, und dann noch auf Empfehlung von Margarethe von Trotta.
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Und morgen die ganze Welt, mit dem von Heinz im diesjährigen Wettbewerb um den Goldenen Löwen vertreten ist, ist schon mal eine Klasse besser als Werk ohne Autor. Inhaltlich ist er interessanter, zudem ist der Film an keiner Stelle jemals so geschmacklos wie dies Werk ohne Autor an vielen Stellen war. Er ist mit Anstand und Engagement inszeniert, und Julia von Heinz will etwas über sich selbst, aber auch zur heutigen Generation der 20-Jährigen und Fridays-for-Future-Kids sagen und nicht zuletzt zu den politischen Verhältnissen in Deutschland und in Europa. Sie macht engagiertes Kino.
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Wenn es irgendein Beispiel für das gibt im deutschen Kino, was früher einmal »mittlerer Realismus« genannt wurde, dann ist es dieser Film. Wie aus dem richtigen Leben gegriffen, hat sie in einem Interview gesagt. Vielleicht ist es aber doch auch ein Film, der sogar direkt aus dem Leben von Julia von Heinz gegriffen ist.
Das erste Bild zeigt die Hauptfigur. Sie wirft ein Gewehr weg. Schon jetzt ist klar: diese Szene werden wir noch einmal sehen. Und wenn wir sie sehen, wissen wir, wie sie dorthin gekommen ist und wohin sie nun geht.
Luisa studiert Jura im ersten Semester. Eine höhere Tochter aus land-adeliger Familie. Es gibt viel Platz in dem großen alten Haus mit prachtvollem Garten, am Wochenende geht man auf die Jagd, trägt ein schilfleinenes Jankerl oder Barbour-Jacket und dazu Trachtenhut, das Haus birgt einen Golf-Schrank, einen Waffenschrank und viele alte Bücher.
Luisas Eltern sind freundlich, nachsichtig, tolerant, auch dann, als die Tochter in eine linke Kommune zieht: Antifa. Schließlich sind wir
doch alle gegen Faschismus, nicht wahr? Und auch der altväterlich-gönnerhafte Spruch: »Wer mit 20 nicht Kommunist ist, hat kein Herz...« darf hier nicht fehlen. Ihr Milieu tut das alles lächelnd ab: »Freie Liebe und so und abends Gruppendiskussion.« Luisa selbst ist nicht zum Lächeln zumute.
Von den ersten Minuten des Films an ist Luisa einerseits »die Neue« in der Antifa-Gruppe und im besetzten Haus, mit deren Augen man alles kennenlernt; andererseits gehört sie hier irgendwie doch nie ganz dazu. Denn die Verhältnisse, aus denen sie kommt, sind allzu gesichert – ihr zumindest kann nicht wirklich etwas passieren. Das merkt man, sobald es in diesem Film ans Eingemachte geht, sobald sich Luisa politisch radikalisiert.
Bei dieser ersten Demonstration, an der Luisa teilnimmt, kommt es gleich zu einem besonderen Moment: Das Werfen von Farbbeuteln und Torten eskaliert, als ein Neonazi an seinem kahlen Kopf getroffen wird. Er durchbricht die Polizeireihen und stürzt sich auf linke Demonstranten, beginnt sie zusammenzuschlagen, dann bemerkt Luisa, dass ihm sein Handy aus der Tasche gefallen ist. Sie greift es sich. Der Neonazi sieht das, rennt ihr hinterher, stürzt sich auf sie – und erst im letzten Moment, wenn er sich an ihr zu schaffen macht und sie entweder krankenhausreif schlägt oder sogar vergewaltigt, rettet sie ein anderer aus der Antifa-Gruppe. Es ist Alpha, der hübsche junge Mann, der ihr schon bei der ersten Begegnung bedeutungsvolle Blicke zuwarf.
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Am Anfang ist aber alles ganz harmlos. Im Jura-Seminar geht es um Artikel 20 des Grundgesetzes. Das darin festgeschriebene Recht auf Widerstand – »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen« – gehört zum Jura-Standardwissen; den Zuschauern wird es gleich dreimal sehr deutlich gesagt. Und dies ist ein wichtiger Punkt: Denn heute berufen sich Neonazis und Rechtsextremisten auf jenes Widerstandsrecht – gegen die demokratische Ordnung.
Überhaupt sind die Anspielungen auf die aktuelle Wirklichkeit in diesem Film mit Händen zu greifen. Und morgen die ganze Welt ist engagiertes, politisches Kino, das einerseits versucht, die gängige Moralisierung des Politischen möglichst zu vermeiden, andererseits vor direkten Verweisen auf aktuelle Geschehnisse und Akteure nicht zurückschreckt, auch wenn diese bestimmt nicht allen gefallen werden: So sieht man, wie Luisas Gruppe gegen eine politische Kundgebung demonstriert. Deren Plakate und Polit-Design ist absolut unverkennbar in Anspielung auf die AfD gestaltet. Sogar das Aussehen der Rednerin ist dem öffentlichen Aussehen einer Alice Weidel zum Verwechseln ähnlich.
Nicht weniger klar streitet dieser Film auch gegen die verlogene, abwiegelnde Formulierung vom Rechtspopulismus, und zeigt bewusst unmissverständlich, dass es sich um Extremisten handelt, und dass die Übergänge vom parlamentarischen Rechtsextremisten zur gewaltbereiten und gewalttätigen Neo-Nazi-Szene in Praxis fließend sind.
Die Zuschauer werden Zeugen dieser Vernetzung, weil sie hier gewissermaßen der Antifa bei der Arbeit zusehen. Weil der Film zeigt, was weniger bekannt ist: Was diese geschlossenen Gesellschaften der radikalen Linken eigentlich den ganzen Tag machen: Es beschränkt sich nämlich nicht auf Musik hören, gemeinsam abhängen, Fitness-Training für die nächste Demo, Plakate malen, Containern, und Klamotten für Flüchtlinge sammeln. Oft genug übernehmen die Antifa-Mitglieder jene tagtägliche Arbeit, die man sich von den Behörden erwarten würde: Dichte Beobachtung der Neonazi-Szene, Beobachtung jener vielen Übergänge zwischen offenem Faschismus und gewalttätigem Spießertum, die Erkundung jener Garagen, in denen Mitgliederlisten der Organisation lagern, aber auch all der Keller, in denen schon Sprengstoff und die Munition für den nächsten Terroranschlag bereitgehalten werden.
Nachdem die erste Hälfte des Films ein Panorama des Antifa-Alltags ausbreitet, spitzt die Regisseurin die Erzählung in der zweiten Hälfte auf die Entdeckung einer solchen Garage zu. Damit wird aus der Coming-of-Age-Milieustudie eine Polit-Thriller-Handlung, deren Grundierung die entscheidende Frage bildet: Wann ist gegen Gewalt auch Gegengewalt erlaubt, wo greift das Widerstandsrecht des normalen Bürgers?
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Die Stärken von Julia von Heinz' Film liegen in dieser Geschichte, und in einer Menge sprechender Details, sie liegen darin, mit der Stadt Mannheim einen facettenreichen, hochinteressanten Schauplatz gewählt zu haben, der vom deutschen Kino bislang fast komplett übersehen wurde.
Sie liegen auch in einer Schauspieler-Riege mit vielen unbekannten Gesichtern, die durchweg sehr gut spielen. Neben der Hauptdarstellerin Mala Emde als Luisa sind hier Noah Saavedra und Tonio
Schneider hervorzuheben. Außerdem der Österreicher Andreas Lust, der einen desillusionierten Veteranen der Antifa spielt.
Defizite gibt es allerdings im Ästhetischen: Nicht so sehr in der Inszenierung des Einzelnen, als im grundsätzlichen Fehlen einer durchgängigen Filmsprache und einer erkennbaren Regie-Haltung. Immer wieder bleibt es beim Bebildern der Ereignisse, und es gibt eher wenige Momente, in denen alles über nackten Realismus hinausreicht.
Was hat dieser Film eigentlich für eine Filmsprache? Hat er überhaupt eine? Oder ist dies letztendlich ein Bebildern der Ereignisse. Tatsächlich gibt es ziemlich wenige Momente, in denen der Film »bigger than life« wird. Andererseits ist dies auch nicht der gestaltete Realismus eines Ken Loach. Ganz klar ist, dass der Film formal gewisse Defizite aufweist. Mindestens ist er sehr unentschieden.
In manchen Momenten hat dieser Film die Qualitäten der besseren Werke von Fatih Akin: In der unmittelbaren Sinnlichkeit, der Bereitschaft, direkt in Emotionen hineinzugehen, Blut, Schweiß, Tränen und andere Körperflüssigkeiten nicht auszusparen, sondern zu zeigen. In der Fähigkeit, nicht zu glätten, sondern »gritty« zu sein. Auf eine gewisse Weise ist dieser Film ein Kino, das man, wenn man es nicht besser wüsste, als »Macho« skizzieren würde – was nebenbei gesagt nur die
Grenzen solcher Charakteristika aufzeigt.
Zugleich läuft der Film manchmal auch Gefahr, in ähnliche Fallen zu tappen: Dass nämlich die Emotion schon für die Sache selbst genommen wird, dass es in erster Linie um ein Ausstellen von Leidenschaft und Passion geht, es aber manchmal unklar werden kann, wofür ein Aktionismus agiert. Ein Pathos der Tat ist nicht etwas, was man der Antifa vorwerfen muss – der Regisseurin könnte man es an einigen Stellen vorhalten.
Zudem nehmen am Ende
nicht nur die Widersprüche der Figuren und ihrer Situation zu, sondern auch die des Films. Man glaubt zu spüren, dass die Regisseurin so hin und hergerissen war, wie ihre Hauptfigur, man glaubt zu erkennen, dass ein anderes Ende möglich gewesen wäre: Vielleicht weniger unentschieden, vielleicht mit dem Mut, mit den moralischen Konventionen des deutschen Films und der ihn stützenden Fernseh-Redaktionen zu brechen.
Ausgeglichen wird die Unentschiedenheit, die diesen Film durchzieht, nicht allein durch die hochsympathische Haltung, sondern vor allem durch den Mut der Regisseurin, inhaltlich, moralisch wie politisch dahin zu gehen, wo es weh tut: zu den Debatten um Gewalt und der Frage, wann diese gerechtfertigt sein könnte.
Zwar zeigt der Film eine Hauptfigur, die der Gewalt – so scheint es am Ende – abschwört. Aber einiges macht dieser Film angesichts der alltäglichen Gewalt der Rechtsextremisten sehr klar: Keine Gewalt ist auch keine Lösung.
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Es ist halt gerade die Botschaft des Films, der offen lässt, für welche Seite Luisa sich entscheidet. Ich mag es nicht, auf einer billigen Eiapopeialösung zu landen, à la: Oh ja, wir sind Deutsche, also immer gegen Gewalt, selbst wenn Nazis uns verdreschen.
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Die Neonazis sind im Film alle dumm, und haben gar kein Profil. Primitive Schläger mit Glatzen.
In Venedig hörte ich am Nebentisch einen Satz, der mir auch schon selber eingefallen war: »Ein bisschen ist der Film wie 'Die fetten Jahre sind vorbei'.« Ich glaube das nicht. Denn jener war viel mehr an den Haaren herbeigezogen, viel weniger aus dem Leben gegriffen. Und hatte Zuschauerzahlen, von denen man 16 Jahre später nur träumen kann.
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Partys gibt es in Venedig ja keine – wg. Corona. Aber immerhin gesetztes Abendessen, mit einer sehr begrenzten Anzahl von Gästen. Ich war nicht eingeladen. Ist auch in Ordnung, denn ich gucke ja auch Filme, schreibe, bezahle mein Essen gern selbst – und ein bisschen Distanz zwischen Filmemachern und Kritik schadet nicht.
Außerdem hat die »Bunte« das Essen co-gesponsort – so viel Antifa ist dann wieder auch nicht.
(to be continued)