77. Filmfestspiele von Venedig 2020
»Moral: Traue keinem!« |
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Ein Film, in dem man das Staunen wieder lernt. Und das Fürchten: Nuevo Orden | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Wer ins Kino geht, tut das in der Regel, um das Staunen zu lernen. Und hinterher tritt man wieder hinaus, den Kopf noch in den Wolken, und merkt, wie die Wirklichkeit einen wieder einholt. Wie das Staunen langsam abebbt und die Ernüchterung mit schnellen Schritten einsetzt. Unter dem wintergrauen Himmel in Berlin geht das etwas zügiger, unter dem azurblauen Himmel von Cannes etwas langsamer. Nur in Venedig ist das anders.
Ein Blick vom Lido hinüber zur Stadt genügt im Grunde schon, um aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen. Die Silhouette dieser gegen jede Vernunft auf Holzpfählen in den Schlamm getriebenen und gegen jede Wahrscheinlichkeit unverändert erhaltenen Stadt ist ein wirksames Gegengift gegen jede Art von Ernüchterung und Realitätsempfinden. Die Schwerkraft scheint hier außer Kraft gesetzt, und man glaubt sich ständig auf dem schwankenden Boden der Phantasie. Wie im Kino.«
Michael Althen, SZ 11.09.1999
Manchmal gibt es das. Dass ein Wettbewerb läuft und läuft und läuft, und schon ein paar Günstlinge der Kritiker, Einkäufer und des Publikums entwickelt, aber keinen richtigen Favoriten herausbildet, und man sich so ab der Mitte des Festivals, wenn das Feld sich lichtet und erste Zwischenbilanzen gezogen werden, von Tag zu Tag intensiver fragt, wer denn hier eigentlich gewinnen kann – denn einer muss ja gewinnen – und dann, ja dann wird plötzlich ganz am Ende des
Wettbewerbs ein Film gezeigt, der das Zeug hat, das Feld von hinten aufzurollen und an allen vorbeizuziehen. So wie es 1999 in Cannes gewesen ist, glaubt man denen, die dabei gewesen sind, als am Freitag vor der Preisverleihung plötzlich der Film eines vollkommen unbekannten belgischen Brüderpaars gezeigt wurde: Rosetta. Und die Jury unter David Cronenberg gab den
Dardennes die Goldene Palme.
So könnte es auch diesmal laufen, mit dem mexikanischen Film Nuevo orden. Auch wenn man zugeben muss, dass sein Regisseur Michel Franco kein ganz Unbekannter ist.
Aber dies ist ein Film, in dem man das Staunen wieder lernt. Und das Fürchten.
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Der Mexikaner Michel Franco ist einer der unbeliebtesten Regisseure der Welt. Im Grunde mag ihn niemand. Wenn man einen Lateinamerikaner auf Michel Franco anspricht, dann wird man ganz sicher erstmal ein Augenrollen ernten und dann einen prüfenden Blick, ob man selbst vielleicht mit Franco befreundet ist. Wenn das Gegenüber weiß, dass das nicht der Fall ist, wird gnadenlos gelästert. Das kann daran liegen, dass er einfach ein blondes Rich Kid ist. Es kann daran liegen, dass er zu
erfolgreich ist. Es liegt wohl auch daran, dass man ihn für korrupt hält und seine Filme für menschenverachtend. Vor allem am letzten Vorwurf ist etwas dran.
Aber es hat noch niemand erklären können, dass unangenehme Menschen immer schlechte Filme machen.
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Dem Kollegen Olaf ging es übrigens genauso. Er erzählte mir gestern, er sei eigentlich nur in Francos neuen Film gegangen, um zu verstehen, »warum den Mann eigentlich alle hassen.« Er hatte vorher noch nie einen Film Francos gesehen. Jetzt will er alle sehen.
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Nuevo orden ist ein Film über unangenehme Menschen. Oder vielleicht auch über das Unangenehme im Menschen. Es gibt nur ein paar, vielleicht eine Handvoll Figuren von den bestimmt 200 Leuten, die zumindest mal kurz in diesem Film auftauchen, die sympathisch sind. Was Franco wohl für eine Kindheit gehabt hat?
Wahrscheinlich so eine wie Marianne, die so etwas wie die Hauptfigur des
Films ist. Ein Mädchen aus stinkreichem Haus, wohlerzogen und gutmütig, gar nicht so weltfremd, aber eben auch verdorben von Eltern, die eiskalt und reaktionär sind und sich trotzdem noch Illusionen machen.
Leider kann ich von Marianne aber jetzt nicht weiter erzählen, es fehlt einfach die Zeit, denn ich habe den Film erst an diesem Freitagabend gesehen, darum muss ich alle Leser auf morgen früh vertrösten.
Nur soviel sei noch gesagt: Nuevo orden ist ein mexikanischer Film ohne die Cuteness, die mexikanische Filme sonst haben.
Kurz, hart, zynisch – ohne alle Hoffnung. Wenn man das Genre beschreiben will, dann wohl am ehesten: Paranoia-Polit-Thriller. Franco zeigt Mexiko als die Klassengesellschaft, die es ist. Ein Land, das einen Schritt über den Abgrund hinaus ist. Moral: Traue
keinem.
Und dabei ist dieses wahnwitzige Szenario kühl, souverän, berechnend inszeniert. Ohne Überraschungen, ohne Deus ex Machina, aber in einer seltsamen Schönheit, die in der Unverfrorenheit und handwerklichen Souveränität des Regisseurs liegt: Ohne Frage ist dies »a film to be seen« und »a director to be watched«. Ich glaube, er müsste einen Preis gewinnen, vielleicht für Beste Regie, aber bei dieser Jury ist damit eher nicht zu rechnen. Obwohl Venedig in den letzten
Jahren ein gutes Pflaster für Lateinamerikaner war.
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»And you are? Ah you are a director? Oh that’s amazing!« – es gibt so viele schöne kleine Gesprächsfetzen wie diesen, die man hier auffängt im Laufe des Festivals. Oder man habe hier mehr Alkohol an den Händen, als im Bauch vom schwedischen Nebentisch in der Bar Maleti, wo es nach den anstrengenden ersten Vielguckertagen an den letzten Abenden wieder voller wurde.
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In Cannes muss man wirklich alle Wettbewerbsfilme sehen und dort gelingt mir das auch. Vielleicht sind es am Ende einer oder zwei, die aus irgendeinem Grund versäumt wurden, vielleicht weil ich nicht hineingekommen bin oder vielleicht auch mal in einem Fall, weil so schlecht darüber gesprochen wurde.
In Venedig laufen etwa 30 Filme »Im Wettbewerb außer Konkurrenz« plus 21 in der „Orizzonti“-Sektion, plus je ein Dutzend in den parallelen Sektionen
„Settemana“ und „Giornate“ plus diesmal einzelne Filme über die Filmgeschichte, die sonst eine eigene Sektion haben. Von alldem sehe ich auch so einiges, lasse dann eher im Wettbewerb etwas weg. Bisher habe ich nur 12 Filme gesehen, einen sehe ich noch, fünf fehlen mir also. Die beiden Hauptpreise kann ich aber für den Fall der Fälle morgen nachholen – es wäre nicht das erste Mal.
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Derweil werden am Lido schon die ersten Preise verliehen. Den Anfang machte mal wieder der Preis der unabhängigen Filmkritik, der „Bisato d’Oro“, der diesmal zum 14. Mal verliehen wurde. Der Bisato ist die Spezialität der Gegend, ein Aal, den es nur in der Lagune von Venedig gibt. Dieser Bisato ist hoffentlich keine ähnlich tote Seitenlinie der Evolution, wie die Neandertaler bei den Menschen – das hoffe ich auch deswegen, weil ich selber ja Teil der Jury des Bisato bin. Schon seit vielen Jahren wird das Ganze vor allem von Ugo Brusaporco aus Verona veranstaltet, der dort auch ein Festival leitet. Lange Jahre war Josef Schnelle der Präsident der Jury – jetzt liest er diese Blogs und sei herzlich gegrüßt.
Der „Bisato“ für die beste Schauspielerin ging an Mala Emde für ihre Rolle der Luisa in Und morgen die ganze Welt von Julia von Heinz.
Beste Regie bekam Yulene Olaizola, die Regisseurin des anderen mexikanischen Films Tragic Jungle. Darin geht es um einen Trip, eine psychedelische Reise einer Gruppe von Personen durch den Dschungel an der Grenze zwischen Mexiko und Belize, in den 20er Jahren. Unter ihnen ist eine junge Frau. Aber diese junge Frau namens Agnes, sie könnte auch ein Geist sein, eine Figur aus der Maya-Mythologie namens Xtabal, der hier die Einwohner angeblich immer noch ab und zu begegnen, sagen sie. Insofern wissen wir nicht, ob die Figur, die wir auf der Leinwand sehen, überhaupt real ist, oder eine Fantasie, eine Projektion der jeweiligen Beteiligten. Unter dieser Prämisse ist dies ein sehr poetischer Film und ein sehr sinnlicher.
Bestes Drehbuch ging an Careless Crime vom Iraner Shahram Mokri. Iranische Filme sind immer wieder in der Lage, die Wirklichkeit, die oft brutal und traurig ist, zu poetisieren, ohne sie schön zu färben, es gelingt ihnen, im Schrecken Schönheit zu finden. Gleichzeitig schaut man sehr genau hin, denn diese Regisseure führen ein Filmemachen vor, in dem man sehr geschickt die Zensur umgeht und trotzdem eine ganze Menge Wahrheit über das eigene Land
erzählt.
Careless Crime ist eines der Highlights des diesjährigen Festivals und des ganzen Filmjahrs. Inspiriert durch das tatsächliche Ereignis eines Brandanschlags auf das Kino in Abadan während der iranischen Revolution, verbindet dieser Film Vergangenheit, Gegenwart und Film im Film zu einem verwirrenden Labyrinth, das gleichzeitig bezwingend und beunruhigend ist. Das Kino selbst ist hier magisch – ein unglaublicher Ritt, und ein
ehrgeiziges furchtloses Meisterwerk, das es verdient entdeckt zu werden.
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In den letzten Tagen wurde ich schon von Russen und Japanern interviewt, sowohl wie ich ihre eigenen Filme wahrnehme, also Konschalowski bzw. Kurosawa, aber auch klarerweise, wie ich das Festival insgesamt fand.
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Es gibt ja sehr viele Preise in Venedig: Den Preis der offiziellen internationalen Filmkritikerorganisation, der Fipresci. Es gibt aber kurioserweise auch neben Preisen, die es in ziemlich vielen Orten gibt, wie den Preis der Ökumenischen Jury, das Gegenteil dieses Preises – nämlich den sogenannten »Premio Brian«, ein Preis, den ich immer besonders lustig und schön fand, benannt nach der Hauptfigur aus dem Monty Python Film Das Leben des Brian – das ist der Preis für den atheistischsten Film des Programms. Ich bin sehr gespannt, wer den in diesem Jahr bekommen wird.
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Es ist natürlich immer schwer zu sagen, was so eine Jury entscheidet. Dort sitzen kluge Köpfe zusammen, oder zumindest Leute, die feste Bestandteile der Filmbranche sind, gut vernetzt, die viele Filme sehen. Jurymitglied in diesem Jahr ist unter anderem der deutsche Regisseur Christian Petzold (Die innere Sicherheit), die österreichische Filmemacherin Veronika Franz, die sowohl eigene
Filme macht, als auch mit ihrem Ehemann Ulrich Seidl zusammenarbeitet. Jury-Präsidentin ist Cate Blanchett – von der kann man sich nicht vorstellen, dass sie sich von vielen anderen etwas sagen lässt. Gleichzeitig stellt man sich Blanchett natürlich als fast schon Weise, in jedem Fall als sehr tolerante gute Zuhörerin vor – ich glaube unter uns nicht, dass diese Vorstellung auch nur zehn Prozent mit der Wirklichkeit zu tun hat, ich denke nur, Blanchett ist ein harter Profi
und weiß, was sie tut, und kommt im Gegensatz zu anderen bestimmt mit einer Agenda hierher.
Was man von ihr dieser Tage hört, ist: Sie geht in viele Filme. Sie lässt schöne Abendessen sausen und schaut sich lieber irgendwas an, was sie gar nicht sehen muss, aber will.
Respekt also!
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Als ich heute zu Violeta, einer argentinischen Freundin, meinte, ich hätte Respekt vor Michel Franco, erntete ich besagte (s.o.) hochgezogenen Augenbrauen. Ich redete mich dann damit raus, dass ich sagte: »Respekt ist das, was auch der Pate der Cosa Nostra bekommt«.
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Respekt bekommt Cate Blanchett also auf alle Fälle, vielleicht die Autorität einer am Ende sehr respektierten Lehrerin. Aber man kann sich natürlich täuschen. Allemal ist Cate Blanchett, das hat sie bereits in ihrem Eröffnungsstatement, wo sie vehement für Diversity und Gender-Neutralität plädiert hat, bewiesen, eine Frau, die politisch denkt, und das bedeutet auch in politischen Symbolen und politischen Gesten. Deswegen ist meine persönliche Vermutung, dass in jedem Fall eine
Frau den Hauptpreis als Regisseurin für den besten Film erhalten wird. Denn immerhin gibt es auch acht Filme von RegisseurInnen in diesem Wettbewerb von 18 Filmen.
Insofern gibt es keinen Mangel an Auswahl.
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Schade ist natürlich vor diesem Hintergrund umso mehr, dass es manche geben wird, die einem Preis für eine Frau in jedem Fall unterstellen werden, dass es ein politischer Preis ist und keiner für künstlerische Fähigkeiten. Aber da kann man dann auch nichts machen.
Ich habe aber ein bisschen Angst, dass der Preis allzu offensichtlich nach anderen politischen Kriterien vergeben wird – also z.B. danach, welches Land, welche Region unbedingt einen Preis »braucht«. Oder
danach, wo vermeintlich wichtige Themen auf die Leinwand gebracht oder angesprochen werden.
Alles Bullshit.
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Es liegt lange zurück, aber das zweite Mal, dass ich von den Filmfestspielen von Cannes berichtete, war für mich eine nachhaltig schockierende Erfahrung: Mit Quentin Tarantino gab es einen Jury-Präsidenten, den man schätzte und bei dem es keine Frage ist, dass er viel von Film und Filmgeschichte und den Filmkulturen der Welt versteht. Und es gab unglaublich viele tolle Filme, die ästhetisch die Grenzen des Mediums ausloteten, unter anderem einen Film von Apichatpong
Weerasethakul, einen von Wong Kar-Wai, einen von Hirokazu Kore-eda, einen von Zhang Yimou, einen von Park Chan Wook, dazu alles mögliche andere, was spannend und gut war. Und wer hat dann den Preis bekommen? Michael Moore für seinen komplett durchschnittlichen und absolut inhaltistischen Film Fahrenheit 9/11 – einfach nur, weil der Golfkrieg und der „Krieg gegen den
Terror“ (oder für den Terror, wie schon damals absehbar war) auf seinem Höhepunkt war, und weil 2004 das Jahr war, in dem George W. Bush zur Wiederwahl antrat. Es war todtraurig! Bush hat natürlich auch die Wahl gewonnen, weil Wähler nicht auf Filmregisseure oder Festivaljurys hören, wem sie die Stimme geben sollen. Das begreifen aber Jurys nicht, sondern fühlen sich, wie Heiko Maas sich wahrscheinlich als deutscher Außenminister fühlt.
Daraus kann man lernen: Die auf dem Papier beste
Jury kann schlechter oder sogar hundsmiserable Entscheidungen treffen. Und umgekehrt – denn in diesem Jahr ist das Glas ja immer halbvoll – kann eine auf dem Papier schlechte Jury auch zu tollen Entscheidungen kommen.
(to be continued)