77. Filmfestspiele von Venedig 2020
Emotionaler Materialismus und andere Leidenschaften |
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Sogar einen »Corona-Film« gab es im Programm: »The Best is yet to come« | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Emotions don’t make the news. Facts do. ... Sympathy will only impair our judgement.«
aus: The Best Is Yet to Come»Natürlich ist es immer ein wenig mutwillig, einen so kleinen, so zufälligen Ausschnitt aus der Weltkinoproduktion fürs Ganze zu nehmen, aber die großen Festivals sind nun mal die einzige Gelegenheit, so etwas wie einen Überblick zu gewinnen. Dass dies gleichzeitig einen Blick aus großer Höhe bedeutet, der eine konzentrierte Annäherung gar nicht zulässt, spricht nicht gegen das Verfahren, auf diese Weise zu einem Gesamturteil zu kommen. Denn gerade in der Häufung wird sichtbar, was im einzelnen Werk sonst verborgen bleibt: die Orientierungslosigkeit des Weltkinos, wovon es überhaupt erzählen soll, und die Ratlosigkeit, wie das gegebenenfalls zu bewerkstelligen wäre.«
Michael Althen, SZ 11.09.2000
Vor zehn Tagen wurde die Mostra eröffnet – das ist gleichzeitig eine Ewigkeit her, und einen Wimpernschlag. Jetzt hat das Finale des Festivals begonnen.
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The Best Is Yet to Come – das ist doch immerhin mal eine Ankündigung. So heißt einer der besten Filme der Nebenreihe bei den Filmfestspielen von Venedig. Der Film stammt vom Chinesen Wang Jing, ist das Regiedebüt des Assistenten von Jia Zhang-ke, und erzählt, inspiriert von wahren Geschehnissen, von einem jungen Studenten, der im Jahr 2003 in Peking Journalist werden will.
Im seinem Studentenwohnheim hängt ein Poster des »Turmbau zu Babel« von Brueghel. Das ist bestimmt nicht zufällig erkennbar. Ein Kommentar auf Chinas Boom? In den ersten Minuten dieses hervorragend gemachten, mit fließender Kamera, ansonsten aber in neorealistischer Nüchternheit und voller Interesse an Details und Alltagsgenauigkeit erzählten Films fragt man sich: Warum läuft er nicht im Wettbewerb? Ungefähr ab der Hälfte wird man verstehen, warum. Denn einer starken, wenn auch etwas konventionellen, fast schon Hollywood-Dramaturgie folgenden Eröffnung, folgt ein sehr schwacher holpriger, einfach schlecht erzählter Mittelteil, und dann wieder ein starkes, im Inhaltlichen überraschendes, formal aber uninteressantes und etwas zu moralisierendes letztes Drittel.
Dies ist zuallererst einmal ein Hohelied auf den idealistischen Journalismus im durchaus amerikanischen Verständnis: Investigativ, fact-checking, neutral, team-orientiert. Auf den Journalismus vor Internet und sozialen Netzwerken. Die Hauptfigur ist ein Praktikant bei der wichtigsten Zeitung von Peking. Seine Vorgesetzten erklären ihm zum Beispiel: »Emotions don’t make the news. Facts do.« Oder: »Sympathy will only impair our judgement.«
Das könnten sich die
allermeisten Journalisten der Gegenwart einmal zu Herzen nehmen.
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Wir sehen die Hauptfigur dann undercover ein Minen-Desaster untersuchen – und hier gibt es eine lustige Anekdote: Der Produzent Jia Zhang-ke, der 2006 hier den Goldenen Löwen für Still Life gewann, spielt nämlich einen schmierigen Vertreter der Minengesellschaft, die den Arbeitern gegen eine niedrige Abfindung eine Unterschrift abnötigen will, mit der sie auf alle weiteren Ansprüche verzichten.
Seine nächste Story ist illegaler Bluthandel. Dumm nur, dass er da zum einen Mitleid mit den Händlern bekommt, die nur aus schierer Not zu diesen illegalen Geschäften gezwungen werden. Zum anderen kommt er der »Hepatitis B«-Diskriminierung und den Verwerfungen des rigorosen Gesundheitssystems in China auf die Spur. Die machen es den mit Hepatitis B infizierten Trägern des Virus unmöglich, Arbeit zu finden.
Stimmt nun der Satz »The law can never be wrong.« oder die Urteile der Kritiker des staatlichen Gesundheitssystems?
Mit solchen Gedanken sitzt man im Kino, und hört plötzlich Sätze wie »People tend to be overly cautious about infectious diseases.« »They do not listen to the facts and overreact.« »Their position 'better safe than sorry' does harm many people.« – zu denen es im Kino dann Szenenapplaus gibt. Denn die Ähnlichkeiten zur derzeitigen Corona-Wirklichkeit und zu den – overly cautious? – Pandemie-Maßnahmen liegen auf der Hand.
So gelingt es Festivaldirektor Alberto Barbera sogar noch, einen Corona-Spielfilm im Programm zu haben.
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Die wahre Geschichte, die alldem zugrunde liegt, ist übrigens die des Journalisten Han Fudong, über den ich im Netz nichts gefunden habe.
The Best ist Yet to Come ist ein interessanter, insgesamt aber zu unausgewogener Film, der ein paar seiner Einfälle und im Prinzip auch sein Thema nicht konsequent genug verfolgt.
Stammte er aus den 1950er Jahren, wäre dies ein Paradebeispiel für Sozialistischen Realismus: Denn der Film zeigt, wie ein engagierter Bürger die Gesellschaft ein klein wenig verbessert, ohne sich gegen diese zu stellen. Und dass es jedem gelingen kann.
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Sicherlich auffällig ist die Qualität der beiden wichtigen Nebensektionen »Orizzonti« und »Giornate«. Auch dort liefen in einem ausgezeichneten wie außerordentlichen Festivaljahr hervorragende Filme. Über die werden wir an den nächsten Tagen an dieser Stelle noch eine Menge berichten.
Heute aber muss es erstmal um die Goldenen Löwen gehen, die heute Abend vergeben werden, und um den Wettbewerb.
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Ob auch hier das Beste noch kommt, durch eine kluge, von ästhetischen Argumenten dominierte Preisverleihung, das lassen wir mal dahingestellt. Allzu optimistisch bin ich aus leidiger Erfahrung nicht.
Eher könnte man sich erinnern, dass im Casino des Lido, wo heute das Festivalzentrum steht, früher tatsächlich um hohe Summen Geld gespielt wurde. Seit langem lohnt sich der Spielbetrieb nicht mehr, mit anderem wird mehr verdient. Aber die Geister der Roulette- und Kartentische, die Schatten des Glücksspiels sind hier noch spürbar, und vielleicht liegt der Unterschied zur Preisvergabe nur darin, dass im Film(Festival)betrieb die Banditen zweiarmig sind.
Hoffen wir also, dass die Würfel glücklich fallen!
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Es gab diesmal nicht so viele Filme, bei denen man sagen konnte: Die sind outstanding, so hervorragend, dass ihr Niveau keine Frage ist, dass also Debatten über sie per se auf hohem Niveau sind. Es gab keine Filme, die auf einem hohen Niveau so provozierten, dass man sich wirklich produktiv darüber streiten könnte – wie letztes Jahr Joker, den ich und andere richtig doof fanden, der aber wiederum für andere ein Meisterwerk ist.
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Für den Boulevard war die Abwesenheit der US-Stars in diesem Jahr schlecht, für unsereins und die übrigen Besucher eher gut. Es geht wieder um das, worum es eigentlich immer gehen sollte: Um die Filme selbst und um Kunst.
Die Dichte der Firma, die hat ein bisschen nachgelassen, einige Gäste sind schon abgereist.
Wer nicht über Filme schreiben will oder darf, dem fehlen die Aufreger. Wirklich aufregen kann nicht mal das Frauenthema. Offenkundig ist, dass von dem in den letzten Jahren verstärkt beklagten Fehlen weiblichen Filmemachens im Wettbewerb 2020 kaum eine Rede sein kann: Fast die Hälfte der 18 Wettbewerbs-Filme stammen von Regisseurinnen. Und zwar nicht, wie Mostra-Direktor Alberto Barbera betonte, »weil sie Frauen sind. Sondern weil die Filme gut sind«.
In den anderen
Sektionen setzt sich dieser Trend nur zum Teil fort: 23 Männer gegenüber 3 Frauen lautet das Verhältnis der »Offiziellen Selektion außer Konkurrenz«, 15-4 in den »Orizzonti«.
Hier böse Absichten zu unterstellen, wäre nur borniert. Alberto Barbera, der Direktor, handelte sich ja nur Ärger ein, wenn er keine Frauen in den Wettbewerb einlädt. Solche Leute sind am Ende Politiker und ich glaube, dass Barbera, wenn er überhaupt an so etwas wie Quote denkt, dann eher auf noch ein paar Frauen drängt, und dann billigend in Kauf nimmt, dass die Filme nichts taugen. Dass es jetzt so viele sind, kann sich nächstes Jahr schon wieder ändern.
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Man hat ja in den letzten Jahrzehnten ein bisschen vergessen, dass Film in erster Linie eine Kunst ist. Er wird oft genug nur als Ware gesehen. Aber keiner würde auf den Gedanken kommen, bei der Kunstbiennale in Venedig die Werke als Ware zu sehen, obwohl da natürlich auch viele Millionen kursieren, wenn diese Werke dann gehandelt werden. Aber man hat mehr Lust und Neugier an Sperrigem, Ungewöhnlichem, an etwas, das unsere Verhältnisse auf allen Ebenen – ästhetisch, moralisch, politisch – in Frage stellt und kritisiert. Im Film hat man ein bisschen zu wenig Lust dazu. Das liegt auch daran, dass Film gerne als Massenkunst angesehen und abgetan werden.
So lenkt dieser ganze Starrummel ein bisschen von dem ab, worauf es wirklich ankommt, und man kann hoffen, dass sich das wieder verändert. Auf der anderen Seite muss man ehrlich sagen: Seit den Anfängen des Kinos, schon wenn wir an Mary Pickford, Louise Brooks, Marlene Dietrich und solche Berühmtheiten aus der Frühzeit denken, gab es schon große Stars, die das Kino vorangebracht haben und unter die Massen gebracht haben, die mit ihrer Popularität auch sperrige und sogenannte kleinere
Filme, die sonst keine Aufmerksamkeit gehabt hätten, ins Licht der Öffentlichkeit bringen.
Insofern bedingt eines das andere. Man hatte vielleicht nur zuletzt den Eindruck gehabt, dass es gar nicht mehr um die Filme geht, sondern darum, welche Kleidungsstücke, welches Parfüm und auch welche Umwelt- und Menschenrechtsorganisation den jeweiligen Star schmückt – und das ist natürlich die falsche Reihenfolge.
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Im Jahre des Corona-Festivals ist es unsicherer denn je, wer denn wohl heute Abend den Goldenen Löwen gewinnen wird. Nur eines scheint sicher: Die britische Darstellerin Vanessa Kirby (bekannt aus der Serie „The Crown“) gilt bei nahezu allen als Favoritin auf den Preis der Besten Schauspielerin. Gleich in zwei Filmen spielt sie die Hauptrollen: In The World to Come von der in den USA lebenden Norwegerin Mona Fassvold spielt sie die eine Hälfte eines Frauenliebespaars im Wilden Westen des Jahres 1856. Und beim Ungarn Kornel Mundruczu ist sie die „Frau in Stücken“ (Woman into Pieces), eine Frau, die bei der Geburt ihr Kind verliert, und mit diesem Verlust nicht fertig wird.
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Aber sonst? Die Frage ist immer interessant, wie so eine Jury eigentlich arbeitet und worauf es ankommt; allerdings nimmt uns das vielleicht zu viel Zeit.
Für eine Juryentscheidung ist die innere Dynamik der Jury entscheidend. Es bleibt aber fast immer reine Spekulation, wie die Leute sich verstehen, wer sich durchsetzt und wo auch vielleicht nur aus Gründen persönlicher Eitelkeit bestimmte Filme verhindert oder nach vorne gepusht werden.
Filmemacher heute sind so
entsetzlich höflich und wohlerzogen. Alle sind viel zu nett zueinander – vorbei die Zeiten, in denen in Jurys die Fetzen flogen, weil einzelne Jurymitglieder in der Entscheidung pro/contra für einen Film wirklich etwas Entschiedenes fanden und sahen, und faule Kompromisse ablehnten.
Aber so wie sich einer in der Jury benimmt, so macht er auch Filme – wir werden also heute Abend bei der Preisverleihung vielleicht nichts über Filme erfahren, aber bestimmt etwas über die
Jury.
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Ich kann meine persönlichen Löwen nennen: Beim Goldenen Löwen schwanke ich zwischen zwei Filmen: The World to Come von Mona Fassvold und Andreij Kontschalowskis Dear Comrade. Beide wirken nach über die Tage des Festivals, beide sind auf ihre Art filmisch konservativ, was nicht optimal für einen Hauptpreis ist, aber es gibt auch filmisch nichts Besseres; und beide haben unterschiedliche Qualitäten, die einen Vergleich erschweren.
Am
Ende würde ich mich für The World to Come entscheiden, und Kontschalowski den Regiepreis geben. Der »Große Preis der Jury« ginge an Nuevo orden von Michel Franco. Der »Spezialpreis der Jury« an Kiyoshi Kurosawa für The Wife of a Spy.
Den Preis für das Beste Drehbuch wäre eigentlich auch nochmal etwas für einen dieser vier Filme. Da das aber
von den Regularien her, glaube ich, nicht geht, könnte man hier an den iranischen Wettbewerbsfilm Sun Children von Majid Madjidi denken.
Die Coppa Volpi für die Beste Schauspielerin geht an Vanessa Kirby. Die Coppa Volpi für den Besten Schauspieler wäre dann übrig für etwas Italienisches. Ich habe Padrenostro leider nicht gesehen, nur gehört, dass dessen
Hauptdarsteller Pierfrancesco Favino (den wir auch von Il traditore kennen) sehr gut sein soll. Den Marcello Mastroianni-Preis für eine Nachwuchsleistung müsste der jugendliche Hauptdarsteller von Sun Children bekommen.
So ist das, wenn ein Filmkritiker sich die Preise backen könnte. Große Einschränkung bei alldem: Einen Film, der immer wieder genannt wird, habe ich versäumt, und werde ich nur nachholen können, wenn er heute Abend wiederholt wird – das passiert nicht mit den kleineren oder den Schauspielpreisen. Mal sehen.
Noch eine Nachbemerkung: Es ist ziemlich schade, dass hier wie auch in anderen Filmfestivals zwar ein fester Preis für das »Beste Drehbuch« vergeben wird, aber kein fester Preis für »Beste Bildgestaltung« oder so etwas wie »Beste künstlerische Leistung« oder »Beste visuelle Leistung« – unter solche Kategorien könnte man dann nämlich Kamera oder Schnitt subsumieren. Und es gibt Filme, bei denen liegt die Qualität ohne Frage nicht im Drehbuch, sondern in den Bildern. Kiyoshi Kurosawas Film gehört eindeutig zu diesen. Gäbe es einen Preis für die Beste Bildgestaltung würde er den bekommen. Oder The World to Come.
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Begründung: Die Norwegerin Mona Fassvold, die bereits mit zwei Filmen im Wettbewerb von Venedig vertreten war – in beiden Fällen aber als Drehbuchautorin –, erzählt von amerikanischen Farmern Mitte des 19 Jahrhunderts. Zwei Frauen freunden sich an, sie teilen sowohl ihr Leid unter den jeweiligen Ehemännern und den harten Lebensverhältnissen, als auch die Hoffnung, die Träume. Man interessiert sich für Bücher, liest einen Atlas, sehnt sich nach der großen weiten
Welt, die sehr weit weg ist. Die beiden verlieben sich ineinander.
Dies ist eine Hymne auf die Freiheit, auch eine Hymne auf die Kraft der Kunst. Denn beide schreiben selber – Tagebücher und Gedichte –, beide lesen viel, beide wollen mehr. Dies ist auch eine Hymne auf die Kraft der Schönheit – selber in großer Schönheit inszeniert. Der Film macht das auch selbst zum Thema, indem er die eine Figur ein schönes, auffällig blaues Kleid kaufen lässt, nicht etwa um es –
das wäre die billige Variante – der Geliebten zu schenken, sondern um selber für sie schöner auszusehen.
Die Bildsprache ist sehr poetisch, dies ist einfallsreiches, sehr sinnliches Kino, das stark von Naturaufnahmen lebt.
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Andrej Kontschalowski wiederum ist über 80 Jahre alt, der älteste Regisseur im Wettbewerb. Er ist ein typisches Produkt der Elite der Sowjetunion. Sein Vater war der Komponist der sowjetischen Nationalhymne – einer der schönsten Nationalhymnen der Welt. Mit genau dieser Musik beginnt Kontschalowskis Film – damit gibt der Regisseur sofort in den ersten Sekunden ein ironisches Zeichen: Dieser Film erzählt auch von mir persönlich, er erzählt auch eine ganz eigene Geschichte. Hinzu kommt, dass Kontschalowskis Frau und Hauptdarstellerin Julia Vysotskaya selber in Novocherkassk geboren wurde – der Stadt, in der das hier alles spielt. Vielleicht hat sie von den historischen Hintergründen des Films auch in der eigenen Familie oder von Freunden gehört. Der persönliche Bezug ist jedenfalls da. Novocherkassk ist auch die alte Kosaken-Hauptstadt, und auch das spielt im Film eine Rolle.
So rekurriert Kontschalowski im Film immer wieder elegant auf die eigene Biografie und die eigene Familie. Er selbst kommentierte seinen Film in Bezug auf die Hauptfigur, eine Frau, die in der Zeit der Revolution oder kurz danach geboren wurde, und die Hauptlast des »Großen Vaterländischen Kriegs« gegen Nazi-Deutschland tragen musste – wir müssen uns ja klar machen, dass die Verhältnisse, die wir heute in Europa haben, nicht allein den Amerikanern zu verdanken sind, sondern mindestens zum gleichen Anteil auch der Roten Armee und Stalin. Schon deswegen ist es nicht so einfach, dass man alles an der UdSSR nur verurteilt: »Dieser Film ist eine Hommage an die Reinheit dieser Generation, ihre Opfer und die Tragödie, die sie erlebte, als ihre Mythen zusammenbrachen und ihre Ideale verraten wurden.«
Sein Film erzählt die Geschichte eines Arbeiter-Streiks im Jahr 1962, in der Don-Region, der blutig niedergeschlagen wird. Es gibt über 20 Tote, die Schützen stammen nicht aus der Armee, die an den Ort gerufen wurde, sondern von Scharfschützen des KGB, die aus Verstecken heraus in die Menge geschossen haben, um die Demonstration aufzulösen. Das ist alles historisch ganz gut recherchiert.
Es geht dem Regisseur um die grundsätzliche politische und gesellschaftliche Atmosphäre und um eine Familie und deren drei Generationen, die im Zentrum stehen. Interessanterweise haben alle drei keine Lebenspartner, sie stehen allein für sich und ihre jeweilige Generation: Ein Großvater, seine Tochter, und wiederum deren Tochter. Der Großvater ist ungefähr 70, er hat also schon als junger Mann den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution erlebt. Die Tochter ist 40, vielleicht 45, sie hat also als junge Frau im Zweiten Weltkrieg gekämpft. An der Wand hängen Bilder von ihr in Uniform. Deren Tochter wiederum ist genau 18 Jahre alt. Sie arbeitet in der Fabrik, die den Streik beginnt, und sie sympathisiert mit den Streikenden.
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Dies ist eine der ganz wenigen Ausnahmen unter den Filmen, die man hier sieht: Ein Film, in dem die Hauptfiguren keine Liebesgeschichte erleben. Keine enttäuschte, keine sich erfüllende, keine neue. Sie werden von Lust und Liebe nicht in irgendeiner Form angetrieben. Das kann sehr erholsam sein auf einem Filmfestival, in dem es überhaupt nicht mehr en vogue ist, dass Figuren irgendein politisches, ästhetisches, weltanschauliches oder intellektuelles Motiv für ihr Handeln haben. Sondern nur schnöden Mammon, oder dessen Gefühlspendant: Emotionalen Materialismus. Hier verraten uns die Filme etwas über unsere Gegenwart und ihr Menschenbild. Wir können uns den Menschen offenbar nur noch als Individuum vorstellen, das auf der Suche nach egozentrischen Befriedigungen ist.
Aber Kontschalowski, der schon andere Zeiten erlebt hat, kann es. Bei ihm geht es nicht um den Kitsch oder die Romantik der Emotionen, um Subjektivismus also, sondern es geht um die Verhältnisse, auch in ihrer Härte, aber auch in ihrer Elastizität. Es geht um die Gesellschaft, nicht um Privates – dies ist der große Unterschied zu vielen anderen Filmen.
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Kontschalowski erzählt hier gewissermaßen die Geschichte Russlands – nicht nur der Sowjetunion, denn er geht zurück vor die Revolution – anhand von drei Generationen, die alle unter einem Dach leben und anhand von drei Tagen, die die Stadt erschüttern. Als ein Streik blutig niedergeschlagen wird, werden diese drei Generationen miteinander konfrontiert. Ein ganz toller, sehr facettenreicher Film.
Es geht Kontschalowski weniger um das konkrete Ereignis 1962 und seine Hintergründe, sondern um seine moralischen und politischen Fundamente. Dieser Film schlägt eine Schneise durch das russische 20. Jahrhundert, denn es gibt hier drei Generationen einer Familie: Einen Großvater, der bei den Kosaken war, also gegen die Revolution 1917. Er hängt dieser Zeit nach, hat einen scharfen Sinn für die Verbrechen, aber er verdammt auch einseitig die Revolution und leugnet ihre
Errungenschaften.
Diese Errungenschaften verteidigt um so mehr seine Tochter, die Hauptfigur. Sie sympathisiert auf eine geradezu naive Weise mit Stalin. Sie war Soldatin in der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges gegen Hitlerdeutschland. Sie ist Stalinistin oder besser Stalin-Romantikerin – im Jahr 1962, also schon lange nach dem berühmten 20. Parteitag 1956, bei dem sich der Wind gedreht und erstmals die Verbrechen Stalins öffentlich benannt wurden, und mit dem
die damnatio memoriae der Zeit Stalins begonnen hat. Diese Ergebnisse will diese Ludmilla nicht nur nicht akzeptieren. Sie will sie gar nicht zur Kenntnis nehmen. Die dritte ist die Enkelin.
Kontschalovski gehört der Generation der Tochter an, seine Eltern der der Mutter. Die drei Generationen verkörpern verschiedene Sichtweisen auf Land und Politik.
Der zweite Grund für die Qualität dieses Films ist seine Ästhetik: In schwarz-weiß gedreht, im klassischen 4:3-Format. Dies ist
auch ein sehr gut gemachter Film.
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Wife of a Spy ist ein Film Noir aus Japan. Kiyoshi Kurosawa erzählt eine Geschichte aus den frühen 40er Jahren. Japans Diktatur radikalisiert sich zunehmend.
Im Zentrum des Films steht ein Ehepaar, das glücklich verheiratet ist. Er leitet eine Firma, seine Ehefrau ist zuhause. Man lebt im Wohlstand und vor allem liebt man das westliche Leben: Westliche Kleidung, Whiskey aus Amerika, und nicht zuletzt das Kino. Man dreht hübsche kleine private Filme.
Das ist
nicht alles: Das japanische Kaiserreich hatte 1940 bereits einen »Nationalen Kleider-Erlass« verkündet, nach dem alle Japaner angehalten werden – noch nicht gezwungen – sich japanisch zu kleiden und nicht westlich.
Auf diesem Fundament öffnet Kurosawa ein faszinierendes, spannendes, dabei sehr spielerisches Tableau der Verwirrung. Immer wieder wechseln die Perspektiven auf die Figuren und das Geschehen. Ein Vexierspiel, bei dem man sich fragt, wer hier wen betrügt
und warum? Wer der Verräter ist, und was Verrat überhaupt heißt unter den Umständen einer faschistischen Diktatur? Das alles ist die Frage.
Wie es sich für einen guten Film Noir gehört, sind die moralischen Gewichtungen nicht klar verteilt. Wer hier gut ist, wer böse, das ist genauso unklar wie vieles andere.
Fest steht, dass der Gatte auf einer Mandschurai-Reise irgendwann Beweise für Kriegsverbrechen und Menschenversuche sichern kann. Unter anderem auf Film. Offenbar will er sie außer Landes bringen. Seine Frau ahnt zuerst nichts, dann kommt sie ihm auf die Schliche, verrät ihn – doch dieser Verrat entpuppt sich selbst als Finte, um die entscheidenden Informationen dadurch um so sicherer zur Seite zu bringen. Aber ist das wirklich alles?
Kostbare Seide dient hier zum Einwickeln wertvoller Dinge, falsch aufgestellte Schachfiguren signalisieren Gefahr, Vorhänge, Möbel, Anzüge sind von erlesener Qualität, gefahren wird im Rolls-Royce – auch in Japan ist die Klassische Moderne der Sehnsuchsort schlechthin.
Kurosawa wickelt diese reißerische Geschichte in leise Töne und romantische Musik – in Japan ist die Verpackung immer schon wichtiger als der Inhalt, und diese Verpackung ist bezaubernd.
(to be continued)