77. Filmfestspiele von Venedig 2020
In der Stunde der Raubtiere |
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Die Moral von der Geschichte: Trau keinem | ||
(Foto: BIENNALE CINEMA 2020 Press Service) |
»Mag schon sein, daß Hollywood überall sonst auf der Welt den Eindruck vermittelt, es gebe den Ton an – auf einem Festival wie in Venedig wirkt es eher eintönig. Der ganze Glanz, den es anderswo entfalten mag, verblaßt hier leicht zu einer matten Demonstration von Macht. ... man hat hier mehr denn je den Eindruck, daß es im Kino auch noch um etwas anderes geht, daß hier ein anderes Glück zu haben ist, das von Hollywood weiß, aber mit seinen Regeln ein eigenes Spiel treibt.«
Michael Althen, FAZ 03.09.2002
Manchmal kam bei mir während der letzten Woche der Gedanke auf, ob ich mir eigentlich wünschen würde, dass das Festival immer so wäre, wie jetzt. So leer, so übersichtlich, so wohlorganisiert, nur ohne Masken? Aber dann wird mir klar, dass ich mir hier eigentlich wünschen würde, dass die Mostra nicht die Mostra ist – nämlich ein bisschen chaotisch, ziemlich voll und lebendig, mit flachen Hierarchien, im besten Sinne schön italienisch. Die Masken und die Leere die bedingen einander, die Seuche und die Leere und die Organisiertheit bedingen einander. Da bin ich doch lieber dafür, dass die Seuche verschwindet und das Chaos wiederkommt.
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Noch einmal, jetzt etwas präziser zu Nuevo orden von Michel Franco. Wie gesagt: Ein Film über unangenehme Menschen und über das Unangenehme im Menschen. Es gibt kaum sympathische Charaktere.
Am ehesten sympathisch und auch sonst zur Identifikationsfigur taugt Marianne (gespielt von der Newcomerin Naian Gonzalez Norvind, die aus einer interessanten Familie stammt, aber das muss
man jetzt selber nachlesen). Sie ist eine Art Hauptfigur, ein Mädchen aus stinkreichem Haus, wohlerzogen und gutmütig, gar nicht so weltfremd, aber eben auch verdorben von Eltern, die eiskalt und reaktionär sind und sich trotzdem noch Illusionen machen.
Die ersten Bilder sind fragmentarisch, eher ein phantastischer Vorschein des Kommenden, als ein Geschehen: Ein Mädchen, fast nackt, mit grüner Farbe übergossen. Chaos im Krankenhaus. Viele Tote übereinandergestapelt. Die Farbe Grün dominiert.
Chaos herrscht von Anfang an. Paranoia. Was genau los ist, ahnt man nicht. Aber auch an unsere Pandemie kann man bald denken.
Das Mädchen der ersten Bilder, wir werden sie als Marianne kennenlernen, ist auf ihrer eigenen Hochzeitsfeier. Aber was ist das für eine Hochzeit? Eine jüdische Hochzeit? Sie hat zumindest kein weißes Brautkleid an, sondern ein rotes.
Grünes Wasser läuft aus der Leitung. Nur kurz. Irgendetwas ist passiert.
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»Ist das ein Prozent der Bestechungsgelder, die er von Papa bekommen hat« – so kommentiert die Tochter das Hochzeitsgeschenk eines Geschäftspartners des Vaters.
Wir lernen eine dekadente Familie kennen und ihre Freunde, es gibt viele Dienstboten. Der Film zeigt ganz gut, wie diese Leute sind, wie sie sich benehmen. Da ist in den kleinen Gesten ähnlich viel Wissen, wie in Julia von Heinz' Porträt der Landadels-Verhältnisse ihrer Hauptfigur.
Ein Klassensystem. Ein Dienstbote bittet ausgerechnet jetzt um 200.000 Pesos, die er für eine Operation seiner Frau braucht. Das bekommt er nicht. Marianne versucht es, ihm zu geben, aber sie kommt nicht so schnell an Bargeld. Alle anderen sind unverantwortlich, der Bruder, der Ehemann, ihre Eltern sowieso.
Also fährt sie dem Diener hinterher, um ihre Kreditkarte einzusetzen.
Konstruiert, aber warum nicht?
Bald danach wird die Villa überfallen, auch einzelne Dienstboten schließen sich den Eindringlingen an. Man raubt, plündert, zerstört, verwundet, demütigt, tötet – ein Hauch der Manson-Family, der vollkommen sansculottischen destruktiven Willkür kommt spätestens dann auf, als sie »Putos Ricos« und »Vera tu Dios« an die Wände schmieren.
Großartig ist, wie explizit hier viele Dinge sind – zwar nicht im Vergleich zu B-Movies und klassischem Horrorfilm, aber sehr wohl im Vergleich zum protestantischen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig.
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Was dieser Nacht der Abrechnung folgt, ist eine Gesellschaft der Angst. Marianne wird von Soldaten entführt, mit vielen anderen in irgendeiner abgelegenen Kaserne gefangengehalten, um Lösegeld zu erpressen.
Das alles ist natürlich auch präzises Beobachtungskino, wenn wir an das Mexiko der Drogenkartelle denken, die selbstverständlich Bündnisse und Stillstandsabkommen mit Politik, Polizei und Militär geschlossen haben.
Korruption und Verrat auch unter den Eliten gibt es nicht nur in diesem Film.
»Nuevo Orden« heißt dann nicht nur die oberflächlich wiedergewonnene Stabilität, sondern eine neue Form des Arbeitens, eine neue Form der Überwachung. Das System zieht das eiserne Gehäuse über den Existenzen der Menschen noch enger zu. Und hinter der Rede von der »neuen Ordnung« hört und sieht unsereins heute auch: »neue Normalität«
Ein universales Misstrauen macht sich Platz. Da muss man sich einfach nur verstecken vor den Institutionen und ihren Vertretern von Polizei und Armee. Man darf ihnen nicht trauen, man kann ihnen nicht trauen. Das Mindeste, was sie tun, ist ihrer Willkür freien Lauf zu lassen – unnötig zu sagen, dass das mit unseren Verhältnissen in Europa natürlich ganz und gar nichts zu tun hat.
Wenn man das Genre beschreiben will, dann wohl am ehesten: Paranoia-Polit-Thriller. Franco zeigt Mexiko als die Klassengesellschaft, die es ist. Ein Land, das einen Schritt über den Abgrund hinaus ist. Moral: Traue keinem.
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Das wird nicht allen gefallen. Mir gefällt, wie herrlich destruktiv dieser Film ist. Dass er keinen Trost spendet, ist sein Kapital. Dass man allen zu misstrauen lernt.
Dies ist wenigstens ein Film. Kein bebildertes Manifest. Keine Wohlfühl-Fabrik. Kein Film, in dem sich die Bildungsbürger zurücklehnen und an den Leiden in anderen Kontinenten und den anderen Schichten ergötzen können und daran, dass sie selbst über all das erhaben sind. Kein Film, in dem man es sich mit der eigenen Amoral bequem machen kann.
Das ist sehr gut gemacht. Allerdings ohne Poesie, ohne Lust. Der Exzess ist ein negativer, ein depressiver, ein nihilistischer. Franco genießt es auch, Faschismus zu inszenieren – aber er inszeniert ihn ohne die Ästhetik des Faschismus, ohne die Ästhetisierung der Macht – sondern eher als Inferno, als De Sade'sche Phantasie totaler Willkür.
Das Ganze ist selbstverständlich auch eine bürgerliche Paranoia, ein Szenario, das unbewusste Ängste ins Bild setzt. Man könnte durchaus argumentieren, dass der Film politisch rechts steht. Denn die Geschichte ließe sich so erzählen: das kommt dabei raus, wenn man den Armen helfen möchte? Aber das stimmt ja nicht, das ist ja eine sehr oberflächliche Lesart. Denn tatsächlich überlebt Marianne den Überfall auf die Eltern genau dadurch, dass sie den Armen helfen wollte und deswegen das Haus verließ.
Die Härte und die Kälte und die Coolness dieses Filmemachens kann man mit Haneke vergleichen. Aber bei Franco ist – zum Guten wie zum Schlechten – mehr Engagement spürbar.
Es gefällt ihm, scheint mir, weniger als Haneke, zu zeigen, was er zeigt.
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Kurz, hart, zynisch – ohne alle Hoffnung. Ohne Überraschungen, ohne Deus ex Machina, aber in einer seltsamen Schönheit, die in der Unverfrorenheit und handwerklichen Souveränität des Regisseurs liegt: Ohne Frage ist dies »a film to be seen« und »a director to be watched«. Ich glaube, er müsste einen Preis gewinnen, vielleicht für Beste Regie, aber bei dieser Jury ist damit eher nicht zu rechnen. Obwohl Venedig in den letzten Jahren ein gutes Pflaster für Lateinamerikaner war.
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»La Terrazza« heißt die weiße, mit kastenförmigen Buden bebaute Fläche gegenüber vom Festival-Palast. Viele gehen da zwischen den Filmen hin, ich nicht, denn ich mag den Ort nicht so, weil er überlaufen ist und er den ganzen Tag von ziemlich praller Bunga-Bunga-Musik dominiert wird.
Aber ich erinnere mich noch daran, wie ich dort bei meinem ersten Venedig-Besuch mit Rainer Gansera, als der noch zum Lido gefahren ist, öfter dort hinging, überteuerte Salzchips aß, und wir beide einmal mit Susanne Marian, der Produzentin von Ulrich Seidls Film, eine heftige Debatte hatten, ob das Ganze moralisch zulässig ist oder nicht. Auf welcher Seite ich damals stand, weiß ich nicht mehr.
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Irgendwann ist mir aufgefallen, dass wir sehr, sehr viele Mütter sehen. Ich weiß nicht genau, woran das liegt. Es sind nicht immer glückliche Mütter, es gibt z.b. eine Mutter, die ihre Kinder im Massaker von Srebrenica verliert, es gibt eine Mutter, die ihr Kind bei der Geburt verliert, eine andere, die ihr Kind verliert, als es vier Jahre alt ist. Es gibt aber natürlich auch Mütter, die sehr glücklich mit ihren Kindern aufwachsen und entweder über ihre Mutterrolle hinausgehen und sich
dann im Beruf oder in der Politik bewähren oder ganz andere Dinge machen.
In Michel Francos Film gibt es nur drei Mütter. Die eine wird gleich erschossen. Die zweite gehängt. Die dritte rät ihrem Sohn, als dessen Braut nach vier Wochen Verschwinden noch nicht wieder aufgetaucht ist, sie doch langsam zu vergessen. Dass diese Mutter damit sogar richtigliegt, macht das alles nicht besser.
(to be continued)