Cinema Moralia – Folge 245
Der Kampf um Wahrheit, der Zusammenbruch der Auswertungsfenster, das Ende der Exklusivität |
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Prognostiziert Branchenentwicklungen | ||
(Plakat: Nostradamus-Report / Filmfestival Göteborg) |
»Früher waren Musiker Leute, mit denen irgendwas nicht stimmte. An denen konnte man eine Art wundervollen Wahnsinn beobachten. Heute hast du lauter super-öde Leute, die irgendwas singen. Dass ihre Freundin sie nicht zurückgerufen hat oder so. Ich lehne dieses Selbstmitleid, dieses Zurschaustellen von manierierter Empfindsamkeit komplett ab. Künstler müssen führen, verheißen. Wir müssen Momente für alle schaffen. Das ist unser Job.«
Bernd Begemann, Musiker, im März 2021
Ich kenne gar nicht so wenig Leute, die sagen mir: »Was regst du dich eigentlich noch so über die dffb auf? Warum arbeitest du dich da ab? Soll sie doch untergehen! Die dffb ist doch nur noch ein großer Scheißladen.« Und um ehrlich zu sein, geht es mir dann so, dass ich denke: Die haben eigentlich recht.
Trotzdem.
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Eine Entscheidung über die anstehende Neubesetzung der nunmehr zwei Leitungsposten (künstlerisch, kaufmännisch) an der Berliner Filmhochschule dffb ist noch nicht gefallen. Heute gab es mitten im Berliner Aprilschneegestöber noch mal ein persönliches Vortanzen der Bewerber um die kaufmännische Leitung. Viele, die es mit der dffb wohl wollen, hoffen hier auf die Schweizerin Catharine Anne Berger, die allemal über die persönlichen und charakterlichen Kompetenzen für diese Aufgabe zu verfügen scheint.
Aber man muss auch nicht darum herumreden: Vielen geht es vor allem darum, die säbelrasselnde Neoliberale vom Tempelhofer Feld zu verhindern.
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»Die dffb hatte in ihrer Geschichte noch nie eine gute Leitung«, sagt einer, der es wissen muss. »Alle diese Männer waren umstritten, manche wurden sogar gehasst. Keiner von ihnen hat irgendwelche ästhetische oder sonstige Spuren hinterlassen.« Dies letzte zumindest würde ich für Reinhard Hauff bestreiten. Aber sonst stimmt die Aussage wohl. Aber vielleicht muss ein Direktor auch vor allem eine Spur hinterlassen: den Geist des Zulassens und der Offenheit.
Aber weiter der
Gast-Kommentator: »Die Studenten haben sich daran gerieben oder im Widerstand dagegen ihre Filme gemacht. Vielleicht sollte es einfach so bleiben, anstelle die neue tolle Leitung zu finden. Die dffb wird immer die Summe ihrer Studenten sein, also der guten und weniger guten …«
Das stimmt natürlich genau. Die Frage, die sich da natürlich anschließt, ist: Wie gut sind die Jüngeren unter den heutigen dffb-Studenten? Künstlerisch … Von Reibung und Widerstand ist da schon mal nichts zu sehen. Nur Empfindlichkeiten.
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Mir tun viele Dinge, die im Moment an der dffb passieren, sehr leid. Abgesehen vom alten Muff bei den Mitarbeitern bin ich besonders besorgt über das, was in den Köpfen der jüngeren Studenten vor sich geht. Bei allem Verständnis für die Ängste und Befürchtungen, die aus der aktuellen Situation resultieren – sowohl der Situation an der dffb, als auch der Situation in der Gesellschaft insgesamt und durch Covid-19 – muss man sagen, dass die Studis mehr und mehr an die Roten Garden in Maos Kulturrevolution erinnern. Sie skandieren sehr laut »Diversität!« und »Identität!« und jeder, der nicht miteinstimmt, wird niedergeschrien. Künstlerisch aber sind sie bislang stumm.
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Auf unseren letzten dffb-Text hin meldete sich der Ex-Direktor (2016-2020) Ben Gibson mit einer Korrektur: »An important correction: all the proposals I made on admissions and curriculum change were specifically against pre-specialisation at entry, and in favour of the pre-97 cross-working system for much of the course. These ideas were rejected immediately by all sides. The idea of editing and sound was for all students to do it, not to hive off new departments of specialists. So you're diametrically wrong on the last administration’s direction and its ›permanent damage‹. Ben.«
»Eine wichtige Korrektur: Alle Vorschläge, die ich zur Zulassung und zur Änderung des Lehrplans gemacht habe, waren ausdrücklich gegen die Vorspezialisierung bei der Aufnahme und für das vor 1997 existierende System des Querschnittstudiums für den Großteil des Studium. Diese Ideen wurden sofort von allen Seiten abgelehnt.«
Die Idee der Einführung von Schnitt- und Ton-Studiengängen sei gewesen, so Ben Gibson, dass alle Studenten dies lernen sollten, nicht, dass neue
Abteilungen von Spezialisten ausgegliedert werden.
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Ein Student berichtet dazu: »Bis heute wurde der Studiengang Schnitt und Ton nur dazu benutzt, 'vorhandene Löcher' in der allgemeinen Produktionsstruktur der Akademie zu stopfen. Das Ergebnis ist katastrophal, es gibt für diese neuen Studenten überhaupt keine Möglichkeit, sich auf Themen, Techniken oder Experimente zu konzentrieren, es ist auch nicht die geringste Sensibilität vorhanden, interdisziplinäre Lernformate innerhalb anderer Abteilungen anzubieten … Ich habe gerade ein paar Worte zu Lernprogrammen an der dffb gehört. Struktur scheint etwas absolut Sekundäres zu sein hinter der groben Idee, dass die Studierenden nur da sind, um 'Lernerfahrungen zu machen' …«
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Adam Curtis im Gespräch mit dem Guardian über seine Methode mit Archivmaterial zu arbeiten:
»I think it’s something to do with the tension between the completely weird collage of stuff and a very calm voice. But what I try and put into my films through the archive is a feeling of the texture of the complexity of life, that people aren’t simply good or bad. ... there is just one rule in television: People who think they're funny aren’t funny and people who don’t think they're funny are incredibly funny. That’s why playing it straight works.«
Question: Why is it all going straight to iPlayer?
AC: Because you can make more complicated films for iPlayer. And you can make them longer. People watch things online with a different sensibility. ... And therefore you can actually make things more complicated. You don’t have to explain everything, they can stop and start.
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Obwohl es ihn schon seit neun Jahren gibt, ist der »Nostradamus Report« zumindest in deutschen Filmkreisen immer noch vergleichsweise unbekannt. Dabei handelt es sich dabei keineswegs um ein dubioses Mystery-Ding, sondern um den ganz undubiosen Versuch, künftige Branchenentwicklungen zu prognostizieren.
Schon vor knapp zwei Monaten wurde das Ganze beim Filmfestival im schwedischen Göteborg vorgestellt. Aber ich habe leider erst jetzt Zeit gefunden, mich damit etwas zu
befassen. Meines Wissens hat bislang in Deutschland überhaupt niemand über den Nostradamus-Report berichtet.
Der aktuelle Text trägt den Titel »Transforming Storytelling Together«; verfasst wurde er von der Medienanalystin Johanna Koljonen.
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Glaubt man den Darlegungen, dann wird die Pandemie nun endlich zu jener Revolutionierung der Film-Verhältnisse führen, die sich viele unabhängige Filmemacher erhoffen, und die von denselben ebenso wie von den CEOs aus der Industrie gefürchtet wird.
»Die Auswirkungen der anhaltenden Pandemie auf die Film- und Fernsehindustrie werden in den nächsten fünf Jahren die Produktionspraktiken verändern, den Ausstellersektor neu formen, den Vertrieb umgestalten und die globalen Möglichkeiten für europäische Produzenten erweitern«, so der Report.
Man wusste es schon vorher: Die Corona-Krise hat strukturelle Veränderungen beschleunigt, die bereits im Gang waren. Neben der fortschreitenden Konsolidierung unterliegt die Branche einem ebenso umfassenden wie harten Realitätscheck: Lebenslügen bersten, Illusionen zerplatzen, aber auch Reales geht zu Bruch: Die kommenden Jahre werden den Zusammenbruch von Veröffentlichungs- und Auswertungsfenstern zur Folge haben, so der Bericht, das Kino werde seinen Charakter verändern müssen.
»Große Titel haben zwar immer noch ein kurzes exklusives Kinofenster, aber es ist genauso wahrscheinlich, dass wir digitale Fenster als ersten Auswertungsort sehen, entweder etwas früher oder am selben Tag«, stellt der Bericht fest und fügt hinzu, dass die Titel, die von den Kinoleinwänden verschwinden, »die Titel sind, die in den Kinos nicht funktionieren.«
Kommerziell und als Augen-Fast-Food ist hier gemeint.
Trotz der sich verändernden Vertriebslandschaft »ist die Branche grundsätzlich robust«, stellt die Studie fest. »Ein zunehmendes Systembewusstsein in der gesamten Wertschöpfungskette wird ihre Widerstandsfähigkeit und Effizienz erhöhen«, heißt es weiter. Vertriebs- und Distributionsakteure werden ihr neues, besseres »Verständnis des Publikums« – sprich: Daten – nutzen und »Daten in jedem Aspekt ihrer Arbeit besser einsetzen müssen, um überhaupt relevant zu bleiben«, warnt der Bericht.
Das Kino wird als Markt schrumpfen, aber als dynamischer und einflussreicher Teil der Filmkultur wiederauferstehen. »In fünf Jahren werden weniger Kinos nach dem jetzigen Modell arbeiten, aber es wird ihnen gut gehen, ebenso wie den gehobenen Angeboten.« Chancen für experimentelle Vorführungen werden sich zudem durch erschwingliche Kino-Immobilien im Zuge der Pandemie-Schließungen ergeben, prognostiziert der Bericht.
»Der kleine Bildschirm wird das finanzielle und wahrscheinlich auch das künstlerische Herz der konvergenten Film- und TV-Industrie« werden, wobei SVOD zu Hause einen viel größeren Anteil an den Ausgaben haben wird.
Die Studie prognostiziert auch, dass die Exklusivität von Inhalten nicht im Mittelpunkt der Geschäftsmodelle stehen wird, was zu einem offeneren Markt führen wird. Und ein jüngeres Publikum, das Videos außerhalb traditioneller Domänen konsumiert und
produziert, wird Innovationen vorantreiben.
»Das Wachstum im TV-Markt wird die Herausforderungen im Spielfilmvertrieb kompensieren«, heißt es auch. »Wenn sich die gesamte Landschaft zur gleichen Zeit verändert, kann jeder, der nicht aktiv innovativ ist, ins Abseits gedrängt werden.«
Darüber hinaus wird die steigende Nachfrage nach vielfältigen globalen Inhalten weiterhin Möglichkeiten für europäische Produzenten schaffen, selbst wenn die Zahl der Spielfilme zurückgeht. Der Bericht stellt fest, dass die EU-Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste (AVMS), die Streaming-Dienste in der EU dazu verpflichtet, »mindestens 30 % europäische Inhalte zu zeigen, zunehmend als Gewinn angesehen wird.«
Erst 2026 wird sich die gesamte Branche normalisiert haben.
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Inhaltlich werde die Branche von zwei Themen geprägt sein, die besonders wichtig sind: Der sich verschärfende Kampf um »Wahrheit« in den Medien und die eskalierende Klimakrise.
Die zunehmende Politisierung von Inhalten und der »Kampf um die Kontrolle der Wahrheit zwischen liberalen Demokratien und autoritären populistischen Bewegungen hat unvorhersehbare und gelegentlich verheerende Auswirkungen auf Medienunternehmen, Gesetzgebung, Publikum und öffentliche Finanzierung«, heißt es in dem Bericht.
Der Bericht fügt hinzu, dass viele der wichtigsten Produktionsstandorte der Welt in sehr warmen Regionen liegen oder mit extremen Wetterereignissen konfrontiert sind, wobei der Klimawandel bereits Auswirkungen auf Dinge wie Drehpläne hat.
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Natürlich gibt es Gegenargumente und bestimmt ein paar Dinge, die man an alldem kritisieren kann – aber vielleicht ist es sinnvoller, die Belegung erst einmal ernst zu nehmen und auf sich wirken zu lassen.
(to be continued)