09.11.2023
Cinema Moralia – Folge 307

Ohne Worte!

Jud Süß
Szene aus Veit Harlans Jud Süß (1940)
(Foto: Murnau Stiftung)

Die Unfähigkeit, zu trauern: Israel, Antisemitismus, Islamismus und das lange Schweigen des deutschen Films – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 307. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Viel­leicht trifft Freuds Bemerkung, die Neurose verleugne die Realität nicht, sie wolle bloß nichts von ihr wissen, auch für die kollek­tiven Anstren­gungen zu, die wir in unserer Umgebung beob­achten.«
- Alexander Mitscher­lich: Die Unfähig­keit zu trauern, 1967

Es sind unan­ge­nehme Zustände. Der deutsche Kultur­be­trieb hat nicht anders als die Gesell­schaft allzu lange und lautstark geschwiegen. Den Deutschen fehlen die Worte für Anteil­nahme, für Soli­da­rität mit den Opfern, für das poli­ti­sche Notwen­dige. Allein ein einsamer Vize­kanzler findet sie, und die deutsche Gesell­schaft hat es Robert Habeck zu verdanken, dass er in einfacher Sprache genau das formu­liert, was ein maul­fauler Kanzler und eine orien­tie­rungs­lose Außen­mi­nis­terin nicht in Worte zu fassen vermochten.

+ + +

Der Kultur­be­trieb des Westens, insbe­son­dere der deutsche, wird zurzeit erschüt­tert von der Verwi­schung von Opfern und Tätern in der Frage der Pogrome der Hamas am 7. Oktober und von massiven Angriffen und Kampagnen gegen Israel und gegen jüdische Einrich­tungen. Kaum eine, die nicht geschützt werden muss.
Die genannten massiven Angriffe gelten im Augen­blick vor allem jenen, die sich auf Seiten Israels posi­tio­nieren. Meinungs­frei­heit gilt hier wenig; es wird einmal mehr zwischen Gut und Böse unter­schieden; die Cancel Culture feiert ihren letzten Hexen­sabbat. Auf lange Sicht werden sich Toleranz und Freiheit und demo­kra­ti­sche Grund­werte und die Menschen­würde durch­setzen, auf kurze Sicht aber diktieren die neuesten Maoisten-Garden größere Teile des Kultur­be­triebs. Sie schüch­tern ein, sie töten die Vielfalt, für die sie doch angeblich eintreten wollen.

Es ist nicht der Staat mit seinen poli­ti­schen Parteien, der sich zerstreitet und unfähig zur richtigen Posi­tio­nie­rung ist, es ist die Gesell­schaft selbst, die erkaltet, sobald es um Juden geht. Was Alexander und Marga­rethe Mitscher­lich vor Jahr­zehnten über »Die Unfähig­keit zu trauern« schrieben, trifft heute unver­min­dert zu, wenn es um Israel geht: Nicht-Hinschauen-wollen und »Derea­li­sie­rung«, die Abspal­tung der Wirk­lich­keit, domi­nieren nicht zufällig gerade das Denken und Fühlen jener, die schon von Berufs wegen besonders sensibel und empa­thie­be­gabt zu sein hätten, die aber im Gegenteil sich abkapseln, und lieber in den eigenen Ideo­lo­gemen und Phan­tasmen sich einrichten, als Erfahrung zuzu­lassen, die ja unan­ge­nehm werden könnte.

+ + +

Was die Mitscher­lichs 1967 als die drei Phasen beschrieben, mit denen Einsicht abgewehrt wird, gilt heute unver­än­dert: Zunächst »auffal­lende Gefühls­starre« und »emotio­nale Abwendung«, dann die Iden­ti­fi­ka­tion mit dem Aggressor, und schließ­lich das »manische Unge­sche­hen­ma­chen«.
Das konkrete Resultat ist die unendlich große Einsam­keit, die viele Juden in Deutsch­land heute, mitten unter uns, empfinden, und für die vielen von uns jeder Sinn fehlt, während sie ihr hohles Rela­ti­vie­rungs­ge­schwätz verbreiten, die Israelis »Impe­ria­listen« nennen und in ange­lernten Phrasen von »white privilege« und »Genozid« über jene faseln, deren Freunde und Angehö­rige gerade ermordet wurden.

+ + +

Das hat im Konkreten absurde Auswüchse. Die dffb of all people – also eine seit Jahren am Rande der Selbst­auf­lö­sung agierende Film­hoch­schule in der verwüs­teten Neuen Mitte der geschei­terten deutschen Haupt­stadt – hat sich zu einem »Palästina-Statement« hinreißen lassen, das in seiner wirk­lich­keits­fernen Dummheit und Hybris eigent­lich von großer surrealer Komik wäre, wäre es nicht zugleich moralisch derart infam: 162 Menschen haben bis heute eine Stel­lung­nahme gezeichnet, in der sie sich zum Büttel isla­mis­ti­scher Propa­ganda machen lassen und darum »in Soli­da­rität mit den Paläs­ti­nenser*innen in ihrem Kampf um Freiheit und Selbst­be­stim­mung« niemand Gerin­geren als »die deutsche Regierung« dazu auffor­dern, »ihre bedin­gungs­lose Unter­s­tüt­zung für die israe­li­sche Regierung einzu­stellen«.
Die Studis glauben offenbar tatsäch­lich: »Der deutsche Staat unter­drückt im Namen der eigenen Geschichte nicht nur jegliche Kritik am Vorgehen des Staates Israel, sondern übt auch aktiv Druck auf kultu­relle Einrich­tungen, Univer­si­täten und Schulen aus, um kritische Stimmen zu zensieren.«
Es folgen die bekannten, durch keine Empirie gestützten Phrasen – »jahr­zehn­te­lange Unter­drü­ckung ... unter der Besatzung eines kolo­nialen Siedler- und Apart­heid­staates ... Rassismus gegen arabische, musli­mi­sche und migran­ti­sche Gemein­schaften« – nach denen es sich bei den Israelis um die neuen Nazis handelt.

Alles mündet schön gegendert in drei Forde­rungen:

- EINEN SOFORTIGEN WAFFENSTILLSTAND UND EIN ENDE DER ETHNISCHEN SÄUBERUNG DES PALÄSTINENSISCHEN VOLKES IN GAZA UND IM WESTJORDANLAND
- EIN ENDE DER POLIZEIGEWALT UND DES SYSTEMATISCHEN STILLSCHWEIGENS
- RÜCKFORDERUNG DER MEINUNGSFREIHEIT IN KULTURELLEN UND KÜNSTLERISCHEN EINRICHTUNGEN UND INSTITUTIONEN

+ + +

Pech für die neuen revo­lu­ti­onären Garden, dass ihnen ihre Wokeness selbst in den Weg kam, und sie schon vor Jahren den von der SPD bestallten Direktor, den Briten Ben Gibson zusammen mit dem Macht­ap­parat der rotrot­grünen Senats­büro­kratie mit faden­schei­nigen Vorwürfen vom dffb-Balkon kegelten. Gibson nämlich würde heute, folgt man seinen allzu eindeu­tigen Facebook-Kommen­taren, jede isra­el­feind­liche dffb-Demo höchst­per­sön­lich anführen, gewärmt vom eigenen PLO-Schal und beseelt von Erin­ne­rungen an seine 68er-Jugend.

Dies ist nur ein besonders kläg­li­ches Beispiel für Prozesse, die in gefähr­li­cherer Form zuletzt mehrfach zu beob­achten waren (Wir könnten hier Ross und Reiter nennen, tun dies aber nicht auf Bitten der von Anwürfen Betrof­fenen): Der poli­ti­sche Islam in seiner übelsten Form, als Isla­mismus, dringt in Kunst und Kultur­wis­sen­schaften ein, und infiziert diese mit auto­ri­tärem, demo­kra­tie­feind­li­chem Gedan­kengut, bei denen modische, nur scheinbar aufklä­re­ri­sche Diskurse und Theorien als Stich­wort­geber fungieren.
Film­fes­ti­vals und Hoch­schul­do­zenten werden von den woken Schwa­dronen persön­lich bedroht, mit Cancel-Bann belegt, Mitar­beiter, Studenten und Geldgeber werden gegen sie aufge­hetzt, weil sie von ihrer Meinungs­frei­heit Gebrauch gemacht und das Selbst­ver­s­tänd­liche gesagt haben: »I stand with Israel« ohne Wenn und Aber, ohne Rela­ti­vie­rung, ohne Hinweis auf »die Paläs­ti­nenser« – die es btw sowieso gar nicht gibt, es sei denn, man schlösse die Israelis nicht ein, oder man unter­schiede zwischen arabi­schen und anderen Paläs­ti­nen­sern – aber geschenkt: Um Argumente und Fakten geht es nicht, sondern um Bekennt­nisse. Und darum hat jeder selbst­er­nannte »Isra­el­kri­tiker« einen jüdischen Zitat­geber, vorzugs­weise BDS-nah, der den Impe­ria­lis­mus­vor­wurf bestätigt und zitier­fähig ist.
Das ist zuge­spitzt, wütend und polemisch formu­liert, ja. Erfüllt von der Wut, dass gerade im deutschen Film bislang die Aufmerk­sam­keit für Israel ebenso fehlte wie präzise Kritik an arabi­schen Posi­tionen, wie überhaupt Unter­schei­dungs­ver­mögen.

+ + +

Gut, dass wenigs­tens die HFF München sich eini­ger­maßen unzwei­deutig gegen Anti­se­mi­tismus, Judenhass und Hamas-Verharm­lo­sung posi­tio­niert.
»Die HFF München spricht sich grund­sätz­lich, aber besonders in diesen Tagen für Humanität und Frieden aus.« heißt es da: »Mit großer Sorge blicken wir auf die poli­ti­schen Entwick­lungen. Wir lehnen jegliche Form von Anti­se­mi­tismus, Rassismus und Menschen­feind­lich­keit ab. Daher verur­teilen wir den terro­ris­ti­schen Angriff der Hamas auf Israel. Wir verur­teilen den wach­senden Anti­se­mi­tismus in Deutsch­land.«

+ + +

Tatsäch­lich neue kritische Bilder und Narrative, wie sie vom dffb-Aufruf einge­for­dert werden, kommen gerade aus Israel.

Denn weil die Hamas-Mörder am 7. Oktober 2023 außer mit Waffen auch mit Kameras kamen, und ihre Untaten filmten, und die dabei entstan­denen Bilder als Waffen im Bilder­krieg einsetzen, gibt es jetzt mediale Gegen­schläge: In zwei Beiträgen widmete sich das ARD-Kultur­ma­gazin »ttt – Titel, Thesen,. Tempe­ra­mente« jetzt dem neuesten Kapitel in der Bild­ge­schichte des Terrors.
Ein heraus­ra­gender Beitrag von Tim Evers berich­tete über die Desin­for­ma­tion im Bilder­krieg, der leider auch hier bei uns viele erliegen, und über israe­li­sche Antworten: Die von Achiya Schatz gegrün­dete Orga­ni­sa­tion FakeRe­porter, die auch auf arabisch publi­ziert, und ihre Plattform digi­tal­dome.
Nach dem abscheu­li­chen Terror­an­schlag wurden die sozialen Medien von einer beun­ru­hi­genden Flut von Falsch­in­for­ma­tionen über­schwemmt. Etwa die Behaup­tung vom Angriff auf ein Kran­ken­haus in Gaza mit rund 500 Toten – reine Fake News der Hamas, die aber selbst von der New York Times und anderen namhaften Medien über­nommen wurde. Später stellt sich heraus, dass es eine Explosion auf dem Parkplatz neben dem Kran­ken­haus war, durch die Rakete einer isla­mis­ti­schen Gruppe.

Die Onli­ne­welt ist ein Schlacht­feld ohne Grenzen. Gerade soziale Medien sind wie gemacht für die Schock­bilder der Hamas und derartige Propa­ganda. Ziel ist Angst-Erzeugung. Es geht um Einschüch­te­rung.
In der west­li­chen Welt haben sie großen Erfolg. Die links­li­be­rale Öffent­lich­keit, nicht zuletzt große Teile der Kunst- und Wissen­schafts­szene reagieren mit Rela­ti­vie­rungs-Geschwurbel und Täter-Opfer-Umkehrung. Man nennt die Hamas eine »Befrei­ungs­be­we­gung«

Dagegen kämpft eine zweite Gruppe von Filme­ma­chern. Eliran Peled hat für das Projekt »#Brin­gThe­mHo­meNow« mit Angehö­rigen der von der Hamas verschleppten Geiseln gespro­chen und diese in kurzen Web-Clips porträ­tiert. Peled will der sadis­ti­schen Gewalt in den Videos der Hamas das Leben entge­gen­setzen. »Wir wollten das Gegenteil dieser Videos, nicht den Horror zeigen, sondern die Menschen. Das zeigen was einen Menschen und seine Mensch­lich­keit ausmacht. Wir wollen allen zeigen: Es könnten wir sein, es könnte deine Groß­mutter sein, dein Kind.«

»Es ist völlig egal ob man Israel mag oder nicht mag.« sagt Pereed. Wenn man das Ermorden eines 9-Monate alten Babys für normal hält, dann haben wir ein ganz anderes Problem. Dies ist keine anti­jü­di­sche oder anti­se­mi­ti­sche Aktion, sondern eine anti­mensch­liche.

+ + +

Der Kultur­be­trieb, auch der des Films, wird seinem Auftrag nicht gerecht, wenn ihm die Worte fehlen, und er nicht fähig ist, Propa­ganda zu enttarnen, und prag­ma­ti­sche, frei­heit­liche Posi­tionen zu formu­lieren.

Jetzt immerhin beginnen sich Gegen­stimmen zu regen. Nach dem offenen Brief des Lite­ra­tur­be­triebs mit namhaften Autoren haben sich jetzt auch erste Stimmen der Filmszene zu Wort gemeldet.

Wir freuen uns, heute den Aufruf und die Namen der 50 Erst­un­ter­zeichner veröf­fent­li­chen zu können.

Dieser Aufruf wird sehr bewusst und von manchen Unter­zeich­ne­rinnen explizit gewünscht, bewusst am 9. November veröf­fent­licht, und ist damit als Stimme aus Deutsch­land unmiss­ver­s­tänd­lich im Kontext der schreck­li­chen Gescheh­nisse des 9. und 10. November 1938 zu verstehen.

Das ist klar und unmiss­ver­s­tänd­lich genug. Wie wirkungs­voll er ange­sichts der aktuellen Situation ist, hängt von der Bereit­schaft zur Unter­s­tüt­zung ab. Wie immer in solchen Fällen führt es in Sack­gassen, über einzelne Sätze und Formu­lie­rungen zu debat­tieren – entschei­dend ist der Wille, die Grund­in­ten­tion zu unter­s­tützen.