Cinema Moralia – Folge 309
Wir sind alle Israelis! |
![]() |
|
Kopfüber im kühlen Wasser: auch der Pool ist Ausdruck der westlichen Lebensform – Henrika Kulls Südsee spielt in Israel und hatte beim Filmfest München Premiere | ||
(Foto: Filmfest München 2023) |
»Und dann kam der 7. Oktober. Kein Krieg, kein Aufstand, nicht einmal ›Terror‹ im furchtbar gewohnten Sinn, sondern ein beispielloser Zivilisationsbruch. Mordlust, Triumphe des Quälens und Demütigens, Vernichtungswille. Die Bilder und Töne davon sind in der Welt und werden nicht mehr verschwinden.« – Georg Seeßlen, 29.11.2023
»Asche ist es, was von Menschen bleibt.« – Silvia Plath
Wir, die Filmleute und die Filmkritiker müssen uns zu Wort melden. Wir sind die Experten für Bilder und Worte. Und dieser Krieg ist ein Bilder-Krieg, ein Worte-Krieg, ein Krieg der mit verlogenen Rhetoriken und Propagandaangriffen, mit Deep-Fake-Attacken und mit Informationsmanipulation geführt wird.
+ + +
Es tut mir darum leid, wenn es in diesen Wochen manchmal etwas monothematisch zugeht. Das ist in meinem Kopf und meinem Herzen nicht anders. Und darum kann und will ich nicht anders, als das hier ausfechten und aufschreiben.
Das liegt auch daran, dass diese Angriffe, mehr als nahezu alles, was sich seit Bestehen der Reihe »Cinema Moralia« politisch, gesellschaftlich und kulturell ereignet hat, den Kern dessen berührt, warum ich Filme sehe und über sie schreibe. Es handelt sich
inklusive seiner wichtigen Nebenschauplätze – den oft idiotischen deutschen Debatten – um eine universale Herausforderung.
Denn der Angriff vom 7. Oktober war ein Angriff nicht nur auf Israel, sondern auf uns alle. Ein Angriff auf den Westen und die westliche Lebensform.
Und darum verstehe ich beim besten Willen nicht, weder rational, noch emotional, was in den Köpfen der vielen Terror-Relativierer und Israelhasser vor sich geht.
Wir konnten rufen: »Wir sind alle Amerikaner«; wir konnten rufen »Je suis Charlie!«. Warum können wir jetzt nicht rufen: »Wir sind alle Israelis«? Warum können wir nicht begreifen, dass wir alle angegriffen sind von der Hamas, und dass wir alle uns verteidigen gegen sie? Warum können wir nicht begreifen, dass es hier nicht zwei Seiten gibt, sondern nur eine einzige? Warum können wir uns nicht vorstellen, dass auch wir genau wie die Israelis uns verteidigen würden und dass auch wir genau wie die Israelis Kollateralschäden verursachen würden, wenn wir so angegriffen werden?
Mir ging es so, dass ich glücklich war und den Tränen nah war, als ich vergangene Woche die Gesichter der ersten Freigelassenen gesehen habe. Wir sind alle Israelis!
Ich finde es im Übrigen eine Zumutung, dass man im deutschen Fernsehen jubelnde Palästinenser zeigt, die freigelassen werden, parallel mit den Israelis. Sie werden auf eine Stufe gestellt, als ob dies dasselbe wäre.
Aber dies ist kein Geiselaustausch. Sondern Geiseln werden gegen Häftlinge ausgetauscht, gegen Kriminelle, Straftäter, zum Teil Terroristen.
Was wir verteidigen, wenn wir Israel verteidigen, ist glasklar: Wir verteidigen Universalismus. Wir verteidigen Menschenrechte. Wir verteidigen individuelle Freiheit. Was wir bekämpfen ist der Angriff auf uns alle; ein Angriff auf den Westen und die westliche Lebensform. Was wir bekämpfen ist Identitätspolitik, Identitätsdenken, Stammesdenken, das sich hinter antikolonialen Phrasen verkleidet, es ist Fundamentalismus.
+ + +
»Wie kommen wir da wieder raus?« fragte vor zwei Wochen die geschätzte Kollegin Dunja Bialas an dieser Stelle – eine sehr berechtigte Frage. Aber aus meiner Sicht zu früh gestellt. Denn noch kommen wir da gar nicht raus. Wir sind noch nicht mal richtig drin leider. Und wir müssen erstmal richtig hinein in die Dilemmata und auch die für uns unbequemen Fragen leider stellen. Wirklich: Leider!
+ + +
Wir sind in einem Kulturkampf. Aus einem Kulturkampf kommt man nicht so einfach wieder raus, man muss ihn führen. Auch wenn es unangenehm ist.
Eine Regisseurin, die den offenen Brief der Filmschaffenden unterzeichnet hat, sagt mir im Gespräch, sie habe »mindestens 50 Freunde verloren«. Sie meint immerhin nur die sogenannten Freunde auf den sozialen Netzwerken.
Eine Schauspielerin, Israelin mit deutschen Pass, lebt Neukölln. Hebräisch spricht sie dort nicht, auch nicht am Telefon, denn dann droht ihr Gewalt.
Wenn sie jemand fragt, woher ihr
Akzent stammt, dann behauptet sie, sie käme aus Rumänien. Denn wenn sie erzählen würde, wo sie wirklich herkommt, dann droht ihr Gewalt.
Ich kann nichts dafür, dass sie in Neukölln lebt und ich möchte damit auch nicht sagen, dass alle Neuköllner besonders gewalttätig sind. Ich möchte damit auch nicht sagen, dass die Drohungen, denen sie und andere ausgesetzt sind, nur daran liegen, dass Neukölln ein besonders migrantisch geprägter Stadtteil wäre – vielleicht ist das allerdings
sehr wohl der Fall, denn Neukölln ist kein einfach migrantisch geprägter, sondern ein arabisch geprägter Stadtteil. Vielleicht liegt das Ganze aber auch nur daran, dass Berlin ein Ort ist, in dem man manchmal den Eindruck einer »Failed City« bekommen kann, einer gescheiterten Stadt, und dass sich der Staat und auch die Polizei aus Vierteln wie Neukölln gern zurückzieht. Weil viele Menschen, auch welche, die nie CDU gewählt haben und die nicht »rechts« sind, das ändern möchten, darum hat die
rot-rot-grüne Regierung die letzte Wahl mit Pauken und Trompeten verloren.
Zwei in Berlin lebende Flüchtlinge und Emigranten aus ihrer diktatorischen Heimat bedanken sich für den offenen Brief, erklären, der habe sehr viel für sie getan, und sie fühlten sich »allein gelassen« unter ihren »falschen deutschen Freunden«, die sie, die Migranten, für ihren Antisemitismus oder einfach ihre Dummheit missbrauchten.
Ich sage ihnen, sie sollten noch den Offenen Brief selber unterschreiben, und wie wichtig das wäre, weil ihre Stimmen, die Stimmen von Migranten auf dem Brief leider unterrepräsentiert sind. Sie antworten mir, das würden sie auch gerne tun, könnten es aber nicht, denn sie fühlen sich in Berlin »nicht sicher«. Sie fürchten Drohungen aus ihrer eigenen Community und aus der linken Berliner Kulturblase.
Eine im Filmbereich gut vernetzte Frau, die auch Dozentin ist, erklärt mir, sie sei in ihrer Universität von mehreren Leuten hart kritisiert worden dafür, dass sie den Brief unterschrieben habe. Es gebe Kampagnen.
+ + +
Deutschland und die deutsche Kulturszene habe ein Berlin-Problem, schrieb ich hier letzte Woche. Denn im sehr speziellen Berliner Biotop gedeihen eine Menge sumpfige stinkende Blüten.
Es gab Widerspruch. Möglicherweise blicke ich etwas einseitig auf Berlin. Ich bin nicht sicher, ob Berlin sich selber überschätzt. In jedem Fall aber glaube ich, dass Berlin von Außen, vom Rest Deutschlands gewaltig überschätzt wird.
Und dass man sich zugleich nicht wirklich klar macht, was in Berlin gerade so los ist. Dass man deswegen sehr gerne das, was hier so los ist, für wirklich interessant und für den Nabel der Welt hält – dabei ist es ziemlich provinziell, ziemlich
uninteressant und manchmal einfach abstoßend.
Um das nicht einfach nur so hinzuschreiben, darum hier ein paar Beispiele.
+ + +
Über eine »perfide Prangerliste« berichtet der »Tagesspiegel«. Sie wird über Instragram verbreitet. Der Initiator sitzt in Berlin. Dort werden Kultur-Einrichtungen rot markiert, die »Pro Zionist« seien. Sie sollen für ihre »schändlichen Taten« »zur Rechenschaft gezogen« werden.
Wer aus
seiner proisraelischen Haltung praktische Konsequenzen zieht, der bekommt ein »Censorship« aufgeklebt. Grün gibt es für »Support« oder »Support/No statement«. Es gibt auch die Kategorie »Silent«.
Viele deutsche Einrichtungen werden dort an den Pranger gestellt, um auf die Liste zu kommen, genügt es, öffentlich um die Opfer des Hamas-Terrors getrauert zu haben.
Dass der Antizionismus einfach nur ein verkappter Antisemitismus, nichts anderes, sei am Rande notiert.
Auch der Spiegel berichtet darüber und urteilt: Der Verdacht, dass die Liste eine Art Manual ergeben soll, welche Institutionen gegebenenfalls zu meiden seien, liegt nahe. Und damit stünde der »Index.Palestine« direkt in der Logik der Bewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions), die Israel isolieren will, unter anderem auf dem Feld der Kultur.
Es ist damit klar: Es sind nicht die Kulturpolitiker und die angebliche »neue autoritäre Geschichtspolitik von ganz großen Koalitionen« (so zu mir persönlich ein FAZ-Redakteur), die jetzt die Namen von Künstlern des »Globalen Südens« sammeln, die BDS-Pamphlete zeichnen. Sondern es sind die BDS-Netzwerke selbst, die schwarze Listen aufstellen – natürlich nur im Namen antikolonialen Widerstands.
+ + +
Zweites Beispiel: Die ZEIT berichtet von Einschüchterung, Kampagnen und offenem Judenhass an der UdK (Berliner Universität der Künste). Studenten und Aktivistinnen von außerhalb betrieben Anti-Israel-Propaganda mit antisemitischen Symbolen, Dozenten wurden niedergeschrien, mit Sprüchen wie: »Jalla Intifada, von Dahlem bis nach Gaza!«
Im Text heißt es weiter:
»Die Aktion hat nicht nur den Präsidenten schockiert, sondern auch viele Studierende und Mitarbeitende der UdK: Obwohl sie den unterschiedlichsten politischen Richtungen angehören – von links bis konservativ – haben sie nun beschlossen, gemeinsam aktiv zu werden, weil sie befürchten, dass ihre Uni von radikalen Kräften gekapert wird.«
Eine Studi-Vertretung der UdK, die sich »AG Intersektionale Antidiskriminierung« nennt, hat ein Papier veröffentlicht, das neben viel anderem Unsinn und infamen Einseitigkeiten über Israel, das als Apartheidstaat bezeichnet wird, der einen Genozid verübe, auch behauptet: »In Berlin erleben wir täglich einen ungebrochenen Hass, Rassismus und Diskriminierung gegenüber Palästinenser*innen und Menschen, die sich solidarisch zeigen. Angesichts des bereits bestehenden strukturellen Rassismus innerhalb der deutschen Polizei, beobachten wir mit Schrecken die Kriminalisierung der Solidarität mit Palästina sowie das Verstummen von Stimmen, die den Staat Israel kritisieren.«
Derartige Verschwörungstheorien und Propaganda gehen einher mit Kommentaren gegenüber jüdischen Studenten, Israel sei doch selbst schuld am Angriff der Hamas.
Norbert Palz, 53, Architekt und Präsident der UdK kommentiert: »Der Protest am 13. November ... markiert eine neue Front, die nachhaltig und eindrücklich Fragen an den zukünftigen Universitätsbetrieb stellt. Mit den Aussagen, die am 13. November fielen, haben die Protestierenden den demokratischen Grund verlassen. Der universitäre Raum wurde zur Kampfzone. Mit dieser Demonstration haben wir einen Tiefpunkt universitären Miteinanders erreicht. Und wir alle sind gut
beraten, diese Eskalation nicht als Protest zu verstehen, der allein die UdK Berlin betrifft.
... Die Veranstaltung hat klargemacht, was vorher schon subtil in dieser Gruppe Studierender erkennbar war: Es mangelt ganz offensichtlich an Wissen über die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland. Auch über die hoheitlichen Aufgaben der Universität.
...Mit dem Vorwurf der Zensur meinen die Protestierenden eigentlich etwas anderes: Sie wollen keinen
Widerspruch. Es scheint ihnen zufolge nur eine gültige Perspektive auf den Konflikt zu geben. Abweichende Meinungen werden für ungültig erklärt, meist mit dem Argument, weiße Personen hätten kein Mitspracherecht oder seien ideologisch und rassistisch verblendet. Es gibt keinen Bedarf an einer differenzierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung.
Ich bin alarmiert. Grundsätze der Demokratie stehen auf dem Spiel und das nicht abstrakt, sondern sehr konkret. Die
Protestierenden haben verdeutlicht, dass sie mittels ihrer Theorie autokratische Strukturen legitimieren.
...Wir müssen sicherstellen, dass Studierende sich trauen, antisemitischen Behauptungen entgegenzutreten. Was wir derzeit erleben, ist eine Erosion von Fundamenten, die ich auch in dieser dystopischen Weltlage für stabil gehalten habe.«
+ + +
Ein israelischer Musikstudent berichtet, er habe Angst, wenn er in die UdK gehe. »Was ich seit dem 7. Oktober erlebe, ist teilweise echter Antisemitismus. ... Kurz nach dem Terrorangriff der Hamas und dem Beginn der israelischen Militäroffensive in Gaza wurde ich selbst abends um neun auf der Friedrichstraße beschimpft und bespuckt, von einem arabischsprachigen Kioskmitarbeiter. Wir waren zu dritt und sprachen Hebräisch. Er war allein, aber er fühlte sich offenbar sicher, als er uns beschimpfte. Wir riefen die Polizei, die Beamten rieten uns, auf der Straße besser nicht mehr Hebräisch zu sprechen. Eigentlich wollten sie der Sache nachgehen, aber bei mir haben sie sich nicht mehr gemeldet. Ich glaube, die nehmen das nicht so ernst. Deshalb fühle ich mich hier nicht mehr sicher.«
Josefine von der Ahe, Studentin an der UdK und an der Humboldt-Universität wird in der ZEIT wie folgt zitiert:
»Als sich ein Großteil meines Instagram-Feeds propalästinensisch äußerte und das Leid der israelischen Bevölkerung komplett unterschlug, war ich zunächst wirklich erschüttert. Viele Aussagen meiner Kommilitonen und auch Freunde waren menschenverachtend. Trotz allem habe ich versucht, einzelne Argumente einzuordnen und zu überprüfen, inwiefern sie historisch
vertretbar sind. Doch eigentlich war mir von Anfang an bewusst, was diese Behauptungen in den sozialen Medien bedeuten: dass sie antisemitisch sind.
Andere Studierende haben am 13. November nicht verstanden, welche Tragweite der Protest hat. Wenn ich das Gespräch zu Kommilitonen suche, merke ich häufig, dass viele reflexartig ihr Bedauern für 'den Genozid in Palästina' äußern. Wenn man dann aber mit ihnen ins Gespräch kommt, sagen sie schnell, sie wüssten wenig über den
Sachverhalt. ... Das liegt auch an der Lehre. Der postkoloniale Diskurs wird in vielen Fachbereichen der UdK sehr einseitig und unwissenschaftlich geführt. Es fehlt an ernsthafter, analytischer Auseinandersetzung. Mir wird das vor allem im Vergleich zu meinen Seminaren an der Humboldt-Universität bewusst.
Gegenstimmen gibt es wenige, weil zu wenig Vorwissen herrscht. Und wenn Studierende widersprechen oder einen kritischen Diskurs suchen, wird ihre Meinung von
Studierenden, aber auch manchen Lehrenden als rassistisch oder kolonialistisch delegitimiert. Diese Art der Rhetorik führt dazu, dass postkoloniale Argumente sehr simpel für einseitige politische Interesse instrumentalisiert werden können – wie jetzt gerade in der Debatte um den Nahostkonflikt.«
+ + +
Von einer Art von Gesinnungsprüfungen berichtet der »Tagesspiegel« auch in Bezug zu anderen Universitäten.
Ob an der Universität Potsdam, deren Präsident Oliver Günther erst »die beispiellosen Angriffe auf Israel durch die Hamas« verurteilte, dann aber Israel bis an die Grenze der
Täter-Opfer-Umkehr belehrte, ob an der FU Berlin, wo jüdische Studenten teilweise Angst haben, die Uni zu betreten; ob an der Humboldt-Universität, wo der Politologe und Islamwissenschaftler Rami A., der an der HU als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist, in mehreren Social-Media-Posts vom »Genozid« Israels schwadroniert, und Vertreter des liberalen Islams als deutsche »Hauskanaks, die das deutsche Gewissen erleichtern«, bezeichnet. Woraufhin die HU-Sprecherin Heike Bräuer
öffentlich fein säuberlich im Tagesspiegel zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit unterscheidet.
Das Blatt folgert: »Vor allem in Berlin ist zu beobachten, dass die pro-palästinensische Seite an den Hochschulen den Diskurs dominiert.«
+ + +
Jeden Tag gibt es allein in Berlin acht antisemitische Übergriffe berichtet der RBB – es ist eine einzige Tragödie.
+ + +
Ein nicht geringer Teil der Studenten benimmt sich, wenn ihnen widersprochen wird, wie die SA-Banden, die 1933 die Hochschulen gesäubert haben. Oder wie die roten Garden während der Kulturrevolution. Es sind rotlackierte Faschisten.
Aber sie wären nicht so mächtig und laut ohne ihre ideologischen Zuarbeiter in Kunst und Wissenschaft. Ihre Rolle sollte thematisiert werden.
+ + +
Hier stößt die berechtigte Forderung nach Differenzierung und Kontextualisierung an ihre Grenzen. Es geht einerseits natürlich darum, dass man sich dem Zwang entzieht, sich immer zu entscheiden und zu positionieren. Jeder hat das Recht dazu, kein öffentliches Bekenntnis abzulegen. Man muss nicht zu allem etwas sagen. Und schon gar nicht muss man zu allem etwas sagen müssen.
Aber andererseits geht es auch um Entschiedenheit, um Klarheit, darum, keinen Raum für falsche Interpretationen und Zungenschläge offenzulassen. Es geht einerseits um die Notwendigkeit, sich zu entscheiden; andererseits darum, dass man den Raum für Zwischentöne und das »Ja, aber« offen hält.
Allerdings hat alles auch seine Zeit. Im Augenblick ist nicht die Zeit des »Ja, aber«.
»Ich fühle mich nicht berufen dazu etwas zu sagen« – diese Aussage kann Bescheidenheit ausdrücken. sie kann aber auch Symptom der Feigheit sein, der Angst davor, »das Falsche« zu sagen, des Unwillens zur Parteinahme und vor allem des Unwillens der Anstrengung, die zur so einer Parteinahme gehört. Es ist eine Anstrengung des Begriffs, eine Anstrengung des moralischen wie politischen Nachdenkens.
+ + +
Letzte Woche hatten wir den »PEN Berlin« noch gelobt für Deniz Yücels klare Worte in der Antisemitismus-Causa. Daran halten wir fest.
Bedenkenswert ist jedoch die Kritik an Yücels Kolleginnen Susan Neiman und Eva Menasse, die der Historiker und Verleger Ernst Piper jetzt in seinem Austrittsschreiben formuliert, und auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht. Wir zitieren:
»Der Hass gegen Israel war schon immer weit verbreitet. Ich habe als Verleger, Literaturagent, Herausgeber, Redakteur etwa 30 Bücher von Überlebenden der Shoah betreut. Als NS-Historiker habe ich 40 Jahre lang versucht, einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Deutschen gut informiert sind über diese Zeit ... Heute habe ich den Eindruck, dass das Gesicht des PEN Berlin in starkem Maß von Susan Neiman und Eva Menasse geprägt wird. Die selbstherrliche Verachtung, mit der beide über Israel sprechen, fand ich schon immer schwer zu ertragen. ... Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Existenz Israels gefährdet wie noch nie, auch wenn die ahnungslose Eva Menasse das Gegenteil behauptet. In dieser Situation möchte ich einfach nicht länger demselben Verein angehören, auch wenn ich normalerweise mit unterschiedlichen Meinungen gut umgehen kann.«
+ + +
»Schädliche Briefe« behauptet Sebastian Seidler in der »Neuen Zürcher Zeitung« über die Offenen Briefe im Zusammenhang mit den aktuellen Debatten über Antisemitismus, Judenhass und Terror gegen Israel – aber wofür sollen sie schädlich sein? Seidler behauptet, sie trügen nicht zur Lösung von Konflikten bei. Damit hat er zweifellos recht. Und trotzdem ist dies nur eine leere Behauptung – denn niemand hat je gesagt, dass diese Briefe irgendetwas lösen sollen. Seidler klingt
wie ein Kindergärtner, bei dem die Kleinen nur den Mund aufmachen dürfen, wenn sie etwas Konstruktives zu sagen haben.
So laufen aber Diskurse nicht.
Konstruktiv, wenn auch in einem anderen Sinn, sind offene Briefe sehr wohl. Sie sind Bekenntnisse, sie konstruieren und bauen diskursiv an der Gesellschaft mit. Und sie tragen etwas zur gesellschaftlichen Befriedung bei, weil sie im Fall der nun bald 1200 Filmschaffenden der Gesellschaft signalisieren: Es gibt eine lautstarke Position gegen Antisemitismus. Weil sie dies den Juden und Jüdinnen signalisieren, dass sie nicht allein sind, dass wir Unterzeichnerinnen und
Unterzeichner ihre schreckliche Einsamkeit und die Eiseskälte der deutschen Mehrheitsgesellschaft spüren und uns dafür schämen.
Weil sie in Israel erfreut wahrgenommen und ernst genommen werden und weil man von Israelis Nachrichten der Freude und des Dankes bekommt. Der Nutzen solcher Offenen Briefe liegt auf der gleichen Höhe wie der Nutzen einer Demonstration, oder wie die Lichterkette, die in München Anfang der 90er Jahre ein klares Signal gegen Ausländerhass gesetzt hat.
In digitalen Zeiten gibt es dann eben Offene Briefe und Facebook-Bekenntnisse.
+ + +
Georg Seeßlen – endlich ein Filmkritiker – schreibt es heute ziemlich klar in der taz: Die liberale Zivilgesellschaft Israels braucht Solidarität von Außen. Stattdessen ist sie mit einer anti-israelischen Stimmungswelle aus dem Westen konfrontiert.
Israelis und Juden fühlen sich »verdammt alleingelassen«. Seeßlen findet auch hier wieder mal das, was so vielen fehlt: Klare
Worte.
»Ein beispielloser Zivilisationsbruch ... Die Bilder und Töne davon sind in der Welt und werden nicht mehr verschwinden. ...
Das Ausmaß an Zerstörung und Leid lässt einen schließlich, jenseits aller politischen Überlegungen und historischer Diskurse, nur noch hoffen, dieser Schrecken möge endlich aufhören. Aber wie? ...
Was ist in den Köpfen los von Musikern, die ausgerechnet die kulturellen Kraftlinien unterbrechen wollen, von Zeichnern, die ein Comic-Art-Festival
verlassen, weil es eine Sponsor-Beteiligung der israelischen Botschaft in Italien gibt (eine Botschaft, nebenbei, die meines Wissens nach nie durch nationalistische Rhetorik aufgefallen ist)?
Was ist los im Kopf der Hollywood-Schauspielerin Susan Sarandon mit 'linker' Vergangenheit, die in die Vernichtungshymne der Hamas einstimmt, was ist los mit den Mitgliedern einer feministischen Gruppe, die nicht einmal Vergewaltigung und Femizid aus dem Narrativ vom 'Widerstand'
ausnehmen will, mit einer Klimaaktivistin, die ihren moralischen Eifer plötzlich gegen Israel richtet?
Was ist los in den Köpfen von Studentinnen und Studenten, die im Namen von 'Postkolonialismus' und 'Anti-Apartheid' hinter 'Free Palestine'-Bannern herlaufen, als könnten sie es gar nicht erwarten, dass Israel und seine Menschen verschwinden und einem weiteren Terrorstaat Platz machen, in dem Frauen verprügelt werden, weil sie sich nicht an die Kleidervorschriften halten,
Homosexuelle ermordet und Kritiker*innen gefoltert werden? Augenblicklich, fern von Tel Aviv, spüre ich Menschen im Herzen, die sich verdammt alleingelassen fühlen.
Palästinensische genauso wie israelische Menschen. Denn für palästinensische Menschen, die sich eine friedliche, demokratische und kooperative Heimat wünschen, ist die antiisraelische Stimmungswelle aus dem Westen genauso mörderisch wie für die Israelis selbst.«
Ein großartiger Text!
+ + +
Wir haben alle viel zu viel Angst, wir sind auch zu bequem und manchmal müde; wir ziehen uns zurück. Wir sollten aber lauter werden und wacher und engagierter. Wir sollten den Extremisten der Rechten und Linken, die so tun, als hätten sie die Mehrheit, nicht die Öffentlichkeit überlassen.