Cinema Moralia – Folge 311
Der London Komplex |
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Die Überraschung zumindest ist Claudia Roth geglückt... (Tricia Tuttle 2022) | ||
(Foto: Raph_PH · CC BY 2.0) |
Irgendetwas muss es sein, das Berlin mit London verbindet; zumindest in den Augen der Kulturfunktionäre, die über Posten entscheiden. Denn es ist langsam erklärungsbedürftig, warum es immer wieder Menschen sind, die nicht in England oder Großbritannien, sondern in London arbeiten, und die auch nicht notwendig Engländer oder Briten sind, die nach Berlin geholt werden, um irgendeine kulturelle Institution vor dem Untergang zu retten. Und die sehr regelmäßig dabei scheitern.
So war es mit Ben Gibson und der DFFB. So war es mit Chris Dercon und der Volksbühne. So war es mit Neil McGregor und dem Humboldt-Forum.
Und so wird es, dies ist mein Verdacht, den ich hier und heute (viel zu früh natürlich) äußern möchte, auch mit Tricia Tuttle sein.
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Tricia wer? Die Überraschung zumindest ist Claudia Roth geglückt. Als kurz nach 12 Uhr am Dienstagvormittag die ersten Meldungen durchs Internet purzelten, fingen alle Vertreter der internationalen Filmwelt an, zu googeln.
Dann wurde klar: Tricia Tuttle, eine 53-jährige Amerikanerin, die mal in einer Indie-Rockband
gespielt hatte, und in den letzten zehn Jahren in London gelebt, zuletzt von 2019-2022 als Leiterin des Londoner Filmfestivals, wird neue Chefin der Berlinale.
Es wurde viel diskutiert, aber dieser Name fiel nie: Tricia Tuttle. Vielleicht hat das doch seine Gründe.
Ob es klug ist, jemanden zu nehmen, dessen Ernennung im allerersten Moment mal befremdete Reaktionen verursacht und dann ein »äääähhh... wer ist denn das?«, darf bezweifelt werden.
Danach kamen schnell die Bewerbungslikes der üblichen Verdächtigen und all der Schleimer, die noch fünf Minuten zuvor nicht wussten, wer es ist und dann posteten: »Wie toll! Eine phantastische Entscheidung«
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Kann ein Prozess, der so falsch begonnen hat, gute Ergebnisse schaffen? Über den schlechten Entscheidungsprozess haben wir gesprochen: Keine Ausschreibung, keine öffentlich benannten Kriterien, eine »Findungskommission«, die höchst einseitig und mangelhaft besetzt war, keine Transparenz, auch nicht über Suche, Findung, Kandidaten, Entscheidung.
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Die Aufgaben und Herausforderungen der Berlinale haben sich nicht verändert, es ist alles im letzten Jahr nur noch schlimmer geworden: Der Ruf des Festivals und der Stellenwert des Festivals, die Frage, wo dieses Festival im Konzert der anderen Großen steht, ist das eine. Dagegen steht der Anspruch der Berlinale, »Publikumsfestival« zu sein, eine Propagandaformel, die Dieter Kosslick, der eigentliche Zerstörer der Berlinale als relevantes A-Festival, allzu erfolgreich in die
Welt und die Entscheiderköpfe gesetzt hat. »Publikumsfestival« heißt in der Praxis: Zuschauer machen, Einnahmen machen, Quote, auch auf Kosten der Programmqualität. Es heißt, populistisch zu sein. Tuttle ist bestimmt eine Populistin und die Frage ist ernstgemeint, was daran gut und was daran schlecht sein könnte. Sie wird jedenfalls deswegen gewollt, weil sie etwas fürs Publikum getan hat: Schwellen gesenkt, gestreamt, Filme kostenlos nachgespielt. Auf Deutsch: Sie hat die
Qualität des Spielorts Kino beschädigt.
Aber ist es wirklich wichtig, dass das Publikum glücklich ist? Oder eher dass der richtige Film beim Festival läuft?
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Sie kommt vom Management her, tat viel für Netflix und LGTBQ, quasi etwas für alle Seiten des neoliberalen Komplex.
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Ist es eigentlich gut, dass Tricia Tuttle nicht in den üblichen Bubbles unterwegs ist? Und wissen wir das überhaupt wirklich, oder ist sie nur in unseren Bubbles nicht unterwegs?
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Sie ist eigentlich schwach, denn sie hat keine Hausmacht. Nicht in der Industrie, nicht in Berlin. Sie kennt die Berlinale nicht, und die Berlinale kennt sie nicht. Auch Berlin kennt sie nicht, und das Argument, das gegen ihren Vorgänger vorgebracht wurde, dass er nämlich auch nach vier Jahren kaum Deutsch kann, das wird einstweilen auch gegen sie vorgebracht werden.
Ihre Position ist keineswegs beneidenswert. Vielleicht wollte man aber genau das im BKM: Vielleicht wollte man
eine »schwache« Person, eine, die gegen das BKM nicht gegenhalten kann, eine, die »formbar« ist, die Anweisungen folgt, für die dieser Job die Chance ihres Lebens ist.
Andere mögliche Kandidaten wären keineswegs schwach gewesen. Die Frage ist, ob es ein Pluspunkt ist, dass sie von außen kommt, denn sie spielt nicht auf Augenhöhe mit den Barberas und den Frémaux und den ganzen anderen. Das gefällt zwar manchen, aber auf die kommt es nicht an, und selbst sie werden sofort anders denken,
wenn sie selbst unter dem weiteren Sinkflug der Berlinale leiden.
Am Ende geht es nur darum, wie die Berlinale performt. Und bei der Performance der Berlinale in der Filmcommunity interessiert sich niemand dafür, ob die Leiterin nett ist, oder ob sie eine Außenseiterin ist; man interessiert sich nur für die Performance.
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Es wird auch für sie darum gehen, Politik zu machen und zwar Politik im traditionellen Sinn. »Sie muss Verantwortung abgeben«, sagen jetzt viele, vor allem jene, die immer dann Angst bekommen, wenn einer allein etwas bestimmen darf. Das ist einerseits richtig, denn die Frau wird nicht alles machen können, insbesondere nicht die Filmauswahl komplett persönlich verantworten.
Andererseits muss sie genau das tun. Sie muss ein Alphatier sein, sie muss eine Superheldin sein. Denn
wie ein Fußballtrainer wird am Ende sie nach den Ergebnissen gemessen werden, nicht der Assistenztrainer, nicht der Scout, nicht der, der im Hintergrund vielleicht irgendwelche Strategiegespräche führt. Das alles interessiert niemanden, es interessiert nur, wer dem Ganzen vorsteht, wer die Direktorin ist. Sie wird ihren Kopf hinhalten müssen, und im Misserfolgsfall wird dieser Kopf rollen.
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Zuerst rollten andere Köpfe: Minuten nach der Meldung befremdete die Nichtverlängerung des Vertrags von Dennis Ruh, des Chefs des Filmmarkts.
Andere Verträge wurden, wie man hört, über 2024 hinaus verlängert. Aber warum?
Man fragt sich schon, warum jemand der auch nicht mal richtig im Amt ist, schon
Entscheidungen trifft und vor allem Personalentscheidungen und Verträge nicht verlängert?
Dass das alles – wie immer wenn Claudia Roth etwas anpackt –, auch mal wieder ein Kommunikationsdesaster der trampeligen, nur von sich selbst begeisterten Kulturstaatsministerin ist, sei nur erwähnt.