21.12.2023
Cinema Moralia – Folge 312

Wer andern eine Chance gibt...

Laurel und Hardy 1938
Stan Laurel (links) und Oliver Hardy (1938)
(Foto: Harry Warnecke · National Portrait Gallery NPG.94.47, CC0)

Fällt selbst herein, doch nicht allein. Vertiefte und satisfaktionsfähige Anmerkungen zur nächsten Leitung der Berlinale, und ein paar andere vorweihnachtliche Gedanken – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 312. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Fair is foul and foul is fair...«
- Macbeth

Es gab auf verschie­denen Kanälen, auch direkt bei mir, über­durch­schnitt­lich viele Reak­tionen und auch viel Kritik an meinem schnellen Urteil über die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle, von der ich noch nicht weiß, ob sie jetzt »Direk­torin« oder Inten­dantin heißt.
Die Kritik gab es natürlich vor allem, seien wir ehrlich, weil es ein negatives Urteil war – denn geurteilt haben alle. Nur über­ra­schend positiv. Über­ra­schend vor allem, weil kaum einer sie auf dem Schirm hatte und die meisten sie 24 Stunden vor ihren fröh­li­chen Jubel­texten noch gar nicht kannten.

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Und dann diese Sprüche: Man soll ja doch erstmal eine Chance geben. »Gebt ihr doch erstmal eine Chance!« Wieso? Wieso muss man ihr eine Chance geben? Wieso müssen wir ihr eine Chance geben – wer ist überhaupt dieses »wir«? Ist damit die deutsche Film­branche gemeint, ist damit die inter­na­tio­nale Film­com­mu­nity gemeint, ist Berlin gemeint, die deutschen Medien, die Öffent­lich­keit (was immer das sein soll)? Wer ist dieses wir? Dieses wir gibt es überhaupt nicht. Und wieso muss ich ihr eine Chance geben? Wer bin ich das zu tun?

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Das wich­tigste aber: Sie hat diese Chance doch längst! Wir müssen ihr keine Chance geben und wir sind auch gar nicht dazu imstande. Denn sie hat ihre Chance bekommen. Jetzt muss sie sie nutzen. Und unsere Aufgabe ist, sie dabei zu begleiten, zu sagen, was dafür und dagegen spricht, dass sie diese Chance nutzt. Aufgabe ist, zu beur­teilen wie sie diese Chance nutzt, zu konsta­tieren, was sie richtig macht und was sie falsch macht. Wir sind nicht die Kultur­staats­mi­nis­terin, die irgend­wann über ihr Schicksal entscheiden wird, so wie sie jetzt schon drüber entschieden hat. Wir sind größ­ten­teils noch nicht mal die Film­schaf­fenden, die einen so massiven Einfluss haben. Es ist dies alles ein völliges Miss­ver­s­tändnis unserer Rolle, dass immer davon geredet wird, wir müssten ihr eine Chance geben.

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Es gab aller­dings auch umgekehrt einigen Beifall. Ein erfah­rener Szene­be­ob­achter mailte mir »...alles korrekt soweit«.
Ein früherer lang­jäh­riger Berlinale-Mitar­beiter – nein, nicht Dieter Kosslick – schrieb mir: »...finde ich deinen Text gut. Natürlich hat das perfide Hinter­gründe und das London Film Festival geleitet zu haben ist eher eine abtur­nende Referenz, denn das ist ein 'Festivals of Festivals', ein reines Nach­spiel­fes­tival fast ohne Events und eine akade­mi­sche Pflich­tü­bung eines Film­mu­seums. Dass die inzwi­schen im ganzen Land Vorfüh­rungen machen, ist auch keine Empfeh­lung, ebenso wenig wie die Online-Affinität. Und die LGBTQ-Sachen, für die sie zunächst zuständig war, sind ja eher Panorama-Terri­to­rium bei der Berlinale. Die ja funk­tio­nie­rende Filmmesse dürfte sie auch versem­meln und weil die nächste Regierung wohl eine andere oder gar keine Kultur­mi­nis­terin haben dürfte, ist die Kurz­zei­tig­keit ihres Enga­ge­ments ebenfalls fast schon beschlossen. In Cannes und Venedig dürften die Sekt­korken geknallt haben und in Locarno und Toronto auch noch. Ab gleich in die dritte Liga.«

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Plötzlich scheint es, alle fänden Tricia Tuttle gut oder sie sagen sinngemäß oder wörtlich: Jetzt gebt ihr doch mal eine Chance.
Warum aber sollte artechock das auch schreiben? Warum sollen wir auch noch schreiben, was alle schreiben? Wir werden die ersten sein, die, wenn sie uns positiv über­rascht, sie loben werden und diese positive Über­ra­schung einge­stehen. Aber sie kann uns auch nur positiv über­ra­schen, weil die Tatsache, ob wir eine Chance geben oder nicht, voll­kommen irrele­vant ist. Das, was relevant ist, ist, dass die Rahmen­be­din­gungen denkbar schlecht sind und sich kein bisschen dadurch ändern, dass sie benannt wurde und nicht jemand anders. Wir glauben aller­dings tatsäch­lich, dass diese Rahmen­be­din­gungen von anderen Personen wesent­lich besser geändert werden könnten. Unter den auch öffent­lich genannten Personen gibt es in jedem Fall zwei, die das sehr gut hätten machen können.

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Ein Nieder­länder und ein Schweizer hatte ich vor zwei Wochen geschrieben, hätten die besten Chancen. Weil die Namen schon vor Tuttles Ernennung öffent­lich wurden, weil sie tatsäch­lich zu Kandi­daten in der engeren Auswahl gehörten, kann man sie guten Gewissens nennen: Matthijs Wouter Knol [https://de.wikipedia.org/wiki/Matthijs_Wouter_Knol] und Christian Jungen [https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Jungen] würden beide sehr gute Berlinale-Chefs sein. Aus ganz unter­schied­li­chen Gründen: Wouter kennt die Berlinale, viele Mitar­beiter und überhaupt die Berliner Szene aus dem Eff-Eff. Und Jungen ist einer der führenden Experten für Film­fes­ti­vals. Beide sind auf ihre je eigene Weise Intel­lek­tu­elle. Bei Jungen hätte man eine spannende Mischung aus Liebe fürs Autoren­kino und Liebe für Hollywood erwarten können, bei Wouter einen womöglich etwas stärkeren Fokus auf Nicht-US-Autoren­filme.

Eine solche Expertise muss Tuttle erst unter Beweis stellen. Sie ist hier ein vergleichs­weise unbe­schrie­benes Blatt.

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Trotzdem jubelt schon wieder der »Tages­spiegel«: »Roth ist mit ihrer Entschei­dung ... ein Coup gelungen. Zumal einer von inter­na­tio­naler Ausstrah­lung, der sicher auch von der Konkur­renz wahr­ge­nommen wird. ... Eine supers­marte, groß­zü­gige und kolla­bo­ra­tive Leiterin ...«

Man lobt, Tuttle habe die »Trans­for­ma­tion« einge­leitet: Das heißt Erwei­te­rung des Digi­tal­an­ge­bots, viel Streaming, viele Stream­er­filme, Ableger in anderen Städten, »Die Zahl an promi­nenten Gästen ist inzwi­schen schwin­del­erre­gend« (Tages­spiegel), Mento­ren­pro­gramm, »unter ihrer Leitung stieg die Reich­weite des Festivals um über 50 Prozent. Damit zählt das London Film Festival heute zu den inter­na­tional wich­tigsten Publi­kums­fes­ti­vals.« (ebenda).

Und natürlich: »ganz­heit­liche Sicht« auf den Festi­val­be­trieb: »Meine große Leiden­schaft gilt der Frage, wie man Festivals inklu­siver und einla­dender gestalten kann.«

Viel­leicht sollte sie ihre Leiden­schaft mal fürs Erste auf die Frage der künst­le­ri­schen Qualität konzen­trieren.

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Bei einem posi­ti­veren Urteil erlebt ein Autor viel seltener, dass ihm gesagt wird: »Warum so viel Vorschuss­lor­beeren? Warte es doch mal ab...«

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Die Pres­se­kol­legen haben viel Falsches geschrieben: Tuttle habe das Londoner Festival »zehn Jahre« geleitet. Es waren offiziell vier und eines als Inte­rims­chefin. Carlo Chatrian sei »gekündigt« worden. Brauchte man nicht, denn der Vertrag lief aus und er erklärte selbst, dass er ihn nicht verlän­gern wolle. Klar: Dafür gab es Gründe. Trotzdem geht es genauer.

Wenn im deutschen Kultur­be­trieb eine »Fremde« oder ein »Fremder« reinkommt, gilt das immer als ein Joker und Pluspunkt, der tenden­ziell positiv bewertet wird, weil zu allen anderen, die aus einem inneren Kreis kommen, »aus unserer Mitte heraus«, eher Ablehnung kommt.

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Diese Entschei­dung ist wie so viele Entschei­dungen von Claudia Roth erratisch, vor allem um Origi­na­lität bemüht in diesem Sinne auch ein bisschen eitel.

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12.500 akkre­di­tierte Jour­na­listen, 80.000 Festi­val­be­su­cher, 2.000 Hono­ra­tioren jedweder Couleur und 1.000 reser­vierte »Team«-Plätze für einen Holly­wood­block­buster – nein, das ist nicht die Berlinale, sondern Cannes.

Insofern leitet Tricia Tuttle ab kommenden März ein vergleichs­weise ganz kleines Film­fes­tival.

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Eintritts­karten für die Berlinale können im kommenden Jahr nur online gekauft werden. Da kann Tuttle mal anfangen, etwas zu verändern. Denn es soll noch ein paar ältere Berlinale-Besucher geben, und auch junge, die aus irgend­einem Grund kein Smart­phone haben oder die nicht online einkaufen möchten. Sie sollten nicht ausge­schlossen werden. Inklusion heißt genau das. Es heißt, das einzu­schließen, was dem eigenen Mindset wider­spricht und von dem man nicht einsieht, warum es nötig sein soll.

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Für den Fall, dass das gesagt werden muss: Es ist mir voll­kommen egal, ob jemand lesbisch ist oder schwul oder hetero oder irgend­etwas anderes. Es ist mir auch egal, ob jemand das überhaupt in der Öffent­lich­keit erwähnt wissen möchte. Ich erwähne es nicht. Ich halte es nicht für einen wesent­li­chen Faktor für oder gegen eine Position in der Kultur.

In dem Moment aber, in dem aus diesem persön­li­chen Merkmal ein iden­ti­täts­po­li­ti­scher Faktor oder sogar ein iden­ti­täts­po­li­ti­scher Trumpf werden soll, wird es zum Problem. Es stört mich, wenn in Diskus­sionen der Satz fällt: »Es ist gut, dass eine lesbische Frau erstmals in Deutsch­land so einen Posten hat«. Oder »Es ist schlecht, dass ausge­rechnet ein schwuler Mann gekündigt wurde.«
Dies sind keine Faktoren, die im künst­le­ri­schen oder kultur­po­li­ti­schen Bereich eine Rolle spielen dürfen. Genau das ist aber zunehmend der Fall.

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Wie sagen die Gebrüder Grimm so treffend: »Die klare Sonne bringt’s an den Tag.«