07.03.2024
Cinema Moralia – Folge 317

Gute Menschen unter sich

W - Ein missverstandenes Leben
Ein missverstandes Leben: Oliver Stones W
(Foto: Metropolitan FilmExport)

Fallen der Freiheit, Ränke der Rebellion: Wie böse ist Oliver Stone? Und wie gut sind die Berlinale-Macher? Oder sind das vielleicht einfach falsche Fragen? – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 317. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Never unde­resti­mate the power of jealousy and the power of envy to destroy. Never unde­resti­mate that.«
Oliver Stone

Verstaubt sind die Gesichter – dass deutsche Terro­risten ausge­rechnet Staub und Klette heißen, sagt mindes­tens soviel über Deutsch­land wie über die RAF. Im Verhältnis dazu hat der dritte Mann, der jetzt irgendwo in den Gedärmen Berlins gejagt wird, einen geradezu poeti­schen Namen: Garweg = gar weg! Immerhin hat uns und den Boulevard die Räuber­jagd von Berlin ein bisschen über die nicht nur am Ende verkorkste Berlinale hinweg­ge­tröstet.

Um Gottes Willen bloß keine RAF-Romantik – aber eine gute Film­hand­lung ergibt die Geschichte der Terror-Oma von Kreuzberg schon. Stellen wir uns das mal vor: Cate Blanchet im Trench­coat mit Sonnen­brille zu Tag- und Nachtzeit, und die Knarre griff­be­reit, aber eigent­lich nur auf der Suche nach einem Platz an der Sonne und einem jungen Lover. Die junge, noch ideo­lo­gisch gefes­tigte Blanchet-Figur wird von Saoire Ronan gespielt.

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Das Ganze ist übrigens auch ein Beispiel dafür, wie gefähr­lich die digitalen Medien sind. Die einzigen, die das erkannt haben und uns gleich Lebens­hilfe geben, sind wieder mal die Kollegen von der BILD-Zeitung: »RAF-Terro­ristin verriet sich bei Facebook« titelte das Revol­ver­blatt 5 Zenti­meter hoch am 29. Februar, darunter dann: »Im Internet tanzte die Terro­ristin Samba«. Genau gesagt tanzte sie natürlich nicht »im Internet«, sondern ganz analog in einer Kreuz­berger Tanz­gruppe (und »im Jahre 2011 beim berühmten Berliner 'Karneval der Kulturen'«, aber wir haben schon verstanden: »Die unter­ge­tauchte RAF-Terro­ristin gönnte sich öffent­li­chen Facebook-Account ... Jour­na­listen kamen Daniela Klette (65) mit Gesichts­er­ken­nungs-Software auf die Spur«.)

Auch der Spiegel gibt sofort prak­ti­sche Ratschläge: »Wie Facebook-Fotos eine Terro­ristin verraten können. Ist Gegenwehr noch möglich?«

Wir freuen uns derweil darauf, wie demnächst jetzt die 400 unter­ge­tauchten Neonazi-Terro­risten aus ihren Bauwägen in Lich­ten­rade und Reine­cken­dorf heraus­ge­holt und fest­ge­nommen werden.

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FOMO, die »Fear of missing out«, kennen wir seit Jahren, auch aus persön­li­cher Erfahrung. Ich habe bei der Berlinale jetzt JOMO gelernt: die »Joy of missing out«.

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Nach der Berlinale ist vor der Berlinale. Kein Tag vergeht, und das nicht nur in Berlin, ohne irgend­welche traurigen neuen Geschichten über die zurück­lie­gende Berlinale.

Die Süddeut­sche Zeitung berich­tete jetzt in einem ausge­zeich­neten, gut recher­chierten Text nicht nur über die Fassungs­lo­sig­keit über das kata­stro­phale Ende der Chatrian-Berlinale, sondern auch darüber, dass die Berlinale die Opfer der Hamas bewusst totschweigen wollte. Warum? Weil der Apparat der Berlinale von einsei­tiger Part­ei­nahme für die arabische Seite und von struk­tu­rellem Anti­se­mi­tismus geprägt ist.

»Was man nicht hörte auf dieser Berlinale? Etwa den Namen David Cunio. Der am 7. Oktober mit seiner Familie im Kibbuz Nir Oz in einem Sicher­heits­raum kauerte und hörte, wie die Terro­risten näher­kamen, bis sie ihn, seine Frau und seine drei­jäh­rigen Zwil­lings­töchter entführten. Seine Frau und seine Töchter wurden während einer Feuer­pause am 27. November frei­ge­lassen, aber Cunio sitzt noch immer als Geisel irgendwo im Gaza­streifen. Und damit schwebt ein Mitglied der Berlinale-Community in Lebens­ge­fahr.
2013 nahm David Cunio als Haupt­dar­steller des Films 'Youth' am Festival teil, der Film lief in der Sektion Panorama, das ist dieselbe Kategorie, in der jetzt auch der Film 'No Other Land' ausge­zeichnet wurde.«
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»Gerade in den letzten Jahren mischte das Festival bei poli­ti­schen Unge­rech­tig­keiten ja immer wieder mit. Waren Filmleute in Gefan­gen­schaft, meldete sie sich zu Wort. 2020 forderte die Berlinale das iranische Regime dazu auf, die ›Menschen­recht­lerin und Akti­vistin Nasrin Sotudeh unver­züg­lich und bedin­gungslos frei­zu­lassen‹. Das Festival protes­tierte gegen die suda­ne­si­schen Behörden und forderte „die unver­züg­liche Frei­las­sung“ des suda­ne­si­schen Filme­ma­chers Hajooj Kuka. Und auf die Inhaf­tie­rung des irani­schen Regis­seurs Jafar Panahi reagierte man mit „Trauer und Entrüs­tung“.
Was also ist mit den Geiseln im Gaza­streifen, was ist mit dem Schau­spieler David Cunio?«
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»so bleibt der Eindruck: Kritik an Israel wollte man haben auf diesem Filmfest. Kritik an der Hamas und deren Verbre­chen eher nicht. Einen Vorschlag für ein Panel während der Berlinale, der bei der Akademie für Film und Fernsehen einge­reicht wurde zum Thema Meinungs­frei­heit und Anti­se­mi­tismus, hatte der geschäfts­füh­rende Vorstand der Akademie abgelehnt. Dabei zielte das Konzept – zumindest dem Entwurf nach – ins Herz der aktuellen Diskus­sion: Es sollte um Anti­se­mi­tismus-Defi­ni­tionen gehen, 'medi­en­po­li­ti­sche Aspekte', und das gerade von vielen Seiten für sich bean­spruchte Gefühlt des Nichts-mehr-sagen-Dürfens.«

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Das neueste Gerücht: Die Berlinale habe die von ihr vor zehn Tagen angekün­digte Straf­an­zeige gegen das angeb­liche Hacken des Berlinale-Instagram-Accounts bislang noch nicht gestellt. Das ist sicher nur ein Miss­ver­s­tändnis oder ein kleines Versäumnis. Wer werden unsere Leser auf dem Laufenden halten.

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Zur viel zitierten Banalität des Blöden gehört, dass sich gefühlt jede Woche ein Filme­ma­cher, vorzugs­weise ein alter weißer Mann, mit irgend­wel­chen medial verbrei­teten Vorwürfen konfron­tiert sieht. Diese Woche trifft es Oliver Stone. Der Spiegel titelt gewohnt spie­gel­mäßig, also drei Oktaven zu hoch und sich im Ton vergrei­fend: »Wie der Star-Regisseur zum Propa­gan­da­filmer für Dikta­toren wurde«. Im Standard ist es sach­li­cher, nüch­terner: »Wie Oscar-Preis­träger Oliver Stone Dikta­toren Propa­ganda anbot«. Ein verschmitzt doppel­sin­niger Titel: Bot Stone nun den Dikta­toren Propa­ganda an, oder den Sendern Dikta­to­ren­pro­pa­ganda?

Die Zeitungen und das ZDF behaupten: »Oliver Stone hat sich kaufen lassen.« Er habe gegen Geld einen Doku­men­tar­film über den ehema­ligen (!) Staats­prä­si­denten von Kasach­stan, Nursultan Nasar­bajew gedreht.
Er habe überdies auch anderen frag­wür­digen Polit-Figuren, von Alexander Luka­schenko bis zum türki­schen Präsi­denten Recep Tayyip Erdoğan einen Film über sie angeboten.

Es sind nur rein mora­li­sche Vorwürfe, es geht hier nicht um krimi­nelle Hand­lungen. Die Medien als Sitten­wächter.

Sollten sich diese Vorwürfe bewahr­heiten, leidet das Ansehen von Person und Charakter Stones aller­dings ganz sicher­lich darunter. Alles scheint ganz gut belegt, auch wenn auch hier erstmal die Unschulds­ver­mu­tung gilt. Stone ist sicher­lich jemand, der von der Macht faszi­niert ist, auch von ihren Abgründen. Auch deswegen hat er Filme unter anderem über Dikta­toren gemacht, ebenso wie über demo­kra­ti­sche Politiker.

Unser Blick auf die Spiel­filme leidet eher nicht darunter, denn manche Spiel­filme von Oliver Stone handeln ja von der großen Politik, von US-Präsi­denten, und man kann durchaus argu­men­tieren, dass Oliver Stone ganz offen­sicht­lich auch die dunklen und versteckten Seiten der Macht kennt, die Filme also präzise sind. Es sind kritische Bestands­auf­nahmen von einer demo­kra­ti­schen Macht, die leicht abgleitet ins Dikta­to­ri­sche. Sein Film W ist ein Film, der zeigt, wie der Irakkrieg teilweise mit Lügen vor der ganzen Welt durch eine demo­kra­tisch gewählte Regierung einge­fä­delt wurde.

Oliver Stone ist kein Schwärmer für Dikta­turen, sondern ein poli­ti­scher Rebell und scharfer poli­ti­scher Kritiker der USA. Auch mit Filmen, die vom Ausland erzählen, kriti­siert er eigent­lich seine eigene Heimat. Er ist ein Linker, ein Contarian, einer der selten viel Geld vom großen Hollywood bekommt.
Man sollte diese ganzen Enthül­lungen darum jetzt zumindest auch daraufhin befragen, warum es denn ausge­rechnet einen unab­hän­gigen linken Filme­ma­cher trifft? Einen der immer umstritten war? Es trifft dagegen nicht die Hollywood-Konzerne, die sämtlich sehr wohl mit den ganzen Ländern, die hier erwähnt werden, Geschäfte machen. Warum wird der Kritiker so hart kriti­siert? Gefällt manchen Leuten viel­leicht das andere Narrativ vom Westen und seinen Kriegen nicht, das Stone auch gegen den eigenen US-ameri­ka­ni­schen Main­stream und die US-Propa­ganda wendet? Auch hier ist die Wahrheit nicht einfach, sondern kompli­ziert.

Davon abgesehen wird ein Film von Oliver Stone über einen eitlen macht­ver­ses­senen Despoten diesen als solchen entlarven. Da muss Stone gar nicht mehr tun, als einfach den Mann und den Pomp zu filmen. Was will man? Ein anderes Thema, oder einen jederzeit erhobenen Zeige­finger im Kommentar?