Cinema Moralia – Folge 317
Gute Menschen unter sich |
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Ein missverstandes Leben: Oliver Stones W | ||
(Foto: Metropolitan FilmExport) |
»Never underestimate the power of jealousy and the power of envy to destroy. Never underestimate that.«
Oliver Stone
Verstaubt sind die Gesichter – dass deutsche Terroristen ausgerechnet Staub und Klette heißen, sagt mindestens soviel über Deutschland wie über die RAF. Im Verhältnis dazu hat der dritte Mann, der jetzt irgendwo in den Gedärmen Berlins gejagt wird, einen geradezu poetischen Namen: Garweg = gar weg! Immerhin hat uns und den Boulevard die Räuberjagd von Berlin ein bisschen über die nicht nur am Ende verkorkste Berlinale hinweggetröstet.
Um Gottes Willen bloß keine RAF-Romantik – aber eine gute Filmhandlung ergibt die Geschichte der Terror-Oma von Kreuzberg schon. Stellen wir uns das mal vor: Cate Blanchet im Trenchcoat mit Sonnenbrille zu Tag- und Nachtzeit, und die Knarre griffbereit, aber eigentlich nur auf der Suche nach einem Platz an der Sonne und einem jungen Lover. Die junge, noch ideologisch gefestigte Blanchet-Figur wird von Saoire Ronan gespielt.
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Das Ganze ist übrigens auch ein Beispiel dafür, wie gefährlich die digitalen Medien sind. Die einzigen, die das erkannt haben und uns gleich Lebenshilfe geben, sind wieder mal die Kollegen von der BILD-Zeitung: »RAF-Terroristin verriet sich bei Facebook« titelte das Revolverblatt 5 Zentimeter hoch am 29. Februar, darunter dann: »Im Internet tanzte die Terroristin Samba«. Genau gesagt tanzte sie natürlich nicht »im Internet«, sondern ganz analog in einer Kreuzberger Tanzgruppe (und »im Jahre 2011 beim berühmten Berliner 'Karneval der Kulturen'«, aber wir haben schon verstanden: »Die untergetauchte RAF-Terroristin gönnte sich öffentlichen Facebook-Account ... Journalisten kamen Daniela Klette (65) mit Gesichtserkennungs-Software auf die Spur«.)
Auch der Spiegel gibt sofort praktische Ratschläge: »Wie Facebook-Fotos eine Terroristin verraten können. Ist Gegenwehr noch möglich?«
Wir freuen uns derweil darauf, wie demnächst jetzt die 400 untergetauchten Neonazi-Terroristen aus ihren Bauwägen in Lichtenrade und Reineckendorf herausgeholt und festgenommen werden.
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FOMO, die »Fear of missing out«, kennen wir seit Jahren, auch aus persönlicher Erfahrung. Ich habe bei der Berlinale jetzt JOMO gelernt: die »Joy of missing out«.
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Nach der Berlinale ist vor der Berlinale. Kein Tag vergeht, und das nicht nur in Berlin, ohne irgendwelche traurigen neuen Geschichten über die zurückliegende Berlinale.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete jetzt in einem ausgezeichneten, gut recherchierten Text nicht nur über die Fassungslosigkeit über das katastrophale Ende der Chatrian-Berlinale, sondern auch darüber, dass die Berlinale die Opfer der Hamas bewusst totschweigen wollte. Warum? Weil der Apparat der Berlinale von einseitiger Parteinahme für die arabische Seite und von strukturellem Antisemitismus geprägt ist.
»Was man nicht hörte auf dieser Berlinale? Etwa den Namen David Cunio. Der am 7. Oktober mit seiner Familie im Kibbuz Nir Oz in einem Sicherheitsraum kauerte und hörte, wie die Terroristen näherkamen, bis sie ihn, seine Frau und seine dreijährigen Zwillingstöchter entführten. Seine Frau und seine Töchter wurden während einer Feuerpause am 27. November freigelassen, aber Cunio sitzt noch immer als Geisel irgendwo im Gazastreifen. Und damit schwebt ein Mitglied der
Berlinale-Community in Lebensgefahr.
2013 nahm David Cunio als Hauptdarsteller des Films 'Youth' am Festival teil, der Film lief in der Sektion Panorama, das ist dieselbe Kategorie, in der jetzt auch der Film 'No Other Land' ausgezeichnet wurde.«
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»Gerade in den letzten Jahren mischte das Festival bei politischen Ungerechtigkeiten ja immer wieder mit. Waren Filmleute in Gefangenschaft, meldete sie sich zu Wort. 2020 forderte die Berlinale das iranische Regime dazu auf,
die ›Menschenrechtlerin und Aktivistin Nasrin Sotudeh unverzüglich und bedingungslos freizulassen‹. Das Festival protestierte gegen die sudanesischen Behörden und forderte „die unverzügliche Freilassung“ des sudanesischen Filmemachers Hajooj Kuka. Und auf die Inhaftierung des iranischen Regisseurs Jafar Panahi reagierte man mit „Trauer und Entrüstung“.
Was also ist mit den Geiseln im Gazastreifen, was ist mit dem Schauspieler
David Cunio?«
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»so bleibt der Eindruck: Kritik an Israel wollte man haben auf diesem Filmfest. Kritik an der Hamas und deren Verbrechen eher nicht. Einen Vorschlag für ein Panel während der Berlinale, der bei der Akademie für Film und Fernsehen eingereicht wurde zum Thema Meinungsfreiheit und Antisemitismus, hatte der geschäftsführende Vorstand der Akademie abgelehnt. Dabei zielte das Konzept – zumindest dem Entwurf nach – ins Herz der aktuellen Diskussion: Es
sollte um Antisemitismus-Definitionen gehen, 'medienpolitische Aspekte', und das gerade von vielen Seiten für sich beanspruchte Gefühlt des Nichts-mehr-sagen-Dürfens.«
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Das neueste Gerücht: Die Berlinale habe die von ihr vor zehn Tagen angekündigte Strafanzeige gegen das angebliche Hacken des Berlinale-Instagram-Accounts bislang noch nicht gestellt. Das ist sicher nur ein Missverständnis oder ein kleines Versäumnis. Wer werden unsere Leser auf dem Laufenden halten.
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Zur viel zitierten Banalität des Blöden gehört, dass sich gefühlt jede Woche ein Filmemacher, vorzugsweise ein alter weißer Mann, mit irgendwelchen medial verbreiteten Vorwürfen konfrontiert sieht. Diese Woche trifft es Oliver Stone. Der Spiegel titelt gewohnt spiegelmäßig, also drei Oktaven zu hoch und sich im Ton vergreifend: »Wie der Star-Regisseur zum Propagandafilmer für Diktatoren wurde«. Im Standard ist es sachlicher, nüchterner: »Wie Oscar-Preisträger Oliver Stone Diktatoren Propaganda anbot«. Ein verschmitzt doppelsinniger Titel: Bot Stone nun den Diktatoren Propaganda an, oder den Sendern Diktatorenpropaganda?
Die Zeitungen und das ZDF behaupten: »Oliver Stone hat sich kaufen lassen.« Er habe gegen Geld einen Dokumentarfilm über den ehemaligen (!) Staatspräsidenten von Kasachstan, Nursultan Nasarbajew gedreht.
Er habe überdies auch anderen fragwürdigen Polit-Figuren, von Alexander Lukaschenko bis zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan einen Film über sie angeboten.
Es sind nur rein moralische Vorwürfe, es geht hier nicht um kriminelle Handlungen. Die Medien als Sittenwächter.
Sollten sich diese Vorwürfe bewahrheiten, leidet das Ansehen von Person und Charakter Stones allerdings ganz sicherlich darunter. Alles scheint ganz gut belegt, auch wenn auch hier erstmal die Unschuldsvermutung gilt. Stone ist sicherlich jemand, der von der Macht fasziniert ist, auch von ihren Abgründen. Auch deswegen hat er Filme unter anderem über Diktatoren gemacht, ebenso wie über demokratische Politiker.
Unser Blick auf die Spielfilme leidet eher nicht darunter, denn manche Spielfilme von Oliver Stone handeln ja von der großen Politik, von US-Präsidenten, und man kann durchaus argumentieren, dass Oliver Stone ganz offensichtlich auch die dunklen und versteckten Seiten der Macht kennt, die Filme also präzise sind. Es sind kritische Bestandsaufnahmen von einer demokratischen Macht, die leicht abgleitet ins Diktatorische. Sein Film W ist ein Film, der zeigt, wie der Irakkrieg teilweise mit Lügen vor der ganzen Welt durch eine demokratisch gewählte Regierung eingefädelt wurde.
Oliver Stone ist kein Schwärmer für Diktaturen, sondern ein politischer Rebell und scharfer politischer Kritiker der USA. Auch mit Filmen, die vom Ausland erzählen, kritisiert er eigentlich seine eigene Heimat. Er ist ein Linker, ein Contarian, einer der selten viel Geld vom großen Hollywood bekommt.
Man sollte diese ganzen Enthüllungen darum jetzt zumindest auch daraufhin befragen, warum es denn ausgerechnet einen unabhängigen linken Filmemacher trifft? Einen der immer
umstritten war? Es trifft dagegen nicht die Hollywood-Konzerne, die sämtlich sehr wohl mit den ganzen Ländern, die hier erwähnt werden, Geschäfte machen. Warum wird der Kritiker so hart kritisiert? Gefällt manchen Leuten vielleicht das andere Narrativ vom Westen und seinen Kriegen nicht, das Stone auch gegen den eigenen US-amerikanischen Mainstream und die US-Propaganda wendet? Auch hier ist die Wahrheit nicht einfach, sondern kompliziert.
Davon abgesehen wird ein Film von Oliver Stone über einen eitlen machtversessenen Despoten diesen als solchen entlarven. Da muss Stone gar nicht mehr tun, als einfach den Mann und den Pomp zu filmen. Was will man? Ein anderes Thema, oder einen jederzeit erhobenen Zeigefinger im Kommentar?