Cinema Moralia – Folge 321
Es geht auch anders in Europa |
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Unser Autor trauert der Diagonale ‘23 nach |
»Das Aufregende am Kino ist ja vielleicht, dass wir hier in dieser portionierten Momentgemeinschaft alle die gleiche Postkarte erhalten und doch möglicherweise einen ganz anderen Film gesehen haben. Denn im Kino liegen individuelles Fühlen und kulturindustrielles Kalkül so nah beieinander wie kaum woanders. Was individuell gefühlt werden soll, wird häufig minutiös geplant, gewiss ist jedoch nichts – wirklich niemals –, und stets bleibt eine Lücke. Gefühlte Wahrheiten sind das Geschäft des Kinos und der Kunst, im besten Fall nicht jenes der Politik.«
Peter Schernhuber / Sebastian Höglinger 2023
Es war eine schöne Diagonale. Vieles hat funktioniert und es hat Spaß gemacht – und gleichzeitig eine so so traurige, erfüllt von bittersüßer Melancholie. Nicht nur für mich, sondern auch für andere – und ich danke hier ausdrücklich meiner Begleitung an fünf kurzweiligen Stunden durch die Täler der Steiermark, die mir sehr überzeugend klar machte, dass ich doch nicht allein bin mit meiner Sehnsucht nach der Lässigkeit und dem Pop der Diagonale-Jahre 2016-2023, als das Festival unter den Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber seine bisher größte Zeit erlebte. Über die Nachfolger und die diesjährige Ausgabe schreiben wir in Ruhe für nächste Woche. Hier geht es noch einmal um Erinnerung und Abschied.
Das Glück der Diagonale war das eines Festivals ohne alles Berlin, ohne alles Deutsche. »Ich bin hier hingefahren, um Berlin hinter mir zu lassen« sagte C. und fasst damit genau meine Stimmung zusammen, »und dann kommt man diesmal hier an, und trifft lauter Berliner«.
Das ist ein deutsches Problem, aber nicht nur, denn ob den Österreichern, vor allem den jungen von der Filmakademie, zwei Handvoll Deutsche über 50, die sich gegenseitig öffentlich interviewen, nun als Fenster zur
Welt und Zukunft irgendeines Filmemachens erscheint, möchte ich bezweifeln.
Das Glück der Diagonale war, dass so ein Festival überhaupt möglich war. So ein ganz anderes Festival. Das Glück war, so ein Festival wie die Diagonale 2016-2023 überhaupt erlebt und erfahren zu haben und ein Teil davon gewesen zu sein.
In die jetzt erst aufscheinende Trauer des Verlusts mischt sich das Glück, ein solches Festival gekannt zu haben.
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Es geht eben auch anders. Im Vorjahr schrieb ich hier: »Noch einmal zeigen die beiden in dieser Eröffnungsrede und mit dieser Eröffnung, was sie immer am allerbesten konnten: begeistern, verbinden, entfesseln, popularisieren im allerbesten Sinn des Wortes, nämlich Popmomente schaffen, also Intelligenz und Sexyness, Film und Musik, Gefundenes und Erfundenes und das Wissen darum, dass es nichts Neues gibt, mit dem ganz Innovativen und der Innovation performativ perfekt zusammenführen.«
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Es geht auch anders in Frankfurt. Kinos sind politische Orte, Orte, an denen wir unseren Alltag abstreifen oder in Relation zu etwas anderem, vielleicht noch nicht Gekanntem setzen. Aber – auch das hat die Geschichte gezeigt – Kinos sind auch Orte, an denen sich Normalität erhärten und vorgebliche Gewissheit fortgeschrieben werden kann. Im besten Fall ist das Kino der Ort, an dem ein anderes Zeichensystem geboren wird. Es muss nicht unbedingt ein gemeinsames Zeichensystem sein. Kann es aber: Im Kino entstehen gemeinsame Nenner, Erfahrungen, die unserem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben sind, die wir nicht nur individuell, sondern als Gesellschaft gemacht haben, auf denen wir aufbauen, wenn wir die Welt zu begreifen versuchen.
So macht Kino Gesellschaft. Und heute Europa.
Wie Europa entsteht, aus dem Kino im politischen Handeln, als Prozess, nicht als Identität, als offene machtvoll-eigenständige Einheit und nicht zu verwechseln mit der EU, davon handelt die dreitägige Konferenz »Zukunft Europa«, die kommende Woche in Frankfurt im Rahmen des »Lichter Filmfest« stattfindet. Ich habe das Vergnügen,
das Ganze mitzuorganisieren. Unsere Gäste sind (u.a.) Roger Behrens, Arne Birkenstock, Jan Bonny, Elisabeth Bronfen, Jutta Brückner, Eileen Byrne, Johannes Franzen, Carlos Gerstenhauer, Lisa Giehl, Lisa Gotto, Monika Grütters, Robert Gwisdek, Liane Jessen, RP Kahl, Alexander Kluge, Ayce Polat, Sabine Rollberg, Anders Rune, Peter Schernhuber, Albert Serra, Marcus Stiglegger und viele mehr.
Es geht auch um Fernsehen und KI, Politik und Theorie.
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Es geht auch anders in Wuppertal: In der Stadt von Tom Tykwer und Pina Bausch, der Schwebebahn und dem WSV, läuft am Sonntag ein überaus ungewöhnlicher, sehr aktueller essayistischer Dokumentarfilm aus Israel: Der Rhein fließt ins Mittelmeer von Offer Avnon. 2021 eröffnete er das Dok.Leipzig.
In den nächsten Wochen wird der Film auch u.a. in Mannheim und in Penzberg gezeigt.
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Es geht auch anders in München: Die HFF-Professorin Michaela Krützen erhält den »Preis für gute Lehre«. Der Bayerische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst Markus Blume zeichnete jetzt 20 Hochschullehrer aus ganz Bayern mit diesem Preis aus.
HFF-Präsidentin Bettina Reitz kommentierte: »Professorin Michaela Krützen unterrichtet Filmwissenschaft in einer Art, die ich nicht für möglich gehalten hätte, bevor ich an die HFF München kam. Mitreißend, zum kritischen Diskurs
anregend und immer im aktuellen Kontext. Professorin Krützen überrascht ihre Studierenden oftmals – ob mit Livemusik, Ausstellungsbesuchen oder Nachbildungen historischer Szenen in den Seminarräumen. Dabei vermittelt sie Wissen immer auch mit einer fachübergreifenden Expertise. In sekundiös geplanten Vorlesungen mit einem perfekt getakteten Wechsel aus Filmausschnitten, Lehrvorträgen, historischer Einordnung und Filmsichtungen vermitteln sie und ihr Team
unseren Studenten Filmwissenschaft und Filmgeschichte. Sie selbst sagt über ihre Arbeit, sie habe den schönsten Beruf der Welt – und man spürt, dass sie es damit ernst meint. Den Preis für gute Lehre hat sie mehr als verdient und ich gratuliere ihr sehr herzlich.«
Die Auszeichnung ist mit 5.000 Euro dotiert.
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»In Zukunft wird es nicht mehr genügen, große Wände in blau-gelben Farben anzustrahlen. Große Flächen anstrahlen kann das Kino ohnedies besser. Dafür könnte sich die Politik wieder der Politik zuwenden und die Kunst der Kunst. Auch wenn das Verhältnis stets ein komplexes bleiben wird.«
PS / SH
Auch das ist Europa!
Offenlegung: Der Autor hat auf der Diagonale ‘24 moderiert und einen Text fürs Begleitheft geschrieben.