11.04.2024
Cinema Moralia – Folge 321

Es geht auch anders in Europa

Diagonale '23
Unser Autor trauert der Diagonale ‘23 nach

Vergangenheit und Zukunft, Kino und Filmkultur angesichts der Herausforderungen durch die neuen Öffentlichkeiten: Ein Blick voraus nach Frankfurt, ein Blick zurück nach Graz und der Rhein fließt in Europa ins Mittelmeer – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 321. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Das Aufre­gende am Kino ist ja viel­leicht, dass wir hier in dieser portio­nierten Moment­ge­mein­schaft alle die gleiche Postkarte erhalten und doch mögli­cher­weise einen ganz anderen Film gesehen haben. Denn im Kino liegen indi­vi­du­elles Fühlen und kultur­in­dus­tri­elles Kalkül so nah beiein­ander wie kaum woanders. Was indi­vi­duell gefühlt werden soll, wird häufig minutiös geplant, gewiss ist jedoch nichts – wirklich niemals –, und stets bleibt eine Lücke. Gefühlte Wahr­heiten sind das Geschäft des Kinos und der Kunst, im besten Fall nicht jenes der Politik.«
Peter Schern­huber / Sebastian Höglinger 2023

Es war eine schöne Diagonale. Vieles hat funk­tio­niert und es hat Spaß gemacht – und gleich­zeitig eine so so traurige, erfüllt von bitter­süßer Melan­cholie. Nicht nur für mich, sondern auch für andere – und ich danke hier ausdrück­lich meiner Beglei­tung an fünf kurz­wei­ligen Stunden durch die Täler der Stei­er­mark, die mir sehr über­zeu­gend klar machte, dass ich doch nicht allein bin mit meiner Sehnsucht nach der Lässig­keit und dem Pop der Diagonale-Jahre 2016-2023, als das Festival unter den Inten­danten Sebastian Höglinger und Peter Schern­huber seine bisher größte Zeit erlebte. Über die Nach­folger und die dies­jäh­rige Ausgabe schreiben wir in Ruhe für nächste Woche. Hier geht es noch einmal um Erin­ne­rung und Abschied.

Das Glück der Diagonale war das eines Festivals ohne alles Berlin, ohne alles Deutsche. »Ich bin hier hinge­fahren, um Berlin hinter mir zu lassen« sagte C. und fasst damit genau meine Stimmung zusammen, »und dann kommt man diesmal hier an, und trifft lauter Berliner«.
Das ist ein deutsches Problem, aber nicht nur, denn ob den Öster­rei­chern, vor allem den jungen von der Film­aka­demie, zwei Handvoll Deutsche über 50, die sich gegen­seitig öffent­lich inter­viewen, nun als Fenster zur Welt und Zukunft irgend­eines Filme­ma­chens erscheint, möchte ich bezwei­feln.

Das Glück der Diagonale war, dass so ein Festival überhaupt möglich war. So ein ganz anderes Festival. Das Glück war, so ein Festival wie die Diagonale 2016-2023 überhaupt erlebt und erfahren zu haben und ein Teil davon gewesen zu sein.

In die jetzt erst aufschei­nende Trauer des Verlusts mischt sich das Glück, ein solches Festival gekannt zu haben.

+ + +

Es geht eben auch anders. Im Vorjahr schrieb ich hier: »Noch einmal zeigen die beiden in dieser Eröff­nungs­rede und mit dieser Eröffnung, was sie immer am aller­besten konnten: begeis­tern, verbinden, entfes­seln, popu­la­ri­sieren im aller­besten Sinn des Wortes, nämlich Popmo­mente schaffen, also Intel­li­genz und Sexyness, Film und Musik, Gefun­denes und Erfun­denes und das Wissen darum, dass es nichts Neues gibt, mit dem ganz Inno­va­tiven und der Inno­va­tion perfor­mativ perfekt zusam­men­führen.«

+ + +

Es geht auch anders in Frankfurt. Kinos sind poli­ti­sche Orte, Orte, an denen wir unseren Alltag abstreifen oder in Relation zu etwas anderem, viel­leicht noch nicht Gekanntem setzen. Aber – auch das hat die Geschichte gezeigt – Kinos sind auch Orte, an denen sich Norma­lität erhärten und vorgeb­liche Gewiss­heit fort­ge­schrieben werden kann. Im besten Fall ist das Kino der Ort, an dem ein anderes Zeichen­system geboren wird. Es muss nicht unbedingt ein gemein­sames Zeichen­system sein. Kann es aber: Im Kino entstehen gemein­same Nenner, Erfah­rungen, die unserem kollek­tiven Gedächtnis einge­schrieben sind, die wir nicht nur indi­vi­duell, sondern als Gesell­schaft gemacht haben, auf denen wir aufbauen, wenn wir die Welt zu begreifen versuchen.

So macht Kino Gesell­schaft. Und heute Europa.

Wie Europa entsteht, aus dem Kino im poli­ti­schen Handeln, als Prozess, nicht als Identität, als offene machtvoll-eigen­s­tän­dige Einheit und nicht zu verwech­seln mit der EU, davon handelt die drei­tä­gige Konferenz »Zukunft Europa«, die kommende Woche in Frankfurt im Rahmen des »Lichter Filmfest« statt­findet. Ich habe das Vergnügen, das Ganze mitzu­or­ga­ni­sieren. Unsere Gäste sind (u.a.) Roger Behrens, Arne Birken­stock, Jan Bonny, Elisabeth Bronfen, Jutta Brückner, Eileen Byrne, Johannes Franzen, Carlos Gers­ten­hauer, Lisa Giehl, Lisa Gotto, Monika Grütters, Robert Gwisdek, Liane Jessen, RP Kahl, Alexander Kluge, Ayce Polat, Sabine Rollberg, Anders Rune, Peter Schern­huber, Albert Serra, Marcus Stig­legger und viele mehr.
Es geht auch um Fernsehen und KI, Politik und Theorie.

+ + +

Es geht auch anders in Wuppertal: In der Stadt von Tom Tykwer und Pina Bausch, der Schwe­be­bahn und dem WSV, läuft am Sonntag ein überaus unge­wöhn­li­cher, sehr aktueller essay­is­ti­scher Doku­men­tar­film aus Israel: Der Rhein fließt ins Mittel­meer von Offer Avnon. 2021 eröffnete er das Dok.Leipzig.
In den nächsten Wochen wird der Film auch u.a. in Mannheim und in Penzberg gezeigt.

+ + +

Es geht auch anders in München: Die HFF-Profes­sorin Michaela Krützen erhält den »Preis für gute Lehre«. Der Baye­ri­sche Staats­mi­nister für Wissen­schaft und Kunst Markus Blume zeichnete jetzt 20 Hoch­schul­lehrer aus ganz Bayern mit diesem Preis aus.
HFF-Präsi­dentin Bettina Reitz kommen­tierte: »Profes­sorin Michaela Krützen unter­richtet Film­wis­sen­schaft in einer Art, die ich nicht für möglich gehalten hätte, bevor ich an die HFF München kam. Mitreißend, zum kriti­schen Diskurs anregend und immer im aktuellen Kontext. Profes­sorin Krützen über­rascht ihre Studie­renden oftmals – ob mit Livemusik, Ausstel­lungs­be­su­chen oder Nach­bil­dungen histo­ri­scher Szenen in den Semi­nar­räumen. Dabei vermit­telt sie Wissen immer auch mit einer fachü­ber­grei­fenden Expertise. In sekundiös geplanten Vorle­sungen mit einem perfekt getak­teten Wechsel aus Film­aus­schnitten, Lehr­vor­trägen, histo­ri­scher Einord­nung und Film­sich­tungen vermit­teln sie und ihr Team unseren Studenten Film­wis­sen­schaft und Film­ge­schichte. Sie selbst sagt über ihre Arbeit, sie habe den schönsten Beruf der Welt – und man spürt, dass sie es damit ernst meint. Den Preis für gute Lehre hat sie mehr als verdient und ich gratu­liere ihr sehr herzlich.«
Die Auszeich­nung ist mit 5.000 Euro dotiert.

+ + +

»In Zukunft wird es nicht mehr genügen, große Wände in blau-gelben Farben anzu­strahlen. Große Flächen anstrahlen kann das Kino ohnedies besser. Dafür könnte sich die Politik wieder der Politik zuwenden und die Kunst der Kunst. Auch wenn das Verhältnis stets ein komplexes bleiben wird.«
PS / SH

Auch das ist Europa!

Offen­le­gung: Der Autor hat auf der Diagonale ‘24 moderiert und einen Text fürs Begleit­heft geschrieben.