Cinema Moralia – Folge 323
artechock stands with Oberhausen |
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Lieber Chantal im Märchenland als Civil War: Deutschland hat kein Interesse an komplizierten Debatten... | ||
(Foto: DCM) |
»The sea was calm, your heart would have responded
Gaily, when invited, beating obedient
To controlling hands
I sat upon the shore
Fishing, with the arid plain behind me
Shall I at least set my lands in order?
London Bridge is falling down falling down falling down
...
These fragments I have shored against my ruins«
– T. S. Eliot»Hört auf, dies einen 'friedlichen Protest' zu nennen. Die Protestierenden drohten uns zu töten. Sie sagten uns 'geht zurück nach Deutschland'. Sie sangen 'all of Palestine is Arab'. Sie riefen nach einer Intifada.
Wenn ihr keine militarisierte Antwort wollt, dann beendet den Antisemitismus.«
– Aufschrift auf einem Plakat, das eine jüdische Studentin der New Yorker »Columbia University« in der vergangenen Woche trug, in mehreren CNN-Reportagen des 26.April zu sehen.
Wir stehen zu Oberhausen. Und wir stehen in Oberhausen. Gleich zu zweit sind Dunja Bialas und ich vor Ort präsent und eingebunden ins Programm, in die Debatten über die neue »Sehnsucht nach Widerspruchsfreiheit« und die wichtige Frage »Wozu Festivals?«, die hier in den nächsten sechs Tagen debattiert werden – nicht nur aus Anlass des 70. Jubiläums der Kurzfilmtage.
Aus Überzeugung, denn die Fragen stoßen ins Herz heutiger Debatten. Man könnte auch fragen: Wozu (heute)
Filmfestivals? Oder: Wozu (noch) Filmfestivals?
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Am heutigen Mittwoch gab es den Auftakt mit dem immer wieder großartigen »Künstler ohne Werk« Bazon Brock. Der skizzierte die gegenwärtige Kulturszene des Westens als »zwischen Bekenntniszwang und Bekenntnisekel« gefangen, als eine »Rebarbarisierung«: »Die Künste spielen überhaupt keine Rolle.« Man sehe es auch an den Vorgängen, die sich gegenwärtig in den US-amerikanischen Universitäten abspielen (siehe unten): »Die Arbeit der Studierenden als Künstler spielt gar keine
Rolle. Sie sehen sich nur noch als Mitglied von Kulturkollektiven.« Brock holte weit aus und ging zurück bis in die Zeit der Renaissance, in der das Individuum aus den Kulturkollektiven des Mittelalters heraustrat und lernte, für sich selbst zu sprechen. Zwar wisse jedes Kulturkollektiv mehr, aber erst Individuen machen dieses Wissen aktiv.
So entstand die Idee des Autors als eines autonomen Einzelnen. Gerade weil hinter dem Einzelnen nichts steht, kein Volk, kein Kollektiv,
trägt er selbst Verantwortung. Und gerade deswegen wird seine Ohnmacht politisch. Sie bildet den Ausgangspunkt zur Durchsetzung von Argumenten. Die Autorität der Autoren entsteht durch Ohnmacht.
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Brock zitierte Jürgen Habermas: »Bürger ist nur, wer mehr vertritt als sich selbst«. Heute sei der ein Bürger, der seine Interessen vertritt. »Das ist völlig absurd.« Seine Interessen vertritt jeder von Natur aus. Fazit: Es gibt keine Bürger mehr.
Bazon Brock beschrieb hier nichts Geringeres als eine Einübung in den Bürgerkrieg, den er in den westlichen Gesellschaften erlebt.
Ein vielversprechender Auftakt.
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Letzte Woche schrieb ich an dieser Stelle: »Der Kulturkampf ist da. Die deutsche Gesellschaft muss ihn führen.«
Für diesen Kulturkampf gibt es kein besseres Beispiel als die Vorkommnisse in den letzten Monaten rund um die Kurzfilmtage. Denn es wurden Unterschriften gesammelt – gegen die Kurzfilmtage als Ganzes und persönlich gegen Lars Henrik Gass, der seit 1997 als Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage amtiert. Sie riefen zum Boykott der Kurzfilmtage auf, sie posteten wüste Diffamierungen gegen das Festival – seit Mitte Oktober 2023 positioniert sich ein marginaler, aber um so lautstärkerer Teil der internationalen Filmemacher und Kuratorenszene gegen die Oberhausener Kurzfilmtage. Einige Filmemacher zogen sogar bereits eingesandte Filmbeiträge wieder zurück – ein bizarrer Fall von Selbst-Cancelling.
Es ist der neueste Akt eines Dramas, das spätestens seit der »Documenta 15« des Jahres 2022 in Deutschland aufgeführt wird, und eine neue Runde im antisemitischen Hexensabbat, der die deutsche Kulturszene seit einem guten halben Jahr heimsucht.
Das alles nur deshalb, weil Gass wenige Tage nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023, bei dem – man muss immer wieder daran erinnern – über 1200 Juden in Israel auf brutalste Art niedergemetzelt wurden, auf dem Facebook-Account der Kurzfilmtage dazu aufgerufen hat, an einer der ersten Berliner Demonstrationen zur Solidarität mit Israel und gegen den damals in Deutschland wiederaufflammenden offenen Antisemitismus teilzunehmen: »Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamas-Freunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!« Diese letzten Sätze bezogen sich auf die offenen Sympathiebekundungen und das Verteilen von Süßigkeiten und Gebäck auf Neuköllner Straßen durch in Neukölln ansässige Araber, die das Massaker ganz offen feierten. Gass hat danach immer wieder kritisiert, dass er wenig Unterstützung aus der Film- und Festivalszene, von gesellschaftlichen Gruppen und der Politik erhalten habe. Man muss hier nicht in allem zustimmen, um in der Art, wie über die Kurzfilmtage wie und von wem geschrieben und gesprochen wird, durchaus ein System der Instrumentalisierung zu erkennen – der Instrumentalisierung für und gegen die Interessen derjenigen, die schreiben oder die es eben nicht tun.
Und es gibt zu wenig Unterstützung.
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Gass erklärt die Boykottaufrufe damit, dass der öffentliche Druck und das Druckpotential der »Pro-Palästinenserszene« in linken Kulturkreisen gegen Institutionen hoch ist, wenn diese sich gegen Antisemitismus einsetzen. »Das ist bestürzend, weil so die Kampagneninitiatoren mit ihren Methoden erfolgreich sind. Sie versuchen Angst zu erzeugen und erreichen ihr Ziel.«
In jüngster Zeit, kurz vor dem Start der sechstägigen Kurzfilmtage, hat sich dies allerdings in einigen Bereichen geändert. Nun springt ihm aus der linken Szene beispielsweise das Bündnis »Es reicht! Oberhausen solidarisch gegen Rechts« bei: in einer schriftlichen Mitteilung bedanken
sich die Antifaschisten beim Festivalleiter und seinem Team, dass diese Boykottaufrufen, Beschimpfungen und Protesten Stand gehalten haben.
Für das Team gilt diese Einschätzung allerdings nach Telepolis-Informationen nur eingeschränkt. Es gab hier sehr viel Kritik und unter der Hand auch unsolidarische Aktionen aus dem Team gegen den Festivalleiter. Das linke Bündnis bezeichnet die Kampagnen und Shitstorms der »internationalen Palästina-Solidaritätsblase«
gegen die Kurzfilmtage als antisemitisch. »Jetzt gilt es die Kurzfilmtage nicht alleine zu lassen. Wir appellieren an alle antifaschistischen und demokratisch-zivilgesellschaftlichen Gruppen und Akteur*innen, zeigt euch solidarisch mit den Kurzfilmtagen! Nutzt die Chance, schaut euch den ein oder anderen Filmblog an und sollte es zu Provokationen von Hamas-Sympathisant*innen kommen, überlasst ihnen nicht die Deutungshoheit.«
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An diesem Montag wurde bekannt, dass Gass eine hohe Auszeichnung der »Deutsch-Israelischen Gesellschaft« (DIG) erhält: ihm wird in Würdigung seiner besonderen Verdienste um die Deutsch-Israelischen Beziehungen die »Ernst-Cramer-Medaille am 8. Juni im Berliner Rathaus verliehen. Die DIG begründet diese Ehrung in einer Pressemitteilung so: ›wir ehren Lars Henrik Gass für seine Zivilcourage, seinen Anstand und für sein Rückgrat angesichts des antisemitischen Ressentiments: als der jüdische demokratische Staat und seine Menschen vom eliminatorischen Antisemitismus der Hamas angegriffen wurden, zeigte er Flagge für Menschlichkeit und gegen Judenhass. Wer die Diskussion um die documenta und den Israelboykott im Kulturbetrieb verfolgt hatte, weiß, dass diese humanistische Klarheit nicht ohne Risiko war.‹«
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Es gibt auch sonst Merkwürdiges zu berichten über den Stand der Dinge. Robert Zion hat auf Facebook darauf aufmerksam gemacht, dass der hervorragende Civil War in den aktuellen Kinocharts in vielen Ländern auf Platz 1 oder 2 liegt, zum Beispiel USA Platz 1, Frankreich Platz 2, Schweiz Platz 2, und weltweit Platz 3. In Deutschland dagegen klar unterdurchschnittlich unter ferner liefen. Zions treffende These »In Deutschland will man so etwas nicht über die USA sehen, nicht darüber nachdenken, sondern dem 'großen Bruder' folgen. Man will von dort ein Gut-Böse-Schema, Ideologeme, Anweisungen, Unterhaltung, Projektionen, einen Atomschirm und Produkte des Konsums und der Kulturindustrie.«
Chantal im Märchenland ist den Deutschen offenbar lieber… Ausgerechnet Deutschland, das sich in so vielen Belangen, auch sehr schlechten, als der amerikanisierteste aller europäischen Staaten erweist, und sich politisch auch unter grüner Mitregierung eher noch stärker im Windschatten der USA bewegt, hat kein Interesse an jenen intellektuellen und politisch-kulturellen Debatten in
den USA, die etwas komplizierter sind als Wokeness und »Postkolonialismus«.
Vielleicht ahnen manche Deutsche auch, dass Civil War gar kein Film über Amerika ist, sondern universal.
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Die oben zitierte Aufschrift auf dem Plakat einer jüdischen Studentin der New Yorker »Columbia University« beschreibt klarer und unzweideutiger, als es die meisten journalistischen Berichte oder Kommentare können, was derzeit an vielen Universitäten in den Vereinigten Staaten los ist.
An den US-Universitäten herrscht der Hass gegen Juden. Offene oder verklausulierte Mordaufrufe sind an der Tagesordnung. Etwa jener maskierte Student, der in New York vor einer Gruppe von Studenten, die die israelische Flagge schwenkten, posierte und sich dabei filmen ließ, wie er ein Poster schwang mit der Aufschrift »Al quassams next targets«, also übersetzt: Die nächsten Opfer der Hamas. Dies ist ein offener Mordaufruf, ähnlich wie die gerne skandierten Parolen: »Al-Qassam, make us proud, take another soldier out« oder »We say justice, you say how? Burn Tel Aviv to the ground.« oder »Go Hamas, we love you. We support your rockets too.«
Ausgerechnet die sonst so sensiblen, »woken« US-Studenten, die in jeder Hinsicht gegen sogenannte Hassreden sind und hochempfindlich reagieren, wenn es um Indianer geht, um Schwarze, um N- und Z-Worte, um sogenannte weiße Privilegien geht, die sind auf einmal überhaupt nicht empfindlich, wenn es Antisemitismus betrifft. Die gleichen, die lautstark einen angeblichen »Genozid« an den Arabern in Gaza beklagen, üben sich fortwährend selbst in der genozidalen Rede »From the river to the sea«.
Die Vorgänge in den USA zeigen den unverhüllten Kern der angeblichen oder im Fall von manchen vermeintlichen Palästina/Araber-Solidarität auch in Deutschland.
Die US-Zustände können wie vieles Identitätspolitische zuvor – allgemeine »Wokeness«, Postcolonialismus, ideologisch verengte Gender-Studies – aus den USA in ähnlich primitiver Form nach Europa überschwappen.
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Es muss daher unser gemeinsames Interesse sein, dass solche Zustände in Europa und besonders in Deutschland vermieden werden. Das kann nur funktionieren, wenn es gelingt, dass sich die rechtsstaatlich orientierten, anti-identitären Teile der Linken mit der breiten Mitte der Gesellschaft und den liberalkonservativen Teilen der Union verbünden.
Was konkret nötig ist, auch das kann man aus den USA lernen, sind klare Regeln für die Universität und den öffentlichen Raum insgesamt: Regeln, aus denen hervorgeht, was ist in unserer Gesellschaft »sagbar« und was nicht? Wann wird Kritik zur »Hassrede«? Wie schafft man es, einerseits Meinungs- und Redefreiheit so weit wie möglich uneingeschränkt zu garantieren, und andererseits dafür zu sorgen, dass jede Form von Antisemitismus an den Universitäten verboten bleibt, und
dass solche Verbote auch durchgesetzt werden? Wichtig hierfür sind nicht nur »Code of Conducts« – das sind eher die Voraussetzungen. Wichtig ist, dass man die Möglichkeit schafft, wo sie noch nicht existiert, Exmatrikulierungen vorzunehmen – etwa bei körperlichen Angriffen gegen Studenten oder Lehrkräfte sollte es möglich sein, sofort ein Betretungsverbot des Campus und der Universitätsräume auszusprechen.
Selbstverständlich müssen ebenso
Klagemöglichkeiten gegen solche Verbote und Exmatrikulationen garantiert sein, um nicht dozentischer oder institutioneller Willkür und vorauseilenden, reiner Angst geschuldeten Verboten Tür und Tor zu öffnen und rechtsstaatliche Verfahren zum Schutz der Bürger zu garantieren. Das liegt im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten.
Wichtig ist die Grundeinsicht, dass es nicht gelingen wird, Universitäten oder andere öffentlichen Räume zu purifizieren, zu reinigen. Widersprüchlichkeiten und Dissense, auch harte Dissense, müssen zugelassen und ausgehalten werden. Die Grenze, eine rote Linie ist aber erreicht, wenn aus Streit und Dissens verbale Angriffe und Vernichtungsaufforderungen – und seien es auch nur verklausulierte Vernichtungsaufforderungen – werden. Vom Gebrauch körperlicher Gewalt gar nicht zu reden.
Ausgerechnet zu Pessach ist den Juden in Amerika jetzt etwas Unwiederbringliches genommen worden: Die Freiheit der Unversehrtheit und die Freiheit, ohne Angst studieren zu können. Es ist ein Elend. Ein Elend, dass nicht nur die USA, sondern das Prinzip der Demokratie beschädigt und auf lange Zeit nachwirken wird.
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Widerspruchsfreiheit wünschen sich wahrscheinlich viele, in der Kunst wie anderswo. Aber wie so manche Wünsche geht auch dieser selten in Erfüllung. Erst recht in der Kunst. Denn man könnte sagen, dass es gerade der Sinn von Kunst und Kulturveranstaltungen ist, Widersprüche zu provozieren, herauszuarbeiten, das Publikum zu irritieren und vor den Kopf zu stoßen. Provokation, nicht Harmoniesauce ist das Mittel der Kunst. Diese Einsicht ist nicht neu und schon gar nicht auf den »Kurzfilmtagen Oberhausen« – immerhin verabschiedete man hier vor 62 Jahren jenes berühmte, auch ein bisschen berüchtigte Oberhausener Manifest, das zur Geburtsurkunde des deutschen Autorenfilms wurde.
»Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen.«
So hieß es einst im legendären Oberhausener Manifest, 1962.