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23.08.2001
 
 
   
 

Hart an der Grenze
Gefahren, Geschichten und Geheimnisse - Die "Border" im US-Kino

 
Einladung zum Grenzübertritt: THE MEXICAN
     
 
 
 
 

Jede Kultur beginnt bei einer Unterscheidung. Jagen und sammeln, Barbarei und Zivilisation, Gelb und Blau.
Mexiko ist gelb. Die Farbe des Neids und der Falschheit, von Gift und Zwielicht, mit der im Mittelalter Huren und Ghettojuden zur schnellen Erkennbarkeit gekennzeichnet wurden, diente auch in Soderberghs TRAFFIC, so ausgebleicht sie auch war, zur Unterscheidung zwischen den zwei Kulturen Amerikas.

Mexiko ist eine Phantasie. Jedenfalls im Kino. Manchmal kann sie die Gestalt einer Landschaft annehmen, etwa der weitläufigen Wüsten von Baja California, oft wird sie von einer Frau verkörpert, manchmal von einem Schatz aus Gold. Ein Versprechen, das etwas anders werden kann, eine Sehnsucht auf Freiheit. Aber manchmal ist Mexiko auch eine tödliche Waffe.
Was immer dazugehört, ist die Grenze. Ob man die Linie zwischen den USA und seinem südlichen Nachbarn nun optimistisch überschreitet, wie die Helden der alten Western, und den Ritt durch den Rio Grande pathetisch auskostet, wie das gerade in Billy Bob Thorntons ALL THE PRETTY HORSES (All die schönen Pferde) wieder geschieht, wo sich Matt Damon gnadenlos unschuldig wie John Boy Walton durchs Cormac McCarthy-Country schlägt, schnell zum Mann wird, um dann doch am Ende heimzukehren in Papa Amerikas Schoß. Eigentlich eine Geschichte gescheiterter Initiation, die von der Lust nicht weiß, die es bedeutet, ein Amerikaner in Mexiko zu sein, einer Lust, die Peckinpah in jedem zweiten Film feierte.
Oder ob man im Gegenteil bewusst versucht, die Beiläufigkeit der Grenze zu behaupten, wie jetzt in Gore Verbinskis MEXICAN, oder, ganz anders, vor ein paar Jahren in John Sayles LONE STAR, wo der Held, der kleine Sheriff Sam Deeds schnell begreift, dass er jenseits des Rio Grande nur wieder den gleichen Geschichten und Geheimnissen begegnet, und mit denen er zuhause zu kämpfen hat - man kommt um sie nicht herum. In LONE STAR wird diese "Border" für Sam Deeds noch einmal gezogen, von einem Mexikaner. Der nimmt ausgerechnet eine Coca Cola-Flasche, um sie in den Sand zu zeichnen - eine "line in the sand", was nichts Beliebiges ist, sondern seit der Schlacht von Alamo in der politischen Mythologie des Nordens ein stehender Begriff. Noch Präsident George Bush gebrauchte ihn, um Saddam Hussein im Golfkrieg die Grenzen aufzuzeigen.
Sheriff Deeds wird mit dem Bild im Sand genau das Gegenteil erklärt: Jenseits des Rio Grande gelten andere Gesetze, seine Autorität und Uniform zählen nicht mehr, und erst, als er das akzeptiert hat, wird er die Wahrheit erfahren.

Man muss, wie gesagt, mit dieser Grenze nicht beiläufig umgehen. Einer anderen, sarkastischeren Form, ihr Pathos zu verleihen, bediente sich Orson Welles bereits 1958, als er in der berühmten Eröffnungssequenz von TOUCH OF EVIL - einem der ersten Filme, in dem die "Border" und das Verhältnis USA-Mexiko zentral wird - eine Bombe genau auf der Grenze von Tijuana explodieren und zwei Menschen sterben lässt. Die Grenze selbst enthält die Gewalt: "All border towns bring out the worst in a country." / "Alle Grenzstädte enthüllen das Schlimmste eines Landes" kommentiert der von Charlton Heston gespielte mexikanische Polizist Vargas gegenüber seiner US-amerikanischen Frau Susan (Janet Leigh). Und gleich der nächste Dialog zwischen beiden zeigt, wie die Gewalt sofort auch einen feinen Haarriß zwischen das binationale Paar treibt: "This could be very bad for us." sagt Vargas, "For us?" fragt sie zurück, "For Mexico, I mean."
Plakativ inszeniert Steven Soderbergh die Grenze in TRAFFIC. In dem Farbwechsel vom Blau-Grau der Geschäftswelt (und der Uniform der US-Kavallerie im 19.Jahrhundert) ins verwaschen-sandige Gelb Mexikos wandeln sich auch die Atmosphären: Hitziger, zwielichtiger, körperlicher wird die Handlung, sobald sie Mexikos Boden erreicht hat. Ironischer, subtiler auch weniger ernsthaft geschieht Ähnliches in Roberto Rodriguez' unterschätztem FROM DUSK 'TILL DAWN: Da wird die Grenzüberschreitung zu einem filmischen Genrewechsel, auf Thriller und Roadmovie folgt ein Horrorfilm, das Drama über Familienbeziehungen wandelt sich in den Überlebenskampf eines nordamerikanischen Platoon, das an der Bar "Titty Twister", in der die zweite Hälfte spielt, erst von Sex und Alkohohl, dann von mörderischen Vampir-Monstern umzingelt wird. Mexiko ist eben ein eigenes Genre, Trash statt Klassik, so heißt das wohl - und das Publikum selbst verliert den Boden unter den Füßen.
In MEXICAN ist man dem von Brad Pitt gespielten Amerikaner dagegen schnell voraus - und sei es nur dank der Untertitel. Kaum angekommen begegnet auch er den eigenen Gesetzen des Ortes, doch weil er kein Spanisch versteht, merkt er gar nicht, wie er betrogen wird, wie sich der Händler bei dem er ein Auto kauft, über ihn lustig macht. Wir Zuschauer dagegen lachen über ihn - mit dem Mexikaner.

Das war wirklich nicht immer so im US-Kino. In zahllosen Varianten kennt jeder das Stereotyp des "Mexikaners" wie er zum Beispiel im Western erscheint: arm, verschlagen, böse. Mal ist es ein zahnloser Bettler, zerlumpt gekleidet und möglichst hässlich inszeniert, der immerhin noch so etwas wie Mitleid heischt. Viel häufiger aber sind es korrupte, betrügerische Charaktere, kleine Händler vor denen man sich in Acht nehmen muss, weil sie zuviel Geld verlangen, manchmal Gelegenheitsgangster, zumindest Menschen, denen man nicht trauen kann, die immer etwas zu verbergen scheinen, geheimnisvoll und verschlossen. Oder richtig böse, brutale, größenwahnsinnige Schurken, die zumeist noch unberechenbarer erscheinen, als ihre US-"Kollegen".
In einem späten Western wie John Sturges THE MAGNIFICIENT SEVEN (Die Glorreichen Sieben) fallen diese Bilder in einer Geschichte zusammen, und natürlich sind es die US-Amerikaner, die Gerechtigkeit in diese Welt bringen und den armen ausgebeuteten Bauern helfen müssen. Zwar haben auch die sieben Revolvermänner einiges auf dem Kerbholz, doch zugleich repräsentieren sie Mitgefühl, und Ethos, wie es, dem Klischee nach, auch die besseren unter den Gangstern besitzen.
In diesem Film findet man auch die anderen, positiveren, aber nicht weniger klischeehaften Rollen, die dem Mexikaner im Hollywood-Kino erlaubt sind: die verführerisch-schöne Exotin und der fröhliche Musikant. Die schöne Mexikanerin verkörpert zwar manchmal eine wirkliche Zukunft, viel öfters aber hat sie die Funktion einer sexuellen Irritation der männlichen Hauptfigur, die, in dem er sie letztlich zurückweist, nur seine Charakterstärke demonstriert. Oft muss sie dafür später mit dem Leben bezahlen. Mit der anderen Figur, dem musizierenden, singenden häufig trinkenden, immer lachenden und lustigen, oft zumindest scheinbar ein bisschen naiven Mexikaner vom Typus eines Sancho Pansa hat die schöne Exotin zumindest eines gemeinsam: ihre Sentimentalität.

Hinter alldem steckt mehr, als nur die oberflächliche Verdrängung des fremden Nachbarn, als die Verweigerung der Offenheit und des genaueren Hinschauens. Denn bis heute ist Mexiko für das US-Kino eine ästhetische Utopie.
Mexiko steht dabei gleichermaßen für Freiheit und Individualismus, für die alte Hoffnung des Pioniermythos, sich von den Zwängen der Zivilisation und des Kapitalismus zu verabschieden, um deren Träume um so unverstellter noch einmal träumen zu dürfen, wie für die Hölle eines Staat gewordenen Horrortrips, aber dabei auch die Schönheit dieses Schreckens, des geheimnisvoll Unverständlichen, und der Gefahr, in der - so die Behauptung - einer sich erst ganz bei sich fühlen kann.
Für die Zwiespältigkeit dieser Erfahrung gibt es keinen besseren Augenblick im Kino, als der Beginn von Sam Peckinpahs THE WILD BUNCH. Dort werfen Kinder ein Paar Skorpione in einen Haufen roter Ameisen, langsam gehen sie zugrunde. Die Szene ist in verschiedenste Richtungen interpretierbar, denn die roten Ameisen müssen nicht zwangsläufig mit den Mexikanern gleichgesetzt werden, die gefährlichen, aber auch schönen Skorpione nicht mit den neun Revolvermännern, die im Film größtenteils getötet werden. Aber dass die Wenigen, Einzelnen, für sich Überlegenen doch an der Masse der Kleinen scheitern, lässt sich nicht übersehen, so wenig wie die Tatsache, dass hier auch etwas darüber gesagt wird, wie der Mensch Gewalt zum Spektakel macht, wie er sich der Natur bemächtigt, sie zum rein ästhetischen Objekt seiner Willkür degradiert - auch das ein Kommentar zum Pioniermythos.
Wenige haben wie Peckinpah die Gewalt gesehen und auch aufgezeigt, von der nahezu alle filmischen Mexiko-Darstellungen durchtränkt sind. Wie in THE WILD BUNCH selbst ist es immer wieder eine ähnliche Geschichte: Eine Gruppe Amerikaner überschreitet die Grenze, kommt nach Mexiko und wird dort mit dem wahren Leben konfrontiert. Denn jenseits des Rio Grande liegt ein Land, das ist wie die Natur selbst, wo es noch richtig wild zugeht, wo ein Mann noch ein Mann sein kann. Und mit eigenen Regeln, deren Überschreitung durch die Fremden dann die Geschichte in Bewegung bringt. Ein bisschen hat das in den zahlreichen Western und Gangsterfilmen Hollywoods, in denen "Mexiko" die letzte Hoffnung der Outlaws ist, auch immer den Charakter eines Abenteuerspielplatzes auf dem Männlichkeitsriten ungestört von Müttern und Sheriffs sich ausleben dürfen. Die Freiheit die die Amerikaner dort finden, ist die eines schönen Anarchismus, es ist der alte Western-Mythos, der die Gesetzlosigkeit jenseits der Frontier auch feiert, die Lust der Amerikaner in einem anderen, fremden Land zu sein. Bei Peckinpah, der auch die andere Seite sieht, und sich nicht um die Leiden der Mexikaner herumlügt, auch nicht über die Leiden der Amerikaner selbst, die oft genug nur nach Mexiko kommen, weil sie dort ihre letzte Chance sehen, ist das alles immerhin melancholisch gebrochen, weil sein "wild bunch" kaum mit den klassischen Good Guys des Kinos gleichzusetzen ist, und im Gegensatz zu vielen anderen Mexico-Reisenden des Kinos auch nicht wirklich zurückkehren kann.
In Thorntons ALL THE PRETTY HORSES findet man es unverstellter. Bekanntlich handelt es sich um die Verfilmung eines Romans von Cormac McCarthy, des ersten Bandes seiner "Border"-Trilogie, die sich um den blutigen Meridian entlang des Rio Grande dreht. Doch der Film unterschlägt die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit die sich im Buch dort findet, wo das Texas zum Thema wird, dass seine jungen Helden verlassen. Er ignoriert, dass hier eine Generation Opfer des neuen Kapitalismus des Ölbooms wird - der Film spielt 1949 -, das schon gleich zu Beginn die Zeiten des Westerns endgültig vorbei sind, und feiert noch einmal die alte Western-Stimmung: eine Gruppe good guys in Mexiko. Optimistisch reiten sie über den Rio Grande. Auf der anderen Seite erleben sie eine Initiationsgeschichte aus Sex und Gewalt, und kommen am Ende geläutert, erfahren und reumütig auch zurück in die Heimat, wo ihnen zu guter Letzt noch ein patriarchalischer Richter unter US-Flagge die zivilreligiöse Absolution erteilt. Allerdings gelingt die Initiation nicht wirklich. Weil Mexiko sich nämlich als ein Land ganz eigener Zwänge offenbart, und die von außen nur unklaren Verhältnisse zwar anarchisch, aber alles andere als frei erscheinen, endet der fröhliche Ritt unausweichlich in Desillusionierung.

So liegt die Gemeinsamkeit der Mexiko-Ikonographie im heutigen US-Kino darin, dass die Exotik nicht (mehr) wirklich funktioniert. Wo Europa als allzu naher und darum schon wieder fremder, nur aus der Distanz verständlicher Verwandter erscheint, und sich das wahrhaft absolut Fremde - auch das im eigenen Land - eher in chinesischer oder japanischer Gestalt zeigt, sieht das Leinwand-Mexiko den eigenen Verhältnissen überraschend ähnlich. Die Filme treffen südlich des Rio Grande ihr verschwommenes Spiegelbild, die Verhältnisse sind die eigenen, nur etwas anders, jünger, ärmer.

Sucht man nach Erklärungen hierfür, lassen sich zumindest zwei Vermutungen anstellen. Zum einen waren die Gefühle einer heimlichen Verwandtschaft zu Mexiko vielleicht auch schon in früheren Jahren stärker, als man wahrhaben will. Am besten erklärt das John Sayles LONE STAR, der den Mythos von "Alamo" gleich mehrfach bemüht, um zu zeigen wie willkürlich jede Grenze ist, und wie verschachtelt und multiperspektivisch die eigene Geschichte. LONE STAR gibt eine Ahnung davon, wie viel Geschichtsverleugnung dazu gehört, in Mexiko nur das Andere, rein Fremde zu sehen. Wie dieser Film lassen sich auch viele andere als Wiederkehr des Verdrängten interpretieren. Manchmal müssen die Helden sich um das zu erfahren noch in Bewegung setzen, manchmal kommt Mexiko auch selbst über die Grenze. Das muss nicht immer mit der Vehemenz und alptraumartigen Brutalität geschehen wie in Alex de la Iglesias PERDITA DURANGO, nur einem halben US-Film, der Peckinpah kurzerhand umdreht, indem er ein mexikanisches Killerpärchen von Tijuana aus ins Grenzland der USA schickt. Aber der Film beweist, dass man zwar um die Grenze (noch) nicht herumkommt, aber die klaren Grenzziehungen heute nicht mehr funktionieren. LONE STAR ist dafür das allerbeste Beispiel, TRAFFIC ein anderes gutes, wenn auch hier der südliche Nachbar immer noch stärker mit brutaler offener Gewalt, mit Korruption, aber auch wieder einmal mit einer schönen Frau konnotiert wird. Doch beide Filme geben Anhaltspunkte, dass man als Nordamerikaner in Mexiko auch einen Nachbarn erkennen könnte, mit dem man ein gemeinsames Schicksal teilt: die zweite Kolonie der Europäer, die zweite Verschmelzung von europäischer und indianischer Kultur.
Der zweite Grund liegt noch deutlicher auf der Hand: die Hispanisierung der USA, die Mexiko in den letzten Jahrzehnten kulturell wie politisch zunehmend zu einem Teil der USA werden läßt. Noch vor wenigen Jahren wäre Soderberghs Zumutung, ein Drittel seines Films in spanischer Sprache zu inszenieren, unvorstellbar gewesen. Heute funktioniert ein solcher Film sogar beim Mainstream-Publikum. Allmählich, ganz langsam, ändert sich etwas, beginnen sich die Bilder zu wandeln, werden zumindest differenzierter. Und plötzlich erscheinen Filme wie TRAFFIC und LONE STAR als ein Vorgriff auf eine andere, neue Utopie: die das Geheimnis, die Gewalt und die Gefahr im Eigenen entdeckt, nicht nur an Frontier und Border, in der Grenzen beidseitig durchlöchert sind und Entgrenzung mehr heißt als Globalisierung der Märkte. Oder, wie es am Ende von LONE STAR heisst: "Was interessiert uns Alamo?"

Rüdiger Suchsland

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