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Jede Kultur beginnt bei einer Unterscheidung. Jagen und sammeln,
Barbarei und Zivilisation, Gelb und Blau. Mexiko ist gelb. Die
Farbe des Neids und der Falschheit, von Gift und Zwielicht, mit der
im Mittelalter Huren und Ghettojuden zur schnellen Erkennbarkeit
gekennzeichnet wurden, diente auch in Soderberghs TRAFFIC, so ausgebleicht
sie auch war, zur Unterscheidung zwischen den zwei Kulturen
Amerikas.
Mexiko ist eine Phantasie. Jedenfalls im Kino. Manchmal kann sie
die Gestalt einer Landschaft annehmen, etwa der weitläufigen Wüsten
von Baja California, oft wird sie von einer Frau verkörpert,
manchmal von einem Schatz aus Gold. Ein Versprechen, das etwas
anders werden kann, eine Sehnsucht auf Freiheit. Aber manchmal ist
Mexiko auch eine tödliche Waffe. Was immer dazugehört, ist die
Grenze. Ob man die Linie zwischen den USA und seinem südlichen
Nachbarn nun optimistisch überschreitet, wie die Helden der alten
Western, und den Ritt durch den Rio Grande pathetisch auskostet,
wie das gerade in Billy Bob Thorntons ALL THE PRETTY HORSES
(All die schönen Pferde) wieder geschieht, wo sich Matt Damon
gnadenlos unschuldig wie John Boy Walton durchs Cormac
McCarthy-Country schlägt, schnell zum Mann wird, um dann doch am
Ende heimzukehren in Papa Amerikas Schoß. Eigentlich eine
Geschichte gescheiterter Initiation, die von der Lust nicht weiß,
die es bedeutet, ein Amerikaner in Mexiko zu sein, einer Lust, die
Peckinpah in jedem zweiten Film feierte. Oder ob man im
Gegenteil bewusst versucht, die Beiläufigkeit der Grenze zu
behaupten, wie jetzt in Gore Verbinskis MEXICAN, oder, ganz
anders, vor ein paar Jahren in John Sayles LONE STAR, wo der Held,
der kleine Sheriff Sam Deeds schnell begreift, dass er jenseits des
Rio Grande nur wieder den gleichen Geschichten und Geheimnissen
begegnet, und mit denen er zuhause zu kämpfen hat - man kommt um
sie nicht herum. In LONE
STAR wird diese "Border" für Sam Deeds noch einmal gezogen,
von einem Mexikaner. Der nimmt ausgerechnet eine Coca Cola-Flasche,
um sie in den Sand zu zeichnen - eine "line in the sand", was
nichts Beliebiges ist, sondern seit der Schlacht von Alamo in der
politischen Mythologie des Nordens ein stehender Begriff. Noch
Präsident George Bush gebrauchte ihn, um Saddam Hussein im
Golfkrieg die Grenzen aufzuzeigen. Sheriff Deeds wird mit dem
Bild im Sand genau das Gegenteil erklärt: Jenseits des Rio Grande
gelten andere Gesetze, seine Autorität und Uniform zählen nicht
mehr, und erst, als er das akzeptiert hat, wird er die Wahrheit
erfahren.
Man muss, wie gesagt, mit dieser Grenze nicht beiläufig umgehen.
Einer anderen, sarkastischeren Form, ihr Pathos zu verleihen,
bediente sich Orson Welles bereits 1958, als er in der berühmten
Eröffnungssequenz von TOUCH OF EVIL - einem der ersten Filme, in dem die "Border"
und das Verhältnis USA-Mexiko zentral wird - eine Bombe genau auf
der Grenze von Tijuana explodieren und zwei Menschen sterben lässt.
Die Grenze selbst enthält die Gewalt: "All border towns bring out
the worst in a country." / "Alle Grenzstädte enthüllen das
Schlimmste eines Landes" kommentiert der von Charlton Heston
gespielte mexikanische Polizist Vargas gegenüber seiner
US-amerikanischen Frau Susan (Janet Leigh). Und gleich der nächste
Dialog zwischen beiden zeigt, wie die Gewalt sofort auch einen
feinen Haarriß zwischen das binationale Paar treibt: "This could be
very bad for us." sagt Vargas, "For us?" fragt sie zurück, "For
Mexico, I mean." Plakativ inszeniert Steven Soderbergh die
Grenze in TRAFFIC. In
dem Farbwechsel vom Blau-Grau der Geschäftswelt (und der Uniform
der US-Kavallerie im 19.Jahrhundert) ins verwaschen-sandige Gelb
Mexikos wandeln sich auch die Atmosphären: Hitziger, zwielichtiger,
körperlicher wird die Handlung, sobald sie Mexikos Boden erreicht
hat. Ironischer, subtiler auch weniger ernsthaft geschieht
Ähnliches in Roberto Rodriguez' unterschätztem FROM DUSK 'TILL DAWN: Da
wird die Grenzüberschreitung zu einem filmischen Genrewechsel, auf
Thriller und Roadmovie folgt ein Horrorfilm, das Drama über
Familienbeziehungen wandelt sich in den Überlebenskampf eines
nordamerikanischen Platoon, das an der Bar "Titty Twister", in der
die zweite Hälfte spielt, erst von Sex und Alkohohl, dann von
mörderischen Vampir-Monstern umzingelt wird. Mexiko ist eben ein
eigenes Genre, Trash statt Klassik, so heißt das wohl - und das
Publikum selbst verliert den Boden unter den Füßen. In MEXICAN ist man dem von
Brad Pitt gespielten Amerikaner dagegen schnell voraus - und sei es
nur dank der Untertitel. Kaum angekommen begegnet auch er den
eigenen Gesetzen des Ortes, doch weil er kein Spanisch versteht,
merkt er gar nicht, wie er betrogen wird, wie sich der Händler bei
dem er ein Auto kauft, über ihn lustig macht. Wir Zuschauer dagegen
lachen über ihn - mit dem Mexikaner.
Das war wirklich nicht immer so im US-Kino. In zahllosen
Varianten kennt jeder das Stereotyp des "Mexikaners" wie er zum
Beispiel im Western erscheint: arm, verschlagen, böse. Mal ist es
ein zahnloser Bettler, zerlumpt gekleidet und möglichst hässlich
inszeniert, der immerhin noch so etwas wie Mitleid heischt. Viel
häufiger aber sind es korrupte, betrügerische Charaktere, kleine
Händler vor denen man sich in Acht nehmen muss, weil sie zuviel
Geld verlangen, manchmal Gelegenheitsgangster, zumindest Menschen,
denen man nicht trauen kann, die immer etwas zu verbergen scheinen,
geheimnisvoll und verschlossen. Oder richtig böse, brutale,
größenwahnsinnige Schurken, die zumeist noch unberechenbarer
erscheinen, als ihre US-"Kollegen". In einem späten Western
wie John Sturges THE MAGNIFICIENT SEVEN (Die Glorreichen Sieben)
fallen diese Bilder in einer Geschichte zusammen, und natürlich
sind es die US-Amerikaner, die Gerechtigkeit in diese Welt bringen
und den armen ausgebeuteten Bauern helfen müssen. Zwar haben auch
die sieben Revolvermänner einiges auf dem Kerbholz, doch zugleich
repräsentieren sie Mitgefühl, und Ethos, wie es, dem Klischee nach,
auch die besseren unter den Gangstern besitzen. In diesem Film
findet man auch die anderen, positiveren, aber nicht weniger
klischeehaften Rollen, die dem Mexikaner im Hollywood-Kino erlaubt
sind: die verführerisch-schöne Exotin und der fröhliche Musikant.
Die schöne Mexikanerin verkörpert zwar manchmal eine wirkliche
Zukunft, viel öfters aber hat sie die Funktion einer sexuellen
Irritation der männlichen Hauptfigur, die, in dem er sie letztlich
zurückweist, nur seine Charakterstärke demonstriert. Oft muss sie
dafür später mit dem Leben bezahlen. Mit der anderen Figur, dem
musizierenden, singenden häufig trinkenden, immer lachenden und
lustigen, oft zumindest scheinbar ein bisschen naiven Mexikaner vom
Typus eines Sancho Pansa hat die schöne Exotin zumindest eines
gemeinsam: ihre Sentimentalität.
Hinter alldem steckt mehr, als nur die oberflächliche Verdrängung
des fremden Nachbarn, als die Verweigerung der Offenheit und des
genaueren Hinschauens. Denn bis heute ist Mexiko für das US-Kino
eine ästhetische Utopie. Mexiko steht dabei gleichermaßen für
Freiheit und Individualismus, für die alte Hoffnung des
Pioniermythos, sich von den Zwängen der Zivilisation und des
Kapitalismus zu verabschieden, um deren Träume um so unverstellter
noch einmal träumen zu dürfen, wie für die Hölle eines Staat
gewordenen Horrortrips, aber dabei auch die Schönheit dieses
Schreckens, des geheimnisvoll Unverständlichen, und der Gefahr, in
der - so die Behauptung - einer sich erst ganz bei sich fühlen
kann. Für die Zwiespältigkeit dieser Erfahrung gibt es keinen
besseren Augenblick im Kino, als der Beginn von Sam Peckinpahs THE WILD BUNCH. Dort
werfen Kinder ein Paar Skorpione in einen Haufen roter Ameisen,
langsam gehen sie zugrunde. Die Szene ist in verschiedenste
Richtungen interpretierbar, denn die roten Ameisen müssen nicht
zwangsläufig mit den Mexikanern gleichgesetzt werden, die
gefährlichen, aber auch schönen Skorpione nicht mit den neun
Revolvermännern, die im Film größtenteils getötet werden. Aber dass
die Wenigen, Einzelnen, für sich Überlegenen doch an der Masse der
Kleinen scheitern, lässt sich nicht übersehen, so wenig wie die
Tatsache, dass hier auch etwas darüber gesagt wird, wie der Mensch
Gewalt zum Spektakel macht, wie er sich der Natur bemächtigt, sie
zum rein ästhetischen Objekt seiner Willkür degradiert - auch das
ein Kommentar zum Pioniermythos. Wenige haben wie Peckinpah die
Gewalt gesehen und auch aufgezeigt, von der nahezu alle filmischen
Mexiko-Darstellungen durchtränkt sind. Wie in THE WILD BUNCH selbst
ist es immer wieder eine ähnliche Geschichte: Eine Gruppe
Amerikaner überschreitet die Grenze, kommt nach Mexiko und wird
dort mit dem wahren Leben konfrontiert. Denn jenseits des Rio
Grande liegt ein Land, das ist wie die Natur selbst, wo es noch
richtig wild zugeht, wo ein Mann noch ein Mann sein kann. Und mit
eigenen Regeln, deren Überschreitung durch die Fremden dann die
Geschichte in Bewegung bringt. Ein bisschen hat das in den
zahlreichen Western und Gangsterfilmen Hollywoods, in denen
"Mexiko" die letzte Hoffnung der Outlaws ist, auch immer den
Charakter eines Abenteuerspielplatzes auf dem Männlichkeitsriten
ungestört von Müttern und Sheriffs sich ausleben dürfen. Die
Freiheit die die Amerikaner dort finden, ist die eines schönen
Anarchismus, es ist der alte Western-Mythos, der die
Gesetzlosigkeit jenseits der Frontier auch feiert, die Lust der
Amerikaner in einem anderen, fremden Land zu sein. Bei Peckinpah,
der auch die andere Seite sieht, und sich nicht um die Leiden der
Mexikaner herumlügt, auch nicht über die Leiden der Amerikaner
selbst, die oft genug nur nach Mexiko kommen, weil sie dort ihre
letzte Chance sehen, ist das alles immerhin melancholisch
gebrochen, weil sein "wild bunch" kaum mit den klassischen Good
Guys des Kinos gleichzusetzen ist, und im Gegensatz zu vielen
anderen Mexico-Reisenden des Kinos auch nicht wirklich zurückkehren
kann. In Thorntons ALL THE PRETTY HORSES findet man es unverstellter.
Bekanntlich handelt es sich um die Verfilmung eines Romans von
Cormac McCarthy, des ersten Bandes seiner "Border"-Trilogie, die
sich um den blutigen Meridian entlang des Rio Grande dreht. Doch
der Film unterschlägt die Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit die
sich im Buch dort findet, wo das Texas zum Thema wird, dass seine
jungen Helden verlassen. Er ignoriert, dass hier eine Generation
Opfer des neuen Kapitalismus des Ölbooms wird - der Film spielt
1949 -, das schon gleich zu Beginn die Zeiten des Westerns
endgültig vorbei sind, und feiert noch einmal die alte
Western-Stimmung: eine Gruppe good guys in Mexiko. Optimistisch
reiten sie über den Rio Grande. Auf der anderen Seite erleben sie
eine Initiationsgeschichte aus Sex und Gewalt, und kommen am Ende
geläutert, erfahren und reumütig auch zurück in die Heimat, wo
ihnen zu guter Letzt noch ein patriarchalischer Richter unter
US-Flagge die zivilreligiöse Absolution erteilt. Allerdings gelingt
die Initiation nicht wirklich. Weil Mexiko sich nämlich als ein
Land ganz eigener Zwänge offenbart, und die von außen nur unklaren
Verhältnisse zwar anarchisch, aber alles andere als frei
erscheinen, endet der fröhliche Ritt unausweichlich in
Desillusionierung.
So liegt die Gemeinsamkeit der Mexiko-Ikonographie im heutigen
US-Kino darin, dass die Exotik nicht (mehr) wirklich funktioniert.
Wo Europa als allzu naher und darum schon wieder fremder, nur aus
der Distanz verständlicher Verwandter erscheint, und sich das
wahrhaft absolut Fremde - auch das im eigenen Land - eher in
chinesischer oder japanischer Gestalt zeigt, sieht das
Leinwand-Mexiko den eigenen Verhältnissen überraschend ähnlich. Die
Filme treffen südlich des Rio Grande ihr verschwommenes
Spiegelbild, die Verhältnisse sind die eigenen, nur etwas anders,
jünger, ärmer.
Sucht man nach Erklärungen hierfür, lassen sich zumindest zwei
Vermutungen anstellen. Zum einen waren die Gefühle einer heimlichen
Verwandtschaft zu Mexiko vielleicht auch schon in früheren Jahren
stärker, als man wahrhaben will. Am besten erklärt das John Sayles
LONE STAR, der den
Mythos von "Alamo" gleich mehrfach bemüht, um zu zeigen wie
willkürlich jede Grenze ist, und wie verschachtelt und
multiperspektivisch die eigene Geschichte. LONE STAR gibt eine
Ahnung davon, wie viel Geschichtsverleugnung dazu gehört, in Mexiko
nur das Andere, rein Fremde zu sehen. Wie dieser Film lassen sich
auch viele andere als Wiederkehr des Verdrängten interpretieren.
Manchmal müssen die Helden sich um das zu erfahren noch in Bewegung
setzen, manchmal kommt Mexiko auch selbst über die Grenze. Das muss
nicht immer mit der Vehemenz und alptraumartigen Brutalität
geschehen wie in Alex de la Iglesias PERDITA DURANGO, nur
einem halben US-Film, der Peckinpah kurzerhand umdreht, indem er
ein mexikanisches Killerpärchen von Tijuana aus ins Grenzland der
USA schickt. Aber der Film beweist, dass man zwar um die Grenze
(noch) nicht herumkommt, aber die klaren Grenzziehungen heute nicht
mehr funktionieren. LONE
STAR ist dafür das allerbeste Beispiel, TRAFFIC ein anderes
gutes, wenn auch hier der südliche Nachbar immer noch stärker mit
brutaler offener Gewalt, mit Korruption, aber auch wieder einmal
mit einer schönen Frau konnotiert wird. Doch beide Filme geben
Anhaltspunkte, dass man als Nordamerikaner in Mexiko auch einen
Nachbarn erkennen könnte, mit dem man ein gemeinsames Schicksal
teilt: die zweite Kolonie der Europäer, die zweite Verschmelzung
von europäischer und indianischer Kultur. Der zweite Grund
liegt noch deutlicher auf der Hand: die Hispanisierung der USA, die
Mexiko in den letzten Jahrzehnten kulturell wie politisch zunehmend
zu einem Teil der USA werden läßt. Noch vor wenigen Jahren wäre
Soderberghs Zumutung, ein Drittel seines Films in spanischer
Sprache zu inszenieren, unvorstellbar gewesen. Heute funktioniert
ein solcher Film sogar beim Mainstream-Publikum. Allmählich, ganz
langsam, ändert sich etwas, beginnen sich die Bilder zu wandeln,
werden zumindest differenzierter. Und plötzlich erscheinen Filme
wie TRAFFIC und LONE STAR als ein
Vorgriff auf eine andere, neue Utopie: die das Geheimnis, die
Gewalt und die Gefahr im Eigenen entdeckt, nicht nur an Frontier
und Border, in der Grenzen beidseitig durchlöchert sind und
Entgrenzung mehr heißt als Globalisierung der Märkte. Oder, wie es
am Ende von LONE STAR
heisst: "Was interessiert uns Alamo?"
Rüdiger Suchsland
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