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Übersicht
I Nach dem Kino
Einsichten über das Kino und den gegenwärtigen Zustand des
Mediums.
Warum, so fragte ich mich, als ich den ersten Teil von KILL
BILL und Lars von Triers ersten Teil der Amerika-Trilogie
gesehen hatte, und beide Filme in mir zu rumoren und zu streiten
begannen, sollte ich beide Filme nicht den inneren Wettkampf
auch öffentlich austragen lassen, wobei es dann auch nichts
ausmacht, den Ausgang im Titel schon zu verraten. Denn wie
im Leben, so ist auch in der Kunst der Weg das Ziel, und was
wir erhoffen, ist nicht die Bestätigung dessen, was unser
Geschmackssinn, oder unser Instinkt uns verrät, sondern Einsichten
über das Kino, und den gegenwärtigen Zustand des Mediums.
Aber hier, schon bevor es überhaupt richtig losgehen kann,
stößt man schon höchst unangenehm an ein starkes Hindernis,
nämlich dem Umstand, dass über Filme sich heute eigentlich
nicht mehr gestritten wird, dass es für einen solch öffentlichen
Wettstreit eigentlich keine Arena mehr gibt, keine zeitgemäße
jedenfalls. Vermutlich aber ist dies schon die erste, wertvolle
Einsicht auf unserem Wettlauf, die wir über den gegenwärtigen
Zustand des Mediums gewinnen können: Wir sehen viele Filme,
wir sprechen viel über Filme, und wir schreiben und lesen
viel über Filme, aber das Medium des Films ist dabei in eine
seltsame Vergessenheit geraten. Die Filme lagern in uns, einsortiert
wie in den Rubrikenkästchen unserer Stadtmagazine, mit dem
jeweiligen Ranking der Stadtmagazine, nivelliert (na klar,
alles Filme) zugleich aber auch isoliert, so als hätten sie
sich, und sie uns nichts mehr weiteres zu sagen. Die Filme
sind uns intus, und was uns intus ist, ist gefeit gegen jede
äußere Anfechtung. Das ist wohl der Grund, warum uns Debatten
über den Sinngehalt des Films, der verschiedenen ästhetischen
Richtungen und der Zukunft des Mediums so irgendwie unansehnlich
geworden ist: diese erinnern an verwackelte Schwarz-Weiß-Bilder,
vollgequalmten Räumen, und uns, zumindest ideell Nichtraucher,
erschien eine solche Debatte als so überflüssig und veraltet,
wie wenn man sich im Zeitalter der Digitaltechnik noch über
die Kolbenstoßfrequenz der Dampfmaschine die Köpfe heiß reden
würde. Fast scheint es, als ob jeder über ein unterirdisches
Wissen verfügte, wie ein guter Film auszusehen hätte, und
dieses vermeintliche Wissen verhindert jede offene Wahrnehmung,
und unterbindet jeden offenen Dialog.
Was ist der Grund? Natürlich wissen wir immer, dass wir ein
Bild sehen. Aber das Entscheidende ist: wir spüren es nicht
mehr. Die konventionalisierten Bilder gleiten durch den Bewusstseinskanal,
den eine vorherige Flut an anderen Filmen mit ähnlich konfektionierten
Bildern in uns freigegraben hat, als eine vertraute Wahrnehmung
an uns vorüber, dass es uns als Wahrnehmung schon gar nicht
mehr bewusst wird. Das Bild stößt nichts mehr an, es versetzt
uns nicht mehr an einem anderen Punkt.
Die Folge ist: Wir sehen zwar den Film, aber wir sehen den
Film nicht mehr. Entsprechend reden wir, wenn wir über Filme
reden, bloß über den erzählten Inhalt der Filme: Was da an
Tragödien passiert, warum eine Gestalt so und nicht anders
gehandelt hat u.s.w. Wir wissen die Filme, und die Filme wissen
uns, und so wird, wie in jeder anderen vernünftigen Ehe auch,
der Dialog mehr und mehr durch das liebgewordene Ritual des
Ins-Kinogehens, des über des Film-Erzählens ersetzt. Wenn
mal über die Zukunft des Kinos nachgedacht wird (um sich ihm
als Medium auf diesem Weg wieder bewusst zu werden), dann
geht es um seine technischen Möglichkeiten, und zwar in einer
derart schwärmerischen Weise, als würde der erwartbare Reichtum
technischer Möglichkeiten zugleich auch automatisch einen
Reichtum ästhetischer Möglichkeiten nach sich ziehen - als
wären Technik und Ästhetik eins.
1999 gab der damalige Kritiker der "Berliner Zeitung" unter
der Überschrift "Vom höheren Zugang zum Niederen" folgende
Sätze zu Papier: "Der Zuschauer ist dem Film nicht länger
untertan. Er wehrt sich gegen wahllose Unterhaltung ebenso
wie gegen wahllose Unterrichtung (...) Der selbstbestimmte
Kopf dient zuallererst dem Selbst und dieses Selbst möchte
sich vielleicht von Zeit zu Zeit ganz herkömmlich überwältigen
lassen. Das bedeutet keinesfalls den Rückfall in die Vorzeit.
Der selbstbestimmte Zuschauer weiß die Überwältigung zu dosieren.
Er lässt sich problemlos Tränchen oder atemberaubende Augenblicke
abhandeln, anschließend macht er coole Miene dazu, und könnte
die filmische Verführungsstrategie genau erläutern, der zu
folgen er ein Stück weit bereit war."
Was gegen diese Vorstellung des "selbstbestimmten" Konsumenten
rebelliert, ist der allen Theorien, Ästhetiken, Kunstrichtungen,
Ansichten tief verwurzelte Glaube an das Potential der Kunst,
eine Erfahrung zu ermöglichen, die sich auf das Leben, oder
nur das Lebensgefühl verändernd auswirkt. Die hier unterbreitete
Vorstellung eines dosierbaren Erlebnisses widerspricht nicht
nur der Kunst, sondern auch jeder vitalen Vorstellung vom
Leben. Mal auf den Bereich der Liebe übertragen, die mit der
Kunst ja das Potential eint, die Parameter unserer inneren
Einstellung ein wenig verschieben zu können, entspräche das
Verhältnis des selbstbestimmten Kinozuschauers zum Kino etwa
dem Verhältnis des Typus des narzisstischen Bordellbesuchers
zur Liebe, der ja auch die Zeit der Überwältigung zu dosieren
weiß, und anschließend als Fachmann der Materie die Verführungsstrategien
zu erläutern wüsste, die er sich eine Zeitlang hat angedeihen
lassen. Dessen Ansichten zur Liebe sind daher so wenig zu
trauen, wie der theoretischen Kennerschaft manches Cineasten,
der mit seinem Ruf "Alles Ketchup" dem Geheimnis des Kinoerlebnisses
auf die Schliche gekommen zu sein meint, aber über die Natur
der Erfahrung vollkommen ahnungslos ist (in der Liebe ist
nur der Liebende der Sehende, und alle anderen notwendig blind).
So sind wir nun auch im Kino Pauschaltouristen geworden:
die zwar hungrig nach immer neuen Bildern sind, und immer
häufiger ins Kino gehen, aber nicht, um etwas Neues, sondern
um das Vertraute zu erblicken, die Muster unserer Konvention
bestätigt zu bekommen. Was wir mit diesem Bild des Kinokonsumenten
konstatieren müssen, ist die bestehende Absage an die Kunstmöglichkeit
des Films. Am deutlichsten zeigt sich diese Distanz wieder
an dem Film selbst, nämlich der Tatsache, dass Kunst im Film
zu einem eigenen Genre mutiert ist - dem Kunstfilm. Beim näherem
Hinsehen zeigt sich aber das Kunstkino nicht als eine Alternative
zu Hollywood-Kino, sondern vielmehr als dessen missratendes
Stiefkind. Wie das Hollywood-Kino setzt auch das Kunst-Kino
nicht auf den Film, sondern auf den Inhalt. Indem aber das
Kunstkino macht, was das Hollywood-Kino auch macht, nämlich
das Thema, oder die Story als den eigentlichen Inhalt zu setzen,
zugleich aber das Hollywood-Kino in dessen Rudimentarisierung
der Filmsprache und in Abgrenzung zu diesem zu übertreffen
versucht, desavouiert es das Filmische, und unsere Lust, die
Welt neu sehen zu können, noch mehr als es das Hollywood-Kino
schon unternimmt. Es ist ein Kino, das uns in unserem Hunger
auf eine visuelle Erfahrung auf Diät setzt. An diesem Merkmal
des Verzichts auf eine visuelle Erfahrung lässt sich diese
Art von Kunstfilmen von wirklichen künstlerischen Filmen unterscheiden.
Die meisten dieser Filme leben - wenn sie überhaupt dies tun
- von etwas anderem, von interessanten Schauspielern, einem
gewissen Charme der Naivität, ein für ein interessant gehaltenes
Thema (persönliches Schicksal, soziale und politische Themen),
aber sie leben nicht aus sich selbst, aus ihrem Medium heraus.
Deshalb können uns diese Filme vielleicht unterhalten, und
durchaus können diese Filme einen eigenen Reiz haben, aber
diese Filme werden nicht unsere Wahrnehmung auf die Welt beeinflussen
können, und deshalb haben sie ihren Anspruch, Kunst sein zu
wollen, im Grunde schon verfehlt; die Devise dieses durchschnittlichen
Kunstkinos lautet: desto weniger Kino, desto mehr Kunst.
Da ich mich aber hier von den vorangegangen Überlegungen
des Formalisten Sklovskij stark habe leiten lassen, möchte
ich den vorgetragenen Sachverhalt noch mal in seinen Worten
verdeutlichen. Sklovskij schreibt in seiner berühmt gewordenen
Definition von Kunst: Um für uns die Wahrnehmung des Lebens
wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu
machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Ziel der Kunst
ist es, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden,
das Sehen und nicht nur ein Wiedererkennen ist. Dabei benutzt
die Kunst zwei Verfahren: Verfremdung der Dinge und Komplizierung
der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer
zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozeß
ein Ziel in sich und muß verlängert werden. Die Kunst ist
ein Mittel, das Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene
ist für die Kunst unwichtig.
Desto mehr Kino, desto mehr Kunst! So müsste die Devise des
künstlerischen Films lauten: Ein "ästhetisches Medium" zeigt
und bewahrheit seine Existenzberechtigung, insofern es zur
Vermittlung einer solcher Erfahrung sich befähigt zeigt.
Betrachten wir diesen wünschenswerten Soll-Zustand, nämlich
eines Kinos, das zu solchen Erfahrungen in der Lage ist, und
dem heutigen Ist-Zustand, in dem wir nur noch die Wahl haben
zwischen einem Kino, das uns nicht richtig nährt, und eines
Kunstkinos, das uns nur auf Diät setzt, stellt sich die Frage
- wenn wir nach der Zukunft des Kinos fragen - nicht nach
seiner technischen, sondern nach seinen ästhetischen Zukunft.
Dieses Kino müsste eine Antwort auf unsere Saturiertheit finden,
es müsste uns an einem Punkt führen, von dem aus wieder eine
Erfahrung möglich wird.
das nächste Kapitel: II.
Im Kino
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