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Übersicht
das erste Kapitel: I.
Nach dem Kinol
II. Im Kino
Wenn wir nun auf zwei Filme zu sprechen kommen (aber in Wahrheit
sprechen wir ja schon die ganze Zeit von ihnen), und beide
einen Wettlauf antreten lassen, um die Stelle, welches der
Filme den richtigen Weg in die Zukunft weist, dann sollte
man gar nicht so tun, als ob der Ausgang dieses Rennens nicht
schon längst entschieden wäre. Es ist nicht zu leugnen, dass
der Blick auf den momentanen Zustand des Kinos, der sich im
Zustand unserer eigenen Saturiertheit spiegelte, sich dem
Film DOGVILLE bereits schon verdankt. Das sich daraus ableitende
Anforderungsprofil ist daher auf DOGVILLE schon so perfekt
zugeschnitten, dass KILL BILL von vornherein als aussichtsloser
Bewerber sich die Füße vor der Tür vertreten kann. Bei einer
Stellenausschreibung in der lebensfremden Politik oder in
der kunstfernen Wirtschaft müsste man hier von unsauberen
Wettbewerbsdingungen sprechen, aber im Bereich der Kunst,
wie im wirklichen Leben, ist der Weg bekanntlich das Ziel:
Es kommt nicht darauf an, zu welchem Endergebnis man kommt,
sondern es kommt darauf an, welche Einsichten über die Filme
und über die Natur des Films man auf dem Weg findet. So macht
es auch nichts, den Ausgang des Rennens schon im Titel verraten
zu haben (ebenso wie der reine Spannungsfilm ist auch der
reine Spannungsessay allerunterste Schublade, und daher tunlichst
zu vermeiden).
Der Zufall, der beide Filme fast zeitgleich im Abstand von
einer Woche in unseren Kinosälen starten ließ, ließ in all
ihrer Gegensätzlichkeit ihrer Herkunft und ihrer Absichten
auch ihre innere Verwandtschaft erkennen, die vor allem darin
besteht, dass beide denselben Platz beanspruchen: nämlich
den Anspruch, eine Alternative zum Hollywood-Kino darstellen
zu wollen. Diese wichtigste und erste Gemeinsamkeit - ihr
gemeinsamer Anspruch - zeigt sich in ihrer Abkehr auf den
von der Hollywood-Filme typischen Abbildillusion, und der
Hinwendung zu eigenen ästhetische Welten. Allein diese Eigenschaft,
als "Filme" hervorzutreten, lässt sie zu Leuchttürmen innerhalb
einer verflachten, nivellierten Kinolandschaft werden. Die
Wege, die beide Filme weisen, sind gänzlich entgegengesetzt,
die Tatsache aber, dass sie überhaupt in den Himmel ragen,
zeigt ihren gemeinsames Wollen, einen Weg jenseits des gängigen
Hollywood-Kinos zu beschreiten. Vorab gesagt: Es wird sich
erweisen, dass es sich hierbei nicht nur um die Konkurrenz
zweier einzelner Filme handelt, sondern dass sich dahinter
alte Fehden verbergen, die sich bis in die Anfänge des Kinos
zurückverfolgen lassen: nämlich der Kampf zwischen dem "totalen
Kino", das allein auf die Eigenmächtigkeit der Bilder setzt,
und einem Kino, das von dieser Radikalität und Einseitigkeit
absieht, und sich vielmehr als Medium versteht. Der Streit,
der hier zwischen beiden Filmen in meinem inneren Rubriken-Bewertungskästchen
losbrach, ist also nicht nur durch die Gegensätzlichkeit von
zufällig zur gleichen Zeit gestarteten Filmen verschuldet,
sondern - wie es sich für jeden vernünftigen Streit gehört
- grundsätzlicher Natur.
Neben diesen morphologischen Gemeinsamkeiten trat aber noch
eine weitere Gemeinsamkeit hinzu, sicherlich die verblüffenste,
nämlich eine inhaltliche: die Gemeinsamkeit des Sujets. Nicht
nur, dass beide Filme von Rache handeln, sie widmen sich der
Rache auch in ähnlich positiver Weise: beiden Filmen stehen
weibliche Heldinnen voran, die sich für erlittene Demütigungen
und Verletzungen rächen; beide Filme wollen den Zuschauer
in Versuchung bringen, den Racheakt ihrer Heldinnen für gut
zu befinden. Wenn man bedenkt, dass ein Rachakt unserem Lebensgefühl
als modern fühlende und denkenden Menschen völlig widerspricht,
und wir auch im Kino den Rachakt nur als Notbehelf für fehlende
Gerechtigkeitsinstanzen in archaische Zeiten dulden (was die
verächtliche Rezeption der Death-Wishes-Filme in den 70ern,
und der Rambo-Serie in den 80ern beweist), dann stellt die
Wiederaufnahme der Rache als legitime, positive Handlung in
unserem kinematographischen Wahrnehmungsfeld sowohl eine moralische
Provokation, wie aber auch ein gemeinsames ästhetisches Versprechen
dar: nämlich das Versprechen, im Verlauf des Films aus unseren
gewohnten Denk- und Fühlgleisen weggeführt zu werden. Daher
könnte man auch geneigt sein, den Zufall - das gemeinsame
Sujet - nicht für einen Zufall zu halten, sondern gewissermaßen
als eine Notwendigkeit zu erkennen, die sich aus dem Anspruch
ableitet, dem Zuschauer eine einzigartige emotionale und kognitive
Erfahrung zu ermöglichen. Aber selbst, wenn man diese Zusammenhänge
bestreiten wollte, die Gemeinsamkeit des Sujets ist gegeben,
was ideale Wettbewerbsbedingungen schafft: Beide Filme lassen
sich daran messen, wie weit es ihnen gelingt, sich der Herausforderungen
des Themas zu stellen, und dem Zuschauer eine ungewöhnliche
Erfahrung zu ermöglichen.
Und noch etwas: Bei der Innenbesichtigung beider Filme werden
wir wiederholt auf den bekannten und viel veröffentlichten
Filmkritiker, Filmessayisten und Filmwissenschaftler Georg
Seeßlen stoßen. Das ist weder Zufall, noch beabsichtigt, sondern
dem schlichten Umstand geschuldet, dass Seeßlen eine diametral
verschiedene Position einnimmt, die er wiederholt in den verschiedensten
Veröffentlichungen dargelegt und beschrieben hat: Seeßlen
ist ein Bewunderer Tarantinos und hat sich auf der anderen
Seite 1999 in einem Artikel in der "Zeit" als Bekämpfer der
Filme Lars von Triers und der Dogma-Filme hervorgetan. Aber
wenn auch nicht beabsichtigt, so kann der Umstand, dass mit
Seeßlen ein Kontrahent mit ins Boot der Expedition kommt,
dafür sorgen, dass die Fahrt nicht allzu schnell in den trüben
Fluss monologischer Denkbewegungen gerät.
das nächste Kapitel: III.
Kill Bill
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