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Übersicht
das vorhergehende Kapitel:
II. Im Kino
III: Kill Bill
Auch wenn Tarantinos Kino, und man darf sagen, auf keinen
Fall zu Unrecht, im Verdacht steht, mit der eingangs beschriebenen
Misere der Erfahrungsresistenz und Saturiertheit verbunden
zu sein, vielleicht sogar auch ein wenig mitschuldig zu sein
an der Misere, dass das Kino kein wirklicher Ort der Erfahrung
ist, täte man Tarantino Unrecht, wenn ihn vom Endpunkt seiner
Entwicklung aus betrachten würde. Wie Georg Seeßlen richtig
sagt, hat Tarantino das Kino der 90er Jahre hauptsächlich
beeinflusst, und der Grund hierfür ist mit einigem gutem Willen
auch nachvollziehbar: Das postmoderne Kino hat mit seiner
polemischen Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Unterhaltung
zwar auch die Kunst mit aufgehoben - Kunst ist uncool - aber
der Impuls, aus dem dies geschah, war ein durchaus künstlerischer
Impuls: sich der scheinbaren Trivialkultur zuzuwenden, war
ein Protest gegen eine falsche und unproduktive Trennung zwischen
dem Film mit künstlerischem Anspruch und dem Unterhaltungskino.
Der Akt war deswegen künstlerisch, weil er darauf zielte,
die Möglichkeiten der Erfahrungen im Kino zu erweitern.
PULP FICTION stellt mit Recht den Höhepunkt und die Zäsur
dieses postmodernen Kinos dar. Allein schon der Umstand, dass
Tarantino das scheinbar Niedrige und Geschmähte in den Palast
des technisch perfekten Mainstream-Kinos führte, stellte einen
Akt der Revolte dar. Indem er die Schlüsselmomente, Schlüsselfiguren
und Schlüsselszenen aus dem früher als trivial verachteten
Genre-Kino in dem hellen Glanz unseres Mainstream-Bewußtseins
hereinstellte, rehabilitierte er das Geschmähte, und bescherte
einer ganzen Generation von Kino- und Fernsehzuschauern das
Glücksmoment, das früher als niedrig Geachtete nun im neuen
Glanz erhöht und anerkannt zu sehen. Aber Tarantino ließ nicht
nur die Genre-Inhalte in den Mainstream-Palast hinein und
zelebrierte mit ihnen die Genre-Liturgie, sondern gesellte
sich - und das war der zweite Kunstgriff - als ein anarchistischer
Ministrant hinzu, der immer wieder in die Liturgie eingriff,
und diese immer wieder in den entscheidenden Momenten der
Absurdität überführte. Damit rehabilitierte er nicht nur das
scheinbar triviale Genre, sondern zeigte einer Gemeinde aus
gebildeten und in die Liturgie eingeweihten Cinephiler (und
er bedurfte dieser Gemeinde), wie man sich sonst noch seiner
Kinophantasien bemächtigen kann. Warum sollte man, anstatt
seinen Phantasien ausgeliefert zu sein, nicht auf durchaus
respektvolle Weise Scherze mit ihnen treiben?
"Genres are part of our dreams", wie es ein amerikanischer
Filmtheoretiker mal formulierte. Macht man sich diese Analogie
zwischen Traum und Genre-Kino zueigen, dann lässt sich der
Nachteil des Verfahrens von Tarantino schon in PULP FICTION
nicht übersehen. Tarantino ließ uns sozusagen unser Innen-Kino
von außen betrachten, was zwar zu Witz und Ironie führte,
aber auch zu einer Abwertung des Inhalts. Mit dem Betrachten
der Kinoträume aus den Gangster- und Film-Noir-Genre von außen,
ging auch deren früherer, innerer Erfahrungsinhalt verloren.
Tarantino dachte gar nicht daran, die Erfahrungsinhalte selbst
zu wiederholen, oder uns dazu einzuladen, diese zu aktualisieren,
sondern er ließ uns diese betrachten und mit dem erwachsen
gewordenen Bewusstein darüber Witze machen. Die Konventionen
des Genres, sind, wenn man nicht mehr deren inneren Gefühlsinhalt
mitspürt, in der Tat nur noch komisch und grotesk anzusehen,
so wie einem die eigenen Träume grotesk werden, wenn man sie
sich vom überheblichen Gipfel des wachen Bewusstseins, oder
vom eisernen Katheder der Logik aus betrachtet. Auch schon
in den von Uma Thurman und John Travolta gespielten Figuren
floss mehr Zelluloid als warmes Blut in ihren Adern, und wenn
es in PULP FICTION realistisch zu werden drohte, etwa wenn
der Killer Viagra auf der Toilette überraschend erschossen
wurde, kam der nächste lustige Einfall, um uns ins Gedächtnis
zu rufen, dass es sich hier nur um Kino-Bilder und Kino-Figuren
- also nichts Ernstes - handelt.
So war schon PULP FICTION eine seltsame Zweischneidigkeit
eigen: Einerseits wurde den Genre-Träumen Tribut gezollt,
sie wurden gefeiert, in den Palast des Mainstream-Gesellschaft
eingeführt, aber auf der anderen Seite verloren sie in diesem
hellichten Glanz aber auch ihr einstmals angsteinflössendes
Aussehen. So wurde das Filmegucken zugleich zu einer speziellen
Tarantino-Therapie, die darin bestand, durch das Gewahrwerden
der von außen betrachtet lächerlichen Genre-Bilder sich der
früheren erlittenen Zuständen der Angst in diesen vergangenen
Kino-Träumen zu entledigen. Die Freude an der Wiedererkennung,
die ja zentrale Absicht dieses Kinos ist, ist zugleich immer
auch die Freude über die Wiederholbarkeit, und was wiederholbar
ist, hat seinen Schrecken schon verloren, und ist die Bestätigung
dafür, dass es schon Alltag geworden ist: dass wir uns in
diesem Innen-Kino schon wie in einem Wohnzimmer eingerichtet
haben.
Wenn man sich nun KILL BILL nähert, dann muss man das im
Bewusstsein tun, dass es sich um einen Kino-Film "zweiter
Ordnung" handelt, dass es also nicht um Rache geht, sondern
um den Rachefilm. Hier ist der wesentliche Unterschied von
KILL BILL zu Lars von Triers DOGVILLE schon benannt. Obwohl
beide Filme dasselbe Thema anschlagen, dieselbe Ausgangslage
haben (eine Heldin, die gedemütigt wird und sich an ihren
Peinigern rächt), und obwohl auch beide Filme eine emotionale
Wirkung erzeugen wollen, zielen beide auf eine andere Region
unserer Emotionen. Lars von Trier möchte mit seinem Film das
atavistische Gefühl der Rache selbst erwecken, er möchte unsere
gesamte Emotionalität. Tarantino möchte ausschließlich die
Gefühle wecken, die wir mit den Rachefilmen verbinden. Er
möchte also nur die Seite unserer Erfahrungswelt erwecken,
die wir mit dem Innen-Kino verbinden.
Wir müssen uns von Beginn an im Klaren sein, dass der Maßstab,
mit denen wir beide Filme ausmessen und bewerten wollen, nämlich
die Erfahrungsqualität, bei Tarantinos Film auf ein Missverständnis
beruhen könnte, das wir aber solange billigend in Kauf nehmen
wollen, bis geklärt ist, wo das Missverständnis zu suchen
ist - zwischen unserem Verständnis von Kino und Tarantinos
Verständnis, oder, wie wir jetzt schon freimütig vermuten
wollen, zwischen Tarantino und seinem Medium. Aber natürlich
möchte auch Tarantino keinen "kalten" Film machen, auch er
will unsere Emotionen erwecken, sogar die größten. Auf eine
kritische Frage im "Spiegel" verspricht Tarantino: "Klar,
das ist vielleicht nicht Ihre Art Kino, und es ist Ihr gutes
Recht den Film nicht zu mögen. Aber wer sich KILL BILL anschaut,
der erlebt garantiert einen Kinoabend, der sein Geld wert
ist. Sie können den Film hassen, seien Sie gewarnt! Aber Sie
werden bewegt sein im Kino und liegen nicht nur in Ihrem Sessel,
während ein paar beliebige bunte Bilder vor Ihren Augen vorbeirasen."
Man könnte, zumindest wenn man KILL BILL noch nicht kennt,
schon an dieser Stelle den Unterschied beider Regisseure formulieren:
Wäre Lars von Trier ein "klassischer" oder konventioneller
Künstler, der in seinen Filmen erzählt, welche Wirkung das
Leben auf ihn gehabt hat, so ließe sich Tarantino als der
Künstler bezeichnen, der uns mitteilt, welche Wirkung das
Kino auf ihn gehabt hat.
Aber leider: Das mag für PULP FICTION noch gelten, aber eben
für KILL BILL nicht mehr. In dem poetischen Verfahren von
PULP FICTION nimmt Tarantino in KILL BILL eine wesentliche
Änderung vor: Gab es in PULP FICTION nicht nur die Kinophantasien,
sondern als "realistischen" Moment den Zuschauer Tarantino,
der die Kinophantasie durch seine Einfälle kommentierte und
auch konterkarierte, eliminiert Tarantino sich nun selbst
aus diesem Verfahren. Damit eliminiert er das einzige Element,
was an seinem Kino "authentisch", was erste Hand war, und
nicht zweiter, oder dritter Hand. In KILL BILL soll es nur
noch die reinen Kinophantasien geben, das totale Kino. Das
ketzerische Ministrantengewand ausgezogen, die Kirchentür
verrammelt, so dass kein Lichtstrahl mehr von außen hereindringt,
erscheint Tarantino als Hohepriester des Genre-Kino, um uns
die totale, die reine Kinomesse zu zelebrieren. Es scheint,
als ob Tarantino seinen Platz als Zuschauer endgültig verlassen
wollte, um endlich auch einen "richtigen" Film zu machen,
den er schon mit "Jackie Brown" angestrebt hat.
Tarantino erzählt also nicht mehr, welche Wirkung die Filme
auf ihn gehabt haben, sondern er will die Bilder selbst erzählen
lassen. Damit haben wir mit dem Film KILL BILL das fast einzigartig
dastehende Experiment, das darin besteht, einen Film allein
aus Kinobildern zu komponieren und die Bedeutung allein aus
den Bildern zu schöpfen.
"Allein aus Bildern" heißt: dass alle anderen möglichen Bedeutungsträger
den Bildern gänzlich untergeordnet werden. Weder gibt es realistische
Charaktere, und zumindest, was den ersten Teil betrifft, gibt
es noch nicht mal den Ansatz eines Dramas. Es gibt lediglich
eine Ausgangssituation: eine junge Frau, die Mitglied einer
Verbrecherbande ist, wird von ihren Mitkämpfern auf Befehl
des geheimnisvollen Chefs Bill (den wir im ersten Teil nicht
zu sehen kriegen) halbtot geschlagen, wacht nach fünf Jahren
aus dem Koma wieder auf, stellt fest, dass sie dabei auch
ihr Baby verloren hat, und beginnt nun, nach einer Liste zu
den verräterischen Bandenmitglieder zu reisen, um sich an
jedem einzelnen zu rächen. Dies ist im Prinzip alles, was
"Geschichte" an dem Film ist, aber es ist, wie wir im Vergleich
mit DOGVILLE sehen werden, auch alles, was der Inhalt dieses
Films ist. Dass im zweiten Teil es doch zur Andeutung eines
Inhalts kommt, nämlich den Konflikt zwischen "Der Braut" und
"Bill", ihrem Lehrer, Erzieher und Mentor und Mörder, ändert
an dem Verfahren nichts, weil das ästhetische Verfahren selbst
auf diesen Konflikt nicht beruht. Die erzählerischen Zutaten
im zweiten Teil (Beziehungen zwischen den Figuren, sofern
man von Beziehung bei Comic-Figuren sprechen kann; Dialoge,
wenn auch fürchterlich klischierte) lassen das Verfahren nur
ein bisschen weniger streng erscheinen, was auch die allgemeine
Erleichterung erklärt, mit der man diese erzählerischen Zutaten
zur Kenntnis genommen hat. Die Bilder, die Einstellungen bleiben
dieser Story aber vollkommen enthoben, weil sie von außen,
aus dem cineastischen Fundus von Tarantino herein kommt, und
nicht - wie in einem "gewöhnlichen" Film - aus der Situation,
oder den Charakteren.
Sowenig es eine wirkliche Story gibt, so wenig gibt es auch
wirkliche Charaktere: Die Hauptfigur, genannt "Die Braut",
ist eine ganz und gar abstrakte Figur, was sich nicht nur
durch die Abwesenheit jeglichen inneren Konflikts, sondern
durch das Fehlen jeglicher Emotion zeigt. Offenbar wird diese
emotionale Leere vor allem in den Großaufnahmen: Wenn Thurman
z.B. Wut darzustellen hat (um das in KILL BILL vorherrschende
Gefühl zu nennen), dann senkt sie das Kinn, und justiert die
Pupillen an die oberen Augenrändern, und nichts weiter - es
ist nur Wut, ohne den natürlichen Beiklang eines anderen Gefühls.
Es ist eine Kindermimik, wie ja auch Kinder die dunklen Schatten,
die Widerständen und Ambivalenzen der Gefühlswelt empfinden,
diese sich aber noch nicht gegenüberstellen und zur Bewusstheit
bringen können. Es sind daher noch nicht mal Gefühle von Kindern,
die Tarantino zeigt: es ist eine idealisierte Kinderwelt,
in der jegliche Spuren von Schauer, Angst und Schrecken heraussublimiert
sind. Die Kamera findet keinen Inhalt, die Großaufnahme nicht
die ihr adäquate Gefühlsdarstellung. Nicht, dass Thurman schlecht
spielt, nur, es gibt für sie nichts zu spielen, und wenn wir
Thurman nicht schon in anderen Filmen gesehen hätten, wüssten
wir gar nicht, ob es sich bei ihr überhaupt um eine wirkliche
Schauspielerin handelt. Wenn sich mal eine echte Emotion androht,
etwa in der Szene, wenn "Die Braut" nach fünfjährigem Koma
entdecken muss, dass sie ihr Baby verloren hat - eine wie
Tarantino im Interview sagt, eigentlich "herzergreifende Szene"
- lässt ihr der Regisseur gerade mal wenige Augenblicke Zeit,
sich dieses Schreckens zu verinnerlichen, und zwingt dadurch
seine Hauptdarstellerin, den Schrecken und das Entsetzen in
völlig unglaubhafte klischeehaften Darstellungsweisen (Augen
aufreißen) verflüchtigen zu lassen.
Was wir hier mit leisem Bedauern feststellen, ist aber von
Tarantino gänzlich beabsichtigt. Tarantino hat sich mit PULP
FICTION zu Godard bekannt, und tatsächlich steht die Furiosität,
mit der Tarantino alles, was nach Story, Dramaturgie aussieht,
hinter sich lässt, in denkbar größtem Gegensatz zum plotfixierten
Hollywood-Kino. Rein nach Bildern erzählen heißt hier: was
als nächstes folgt, wird nicht von der Dramaturgie, einem
inneren Geschehen, oder gar von einem Charakter bestimmt,
sondern allein nach der bildlichen, emotionalen Steigerung
der Kampfbilder, der Orgie der Farbdramaturgie und der Blutfontänen
bis hin zu den gehäuften Leichen einer Kampfszene.
Die Bilder ohne ihren Inhalt, die Handlungen ohne ihre implizite
Moral haben zu wollen, sichert allein das Kino als einen utopischen
Ort, in dem es keine Folgen, keine Konsequenzen, keine Bedeutungen
gibt, sondern nur Bilder, die sich mit anderen Bildern verbinden.
Vermutlich haben wir mit KILL BILL den größten "Nouvelle Vague"
Film aller Zeiten vor uns. Die Idee des "reinen", des "absoluten"
Kinos ist noch in keinem Film in einer solchen Klarheit vor
uns hingetreten, wie in diesem Film. Die Besonderheit dieses
Kinos besteht nicht darin, dass es sich auf andere Filme bezieht
(das macht, mit unterschiedlichem Grad, jedes Kunstwerk offen
oder versteckt), sondern die Ausschließlichkeit, mit der es
sich auf andere Bilder bezieht, und mit der die Bilder sich
vor jeder weiteren Hinzutat, sei es einer Emotion, sei es
einer Geschichte, geradezu abdichten. Rein aus Bildern meint
auch "reine Bilder", und "reine Bilder" sind Bilder, die in
unserer Vergangenheit liegen, und nicht durch eine aktuelle
Emotionalität, man könnte fast sagen, verschmutzt, verunstaltet,
verunschönt werden sollen. Eine individuelle Emotion würde
die Schönheit der Bilder beeinträchtigen, und den Blick auf
sie verstellen. Die Verklärung des Films auf der Höhe eines
Gottes (wie dies Tarantino in Interviews immer wieder macht)
und der Kinovorstellung als einer Messe leitet sich direkt
von der Vorstellung des reinen Kinos ab. Man soll zwar Gott
preisen, aber man soll ihm zugleich auch nicht nahe kommen.
Man soll die vergangenen Kino-Bilder ehren, aber man soll
sich kein eigenes Bildnis von ihnen machen.
Das eigentümliche (innere) Bildnisverbot in den Bildern zeigt
sich am deutlichsten in den Gewaltdarstellungen, die Tarantino
einzig an seinen Vor-Bildern des Kung-Fu-Films und Spaghetti-Westerns
interessiert und übernommen hat (andere poetische Momente
dieses Genres finden in dem Tarantino-Kosmos keinen Widerhall).
Um den Zuschauer auf Distanz zu halten und um einen moralfreien
Raum zu erhalten, bedarf es immer auch der Aufrechterhaltung
des Wissens, dass es sich "nur" um einen Film handelt. In
PULP FICTION konnte eine sich androhende, realistische Gewaltszene
durch einen lustigen Einfall unterbrochen werden, der damit
dem Zuschauer zu Bewusstsein bringt, dass in Wirklichkeit
nicht Blut, sondern bloß Ketchup fließt. In KILL BILL aber,
in dem der "Ketchup" rufende Ministrant entfernt worden ist,
muss sich das warnende Bewusstsein, das es sich "nur" um Kino
handelt, durch die totale Übertriebenheit der Gewaltdarstellung
gleichermaßen durch meterhohe Blutfontänen, herumrollende
Plastikköpfen gleich mitinszenieren. Die Übertriebenheit,
mit der Kunstblut fließt, erweckt überhaupt nicht mehr den
Eindruck, als könnte es sich um wirkliches Blut handeln. In
dieser Gewaltferne seines Gewaltfilms zeigt sich seine Konzeption
eines reinen Kinos am deutlichsten. Die Gewalt könnte abstrakter
nicht auftreten, das Blut nicht übertrieben genug aus den
Schläuchen spritzen, so dass es nicht nur ein Kalauer ist,
wenn wir sagen, noch niemals ein blutleereren, gewaltloseren
"Gewaltfilm" gesehen zu haben als diesen.
Just an dieser Stelle würde nun Tarantino sagen, ja, das
ist genau das, was ich beabsichtige. Und eben genau an dieser
Stelle müssen wir uns ernstlich auf die eben schon erwähnte
Frage einlassen, auf welcher Seite das Missverständnis liegt,
wenn wir auch auf Tarantinos Kino den Maßstab der ästhetischen
Erfahrung anlegen - auf unserer, die wir Tarantino nach falschen
Maßstäben messen, oder auf Seiten Tarantinos, wobei das Missverständnis
nicht zwischen Tarantino und uns (den Zuschauern), sondern
zwischen ihm und dem Medium des Films liegt. Es ist schon
ein seltsamer Widerspruch, dass Tarantino auf der einen Seite
ein Höchstmaß an Spannung und Emotionalität verspricht, auf
der anderen Seite aber jeder Eindruck, dass es in seinem Film
tatsächlich um etwas gehen sollte (um ein Leben, um die Ehre
o.ä.) sofort wieder verneint wird. Welche emotionale Wirkung
soll sich beim Zuschauer einstellen, sieht man von der Freude
des Wiedererkennens von früheren Filmen ab?
Es ist schon befremdlich, dass Tarantino die Konsequenz seines
eigenen Verfahrens offensichtlich nicht durchschaut. In besagtem
"Spiegel"-Interview erzählt Tarantino auf die Frage, wie viele
Tote es in seinem Film gebe, er wisse es nicht, irgendwann
hätte er aufgehört zu zählen. Die Antwort dieser Frage lautet
natürlich: Keine einzigen, denn was noch nicht mal eine Eigenleben
beansprucht hat, kann auch nicht sterben.
Noch seltsamer erscheint, dass Tarantino auch nicht aufzugehen
scheint, wie sehr er sich mit der splatterhaften "Unrealistik"
von seinen Vorbildern (Sergio Leone, den Bruce-Lee-Filmen)
denen er doch nacheifern möchte, entfernt, und man könnte
fast den Eindruck haben, dass Tarantinos Beziehung zu den
Meistern des Spaghetti- und Kung Fu-Films wie fast in jeder
Fan-Beziehung auf eine unredliche Usurpierung, zumindest auf
jenes schon erwähnte Missverständnis hinausläuft (und es sind
ja einzig nur die Vor-Bilder, die ja die Bilderwelten Tarantinos
legitimieren, weil es einen anderen Bezugspunkt nicht gibt).
Man kann diesen Sachverhalt leicht erkennen, wenn man außerhalb
der Bilderwände von Kill Bill sich der Wirkung der Vorbilder
Tarantinos ins Gedächtnis zurückruft: den trashigen und doch
manchmal kunstvollen Kung-Fu-Filmen.
Alle Kunst findet in einem vom Leben abgetrennten Bereich
statt, aber das ist nicht, wie Tarantino offensichtlich meint,
schon das Ziel, sondern dient bloß dem Zweck. Der Zweck besteht
darin, in dem abgegrenzten Raum der Kunst eine Erfahrung zu
ermöglichen, die das normale, alltägliche Leben nicht hergibt.
Auch das Genre-Kino mit seinen besonderen Regeln und Konventionen
ist geschaffen, uns mit einem besonderen Ausmaß von Brutalität
zu konfrontieren. Daher waren die Übertriebenheiten der von
Tarantino verehrten Vorbilder auch niemals so übertrieben,
dass die Brutalität (etwa die Abtrennung eines Arms) nicht
mehr glaubhaft erschienen wäre. Die "Gewalt" war immer realistisch
genug, um die Empathie des Zuschauers am Leben zu erhalten,
und sie war schön und abstrakt genug, dass wir uns trotz der
Brutalität ihr nicht entziehen konnten. Zwischen der Schönheit
des Bildes und der Angst und Ekel auslösenden Handlung entstand
im Bild eine Ambivalenz und erst durch diese Ambivalenz war
auch Faszination möglich. Jeder, der sich als Jugendlicher
in einen Bruce-Lee-Film getraut hat, wird sich dieser Ambivalenz
erinnern, auch wenn er es damals nicht Ambivalenz genannt,
sondern nur als dumpfe Mischung der Freude und Angst vor der
ersten brutalen Kopf- und Glied-ab-Szene wahrgenommen hat,
mit der bangenden Frage im Hintergrund, ob er die Brutalität
der nächsten Szene überstehen würde. Tarantino aber will von
der Ästhetik nur das Ästhetische, er will nur die Schönheit
der Gewalt, ohne aber das Empfinden der Gewalt dazu.
Ästhetisch lässt sich sein Verfahren, Schönheit und Authentizität
herbeirufen zu wollen, vielleicht am ehesten mit dem in der
Architektur als Signum der Postmoderne bekannten Verfahrens
der "kritischen Rekonstruktion" vergleichen. Wie dort unternimmt
Tarantino den Versuch, einerseits die aus der Vergangenheit
bekannten Bilder aus unserem kollektiven Gedächtnis bis hin
zur sklavischen Nachahmung auszustellen. Andererseits stellt
er die Kampfszenen in schöneren, aufgefrischten Bildern dar,
indem er sie in einer Perfektion durchkomponiert, die für
seine Vorbilder niemals möglich gewesen wäre (für manche Kampfszene
hat er nach eigener Auskunft 22 Drehbuchseiten gebraucht).
Was vielleicht noch in Verzückung versetzen kann, wenn wir
in einem technisch besser ausgeleuchteten Film die kämpfenden
Schauspieler am Drahtseil hängen sehen, und dann verzückt
aufstöhnen "Oh, die gute, alte Drahtseiltechnik", führt andererseits
aber zu dem Gefühl, nicht unbedingt einer Fälschung zu begegnen,
aber doch nur eine bloße Fassade zu erblicken, in denen wir
zwar Originalteile wiedererkennen können (eine Einstellung,
eine Kamerawinkel, ein Requisit, der originaler Kung-Fu-Schauspieler),
die aber dennoch die emotionale Erinnerung an die vergangenen
Filme nicht wiedererwecken können (vielleicht muss man sich
dieses ästhetische Verfahren so vorstellen, als würde Steven
Spielberg einen Porno-Klassiker wie "Deep Throat" mit seinen
zur Verfügung stehenden technischen Mitteln nachdrehen, wozu
er dann noch Originalschauspieler in Nebenrollen steckt).
Da Tarantino dem nichts weiter zufügt, sondern sich innerhalb
dieses Verfahrens sklavisch zu seinen Vorbildern verhalten
muss (denn eine andere Referenz hat er nicht), führt dieses
Verfahren zu Fassadenbildern und auch Fassadenhandlungen.
So lässt Tarantino im ersten Teil die Szene, in der die Heldin
vom Schwertmeister das Schwert erhält, in quälender Länge
ausspielen, wobei den Fan wohl nur noch die Tatsache in Verzückung
zu setzen hat, dass der Schwertmeister vom Kung-Fu-Schauspieler
Sona Chiba gespielt wird.
Im zweiten Teil von KILL BILL wird das Prinzip dieses Verfahrens
noch deutlicher: Anstelle der übertriebenen Gewaltszenen,
die uns ja das Bewusstsein am Leben erhalten, dass wir "nur"
einen Film sehen, erhalten wir Zitat-Bildern von noch mehr
Filmen als im ersten Teil, was dazu führt, dass der Film wie
ein Potpourrie verschiedener ästhetischer Versatzstücke erscheint,
die sich aber nicht aus dem Film ergeben, und dadurch auch
kein Ganzes bilden können. Ob eine John-Ford Einstellung oder
ein Sergio-Leone-Szenennachbau kommt, entscheidet sich nicht
nach der Konfliktlage der Figuren, sondern aus der Absicht
des Regisseurs, uns an diese Filme zu erinnern und seiner
Freude, Filmeinstellungen der Filmgeschichte nachzubauen.
Die Figuren selbst sind gänzlich Gefangene dieser Ästhetik,
in diesen technisch perfekten Szenennachbauten eingesperrt
wie in einem Bernsteinglas.
Tarantino, soviel kann man sagen, ist in technischer Hinsicht
ein glänzender Rekonstrukteur. So pinselt er beispielsweise
Unterweisungsszenen beim Lehrmeister Pei Mai (auch ein aus
anderen Filmen herbeigeklonter Filmbösewicht) "naturgetreu"
in den verwaschenen Farben der Kung Fu-Filme der 70er Jahre
nach, und kopiert die gesamte Ästhetik der Filme mitsamt der
Kamerabewegungen (das plötzliche Zoomen der Kamera auf die
Gesichter, wenn gerade etwas Bedeutendes gezeigt werden soll).
Uma Thurman (die wir als heutige Schauspielerin wissen) wirkt
darin selbst wie in einem 70er Jahre Film hereinkopiert. Im
Unterschied zum Verfahren der "kritischen Rekonstruktion"
unterlässt es Tarantino allerdings, hinter den Fassaden eine
Welt zu errichten, die den modernen Bedürfnissen entspricht,
er belässt es dabei, sie vielmehr ihres eigenen emotionalen
Inhalts zu "entkernen" (was möglicherweise aber schon dem
modernen Konsumenten-Bedürfnis entgegenkommt). Es gibt keine
Möglichkeit, hinter die Fassaden in das Innere der Bilder
zu dringen, und vielleicht wäre es richtiger, von den Bildern
nicht als Fassaden, sondern vielmehr von Attrappen von Fassaden
zu sprechen.
So sehr Tarentino, im Unterschied zum Hollywood-Kino, von
Bilder fasziniert ist, so sehr kann sich diese Faszination
nicht mehr vermitteln, weil ihr emotionales Gegenstück, der
Ekel, die Angst und der Hass aus den Bildern heraussublimiert
ist. Somit sehen wir zwar Tarantino wie einem Kind zu, das
fasziniert in der Nachstellung des von ihm Gesehenen vertieft
ist, aber ohne die Faszination noch nachempfinden zu können.
In einer sehr klugen und ausführlichen Besprechung zu KILL
BILL hat Andreas Kilb Tarantino ein Fetisch-Verhältnis zu
seinen Bildern attestiert, und das scheint auch die richtige
Diagnose zu sein: Die Bedeutung (der emotionale Gehalt, der
intellektuelle Gehalt) liegt niemals in dem Medium selbst,
in der Literatur nicht in den Worten, und im Kino nicht in
den Bildern, die Bedeutung liegt sozusagen vor dem Medium,
und wird erst sichtbar durch das Medium. Tarantino glaubt
aber irrtümlich, mit den Bildern auch den Inhalt zu haben.
Ohne aber eine gefühlte Bedeutung in den Bildern gibt es aber
auch nichts mehr, was gesteigert werden könnte, außer die
äußere Virtuosität, die aber ohne die Grundlage eines gefühlten
Inhalts sinnleer bleibt. Weniger abstrakt gesprochen: wenn
nach ungefähr einer halben Stunde der erste Kopf vom Rumpf
fliegt, und sich noch nicht einmal das leiseste Erschrecken
einstellen will, ist der Film im Grunde schon an seinem Ende.
Man kann das eigentliche Problem dieses Verfahrens noch ein
wenig allgemeingültiger und abstrakter angehen. Georg Seeßlen,
der im Unterschied zu mir bei KILL BILL "die Wonnen verlorener
Kindheit" gespürt hat, hat in seiner Kritik zu dem Film geschrieben:
KILL BILL verhält sich zu seinem Material (gemeint sind die
Filme von John Woo, Sergio Leone u.s.w., d.V.) wie ein gewöhnlicher
Film zur Wirklichkeit". Das ist eine zutreffende Beschreibung
des Verfahrens von Tarantino, die aber statt sich schon als
Antwort zu bequemen, doch zu weiteren Denk-Schritten auffordern
müsste. So müsste man sich doch mal ganz naiv und unvorbelastet
fragen, wie das gehen soll, wenn ein Medium zum selben Medium
sich als sein Material verhält, und wie daraus überhaupt eine
emotionale oder kognitive Wirkung entstehen soll. Es ist ja
gerade die Verschiedenheit des Mediums vom Leben, die ja die
Voraussetzung dafür darstellt, dass das Leben auch tatsächlich
zum Material und das Medium zum Medium werden kann.
Um das Beispiel von Sklovskij aufzugreifen: Wenn ein Strahl
(Material) sich durch ein Prisma (Medium) bricht, entsteht
Bedeutung, nämlich eine emotionale und kognitive Wirkung.
Das Ergebnis im glücklichen Fall ist: Wir sehen die Welt mit
anderen Augen. Das Licht ist das Material, durch das es durch
das Prisma gebrochen wird. Je verschiedener nun das Medium
vom Leben ist, desto größer auch der Brechungsgrad. Jedes
Medium hat sein besonderes spezifisches Brechungsverhältnis
zu seinem Material, dem Leben, je nach dem, wie "abgehoben"
es ist (das Brechungsverhältnis vom Leben zur Musik zum Beispiel
ist größer als das Brechungsverhältnis zu einem Roman). Das
Brechungsverhältnis von einem Medium zum anderem, etwa vom
Kino zur Literatur, ist zwar auch noch vorhanden, aber nicht
mehr ganz so groß, was man an den vielen literarisch verbrämten
Filme erkennen kann. Das Brechungsverhältnis aber von demselben
Medium zum selben Medium ist ausgesprochen gering und kann
bestenfalls durch die gegenseitige Spiegelung in den als gegensätzlich
empfundenen Genres (ein Melodram durch eine Komödie, vom Gangsterfilm
durch einen film noir - Melville) erzeugt werden. Aber ein
Brechungsgrad von Medium desgleichen Genres zum Medium desgleichen
Genres liegt knapp über den Gefrierpunkt . Hier wird deutlich,
warum PULP FICTION noch halbwegs funktionieren konnte, und
warum " Kill Bill" nicht mehr. In PULP FICTION hatte Tarantino
sich als aufgeklärter Zuschauer in die zitierten Kinophantasien
implantiert, wodurch ein geringer Brechungsgrad vorhanden
war, und zumindest Witz und Ironie erzeugt werden konnte.
In dem "totalen" Kino gibt es nichts mehr, was die Wahrnehmung
verschieben oder verändern könnte, was auch die Öde an Sinn-
und Bedeutungsleere von KILL BILL erklärt.
Den Versuch, durch die inzestuöse Vermischung an sich schon
verschwisterter Genres (des Spaghetti-Western mit dem Kung-Fu-Film)
ohne weitere Hinzutat eine emotionale Reaktion (sozusagen
als Wertzuwächse) zu gewinnen, lässt sich durchaus mit dem
Größenwahn anderer alchimistischer Versuche der Menschheitsgeschichte
in eine Reihe stellen. Auf der anderen Seite drängte sich
ja schon im Vergleich mit Tarantinos Vorbildern der Verdacht
auf, dass entgegen allen Bekundungen Tarantinos eine irgendwie
geartete Bedeutung überhaupt nicht gewollt ist. Im Gegenteil:
Um die Kinowelt als reine Kinowelt zu erhalten, ist die Bedeutungsferne
das eigentlich angestrebte Ziel, weil mit einer Bedeutung
(eine emotionale Wirkung) doch wieder das Leben an dem Kino
herantreten lassen könnte. Das zeigt sich an der einzig "menschlichen"
Szene, als die Hauptfiguren am Ende von KILL BILL sich gegenübersitzen,
und ernsthaft überlegen, ob sie aus ihrem rein künstlichen
Genre-Dasein nicht doch heraustreten könnten und menschliche
Gefühle zeigen. Es ist die einzige Szene, in der sich Tarantino
an das wirkliche Leben herantastet. Aber natürlich wird auch
diese Szene wieder ironisch vermittels von gezeigten Fernsehbildern
gebrochen, und natürlich können und wollen die Figuren nicht
aus ihrem künstlichen Leben hinaus. Dieses Kino kann und will
sich nur durch Abdichtung erhalten. Es ist nichts anderes
als eine hochsublimierte Kino-Idylle, hinter dem der alte
postmoderne Traum aufscheint, das Leben leben zu können, ohne
das Leben zu riskieren. Die Utopie dieses Kino ist die Vorstellung
eines Lebens, in dem alles nichts bedeutet, und daher alles
keine Bedeutung hat. Deswegen auch die Begeisterung für das
"total Übertriebene", die freudige Hingabe am Unechten, und
die Begeisterung des Kritikers der Berliner Zeitung für falsche
"Tränchen" statt für wirkliche Tränen.
Das Leben aber leben zu können, ohne das Leben zu riskieren,
ist nicht nur eine ziemlich infantile Vorstellung vom Leben,
sondern auch von der Kunst. Uns an einen Ort zu führen, wo
alles erlaubt ist, weil alles nichts mehr bedeutet, darin
liegt wohl das eigentliche Versprechen von Tarantinos Kino.
Ein Kino-Planet-Schlaraffenland. Weil wir uns doch immer in
irgendeiner Weise zu etwas und jemanden verhalten, im Leben
wie in der Kunst, lässt sich im Leben und in der Kunst die
Ästhetik von der Moral nicht trennen. Und weil sich die innere
Bedeutung durch keinen Kunstgriff aus den Bildern herausjagen
lässt, scheitert KILL BILL eben nicht "nur" ästhetisch, sondern
kann er dieses Versprechen nicht einlösen. Um aber die Illusion
zu erhalten, dass es einen solchen moralfreie Ästhetik geben
könnte, darf die Moral eben nicht sichtbar werden. Und um
nicht sichtbar zu werden, darf gegen sie nicht verstoßen werden.
Deshalb darf der Film die unsichtbaren Grenzen unserer Alltagsmoral
niemals überschreiten. Wenn man einmal diese innere Logik
erkannt hat, hört man auch auf, sich darüber zu wundern, dass
es diesem so coolen Film nicht mal mehr gestattet ist, zumindest
doch sein Rachethema wirklich als solches auch ausspielen
zu dürfen.
Weil die Vermeidung von echter Rache für einen "Rachefilm"
schon etwas eher Ungewöhnliches ist, und weil wir ja KILL
BILL und DOGVILLE daran messen wollten, wie weit es beiden
Filmen gelingt, uns über die Thematik der Rache eine ästhetische
Erfahrung zuteil werden zu lassen, möchten wir die betreffende
Szene schildern, in der Tarantino sein Rachethema verrät.
Gemeint ist nicht der Akt des Tötens selbst, sondern das Fehlen
der Überwindung des Rachetabus. Es handelt sich nicht um die
erste Kampfszene, aber um die erste und auch einzige Racheszene
des Films. Nachdem "die Braut" aus dem Koma erwacht ist, und
entdeckt hat, dass sie ihr Kind verloren hat, fährt sie zu
ihrer ersten Ex-Kollegin, um sich an ihr zu rächen. Als diese
an die Tür kommt, entbrennt sofort ein Schwertkampf. Nun baut
Tarantino einen moralischen Widerstand in Gestalt der herannahenden
fünfjährigen Tochter "der Bösen" an. Dieser Widerstand ist
notwendig, denn um das Tabu der Rache zu brechen, müssen die
inneren Skrupel überwunden werden, denn ohne den Widerstand
würde die Rächende sich ihrer Rachsucht und ihrer Rücksichtslosigkeit
nicht bewusst werden. Die Braut reagiert auf diesen Widerstand,
indem sie der Bitte der Bösen nachkommt, den Kampf zu unterbrechen,
wobei die Braut den Zuschauer daran erinnert, dass deren Mutter
Mitschuld am Tod ihres eigenen, ungeborenen Babys hat, was
den Mitleidseffekt für die Mutter-Böse schon mal etwas abdämpft.
Das Kind wird nach oben geschickt, die beiden Frauen gehen
in die Küche, und beginnen zu plaudern, was in den Zwischenjahren
passiert ist. Natürlich würden wir erwarten, dass der moralische
Widerstand überwunden wird, und "die Braut" den Kampf wieder
aufgreifen wird. Stattdessen dreht sich die Böse mitten in
dem Geplauder um und schießt durch eine Pistole, die sie in
einer Cornflakespackung verborgen hat, auf die "Braut", der
natürlich nichts anderes übrig bleibt, als sich zu wehren
und die Böse tötet.
Was ist passiert? Tarantino baut einen moralischen Widerstand
in Gestalt des Kindes ein, wodurch das Tabu der Rache sichtbar
wird. Die Braut ist in einem inneren Konflikt. Die Frage ist,
ob ihr Rachebedürfnis so groß ist, dass sie diesen Widerstand
überwindet. Anstatt "der Braut" das amoralische Recht auf
Rache, und damit auf den ersten Schlag zu lassen, lässt Tarantino
die "Böse" den feigen Mordanschlag begehen, wodurch die Braut
aus ihrem inneren Konflikt plötzlich entlassen wird, und der
vermeintliche Racheakt zu einem besonders öden Fall moralisch
korrekter Notwehr verkommt. Man sieht dann zwar das Mädchen
an der Tür, das auf ihre tote Mutter ziemlich ausdruckslos
guckt, zu der die Braut spricht, sie würde verstehen, wenn
diese sich mal an ihr rächen würde. Aber das Gerede der Braut
zu dem Mädchen ist nur noch bloße Behauptung, in unseren Augen
ist sie mehrmals freigesprochen, weil mehrmals entschuldigt:
die Mutter des Mädchens war sowieso böse, sie hat zusammen
mit den anderen das Kind der Braut auf den Gewissen, die Braut
hat die Kampfhandlung freiwillig eingestellt, die Mutter hat
einen feigen Anschlag verübt, und die Braut war sozusagen
gezwungen, die Mutter zu töten.
Wenn es überhaupt eines Beweises bedurft hätte, dass ein
moralfreier Raum nicht existiert, und dass eine reine Ästhetik
nicht zu bekommen ist, dann wäre er hiermit geliefert. Hat
der Film durch sein im Vorspann vorangestelltes Motto "Die
Rache wird kalt serviert" uns doch in der Erwartung gewogen,
dass die Alltagsmoral davon gejagt würde, um uns damit in
einem bedeutungsfreien Raum zu bewegen, sehen wir nun diese
gute alte Moral wie einen alten und gebückten Hausierer wieder
durch die Hintertür hereinschleichen, der uns seine alten,
aufgewärmten Entschuldigungsgründe an den Mann zu bringen
versucht. Hier offenbart sich ein Kino, das sich von eigens
gezüchteten Illusionen nährt, und mit falschen Versprechungen
lockt: Erst ein Schild mit der Aufschrift "Rasen betreten
verboten" (das Rachetabu in Gestalt des herannahenden Kindes)
aufzustellen, das Schild dann klammheimlich zu entfernen (die
Böse ist Schuld am Tod des Kindes der Braut), und dann uns
die Rasenfläche noch nicht mal betreten, also den Racheakt
uns noch nicht mal vollziehen, und stattdessen zu einem Fall
von Tötung aus Notwehr verkommen zu lassen, zeugt von einem
Kino, das selbst zu der unschuldigsten Erfahrung nicht mehr
in der Lage ist. Zwar gibt es, wie wir jetzt sehen konnten,
am Ende von KILL BILL so etwas wie einen halben Racheakt -
die Braut muss mit "Bill" den früheren Liebhaber und Vater
ihres Kindes umbringen, was immer schon ein zumindest gedachter
moralischer Widerstand ist (was dem Kind aber scheinbar, das
später glücklich vor dem Fernseher sitzt, nichts ausmacht)
- aber dieser Racheakt ist dermaßen wieder entschuldigt durch
den vorherigen Diskurs, und schließlich durch den dahinscheidenden
Bill selbst, dass auch hier jedes Erlebnis einer grenzüberschreitenden
Geschehens von vornherein ausgeschlossen ist. Angesichts der
von Tarantino im seinen Interviews verbreiteten markigen Worten
von Schwanz und Eiern, mit denen er seine Produktivität metaphorisiert
("Denn was passiert, wenn Regisseure nicht mehr auf ihren
Penis hören? Sie machen Schlappschwanzfilme. Das soll mir
nicht passieren" Spiegel-Interview), könnte man in die Versuchung
kommen, die Sachlichkeit unserer Überlegungen zu verlassen,
und den Film KILL BILL als das zu bezeichnen, was er letztlich
auch ist, nämlich als einen Rachefilm für den narzisstischen
cinephilen Bordellgänger des Kinos. Der wahre Fan aber wird
seiner Erinnerungen und Antriebe genauso beraubt, wie wir,
die in den 70er Jahren wie Tarantino in die Bruce-Lee-Filme
und Spaghetti-Western gegangen sind.
Schon jetzt ist es keine Frage, welches der beiden Filme
der bessere Rachefilm ist. Bezüglich aber unseres übergeordneten
Interesses müsste man das Scheitern von KILL BILL noch mal
in dem Zusammenhang betrachten, den wir anfangs aufgestellt
haben. Hierfür wollen wir noch einmal die theoretische Feststellung
aufgreifen, dass Tarantinos Kino sich zum Kino als sein Material
verhält, wie der gewöhnliche Film zum Leben. Wenn man den
Akzent dieser Feststellung nicht auf den Gegensatz, sondern
das Gemeinsame legt - "wie zu", und dabei unterstellt, dass
mit dem gewöhnlichen Film das "Hollywood-Kino" gemeint war,
dann findet diese Feststellung seine weitere Bewahrheitung
darin, dass Tarantinos Kino sich in der Tat in einer wichtigen
Hinsicht genau wie das gewöhnliche Hollywood-Kino verhält.
Beide Arten von Kino verhalten sich nämlich zu dem Film als
Medium gleich zerstörerisch, der Unterschied ist lediglich,
dass die Zerstörung von zwei entgegengesetzten Enden ausgeht:
Gibt uns das Hollywood-Kino von der Inhaltseite die Illusion,
unsere Alltagswelt abzubilden, indem es auf den Inhalt setzt,
und die Form unterdrückt, so soll uns Tarantino von der Formseite
her die Illusion geben, unser Innen-Kino abzubilden, indem
er den Inhalt unterdrückt. Beides führt, wie wir gesehen haben,
zu einer Verabsolutierung von Bildern, die nichts weiter mehr
enthalten, als das, was in ihnen zu sehen ist.
Von einem künstlerischen, bzw. kunstdiagnostischen Standpunkt
aus betrachtet gebiert das Verfahren Tarantino eine Kunst,
die wie an sich selbst pathologisch geworden ist. Hat uns
Tarantino in PULP FICTION unser Innen-Kino von außen betrachten
lassen, so sperrt er uns mit KILL BILL in unserem Innen-Kino
hinein. Er führt uns zwar aus unserer Alltags-Welt heraus,
bzw. er löscht sie aus, indem er dem Blick aus unserem Alltagsfenster
eine Leinwand vorschiebt, wo wir Bilder sehen, die wir als
genauso "wirklich" und absolut begreifen sollen, wie die Bilder
des Alltagslebens. Ob wir aber, wie im Hollywood-Kino, in
unserem Alltagsgefängnis eingesperrt, oder aber, wie bei Tarantino,
in unserem Innen-Kino mit all den Fassadenbildern eingemauert
sind, macht auf die Dauer auch keinen Unterschied mehr. Im
Gegenteil: Was eigentlich Ort der Freiheit sein soll, nämlich
das Kino, wird zu einem Ort, in dem wir mit unseren Kinobildern,
zwangskollektiviert werden. Auf die Dauer ist das so beglückend,
wie Dauerfernsehen im Ich-Gefängnis.
das nächste Kapitel: IV.
Dogville
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