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28.10.2004
 
 
       

Dogville Kills Bill
Frank Müllers' umfangreiche Auseinandersetzung mit KILL BILL und DOGVILLE

 
 
Grace
   
 
 
 
 

Übersicht
das vorhergehende Kapitel: III. Kill Bill

IV. DOGVILLE

Wenn wir nun die pompöse Kinomesse von KILL BILL verlassen und in den Film DOGVILLE treten, dann ist das so, als würden wir aus einer Kinokathedrale aus Pappmaché in die lautere Wahrhaftigkeit einer einfachen Dorf- und Wanderkirche auf dem Land treten, die mit der Zeit aber eine Wirkung entfaltet, mit der sie sich als die wirkliche, echte Kathedrale erweist.

Natürlich können wir über den Film DOGVILLE nicht reden, ohne über die "Dogma-Bewegung" zu reden, die von Lars von Trier nicht nur gegründet und initiiert wurde, sondern von ihm auch im Wesentlichen geprägt wird. Die öffentliche Diskussion um diese Bewegung irrlichtert ein wenig an der Oberfläche, weil hierzulande nicht so sehr die Idee der freiwilligen Beschränkung wahrgenommen und diskutiert wird, als die einzelnen Regeln selbst, die ja aber nur eine Spezifizierung dieser Idee der freiwilligen Beschränkung sind. Es scheint fast, als hätte sich ein Volk von Kritikern in ein Volk von Verkehrswächtern verwandelt, das jede Nichteinhaltung und Übertretung einer Dogma-Regel bereits entweder "Schwindel" rufen oder das baldige Ende der Dogma-Bewegung selbst herbeirufen lässt. Dabei haben Regeln in der Kunst natürlich eine gänzlich andere Bedeutung als Regeln im Verkehr, nämlich eine genau entgegengesetzte: Regeln im Verkehr sollen die Wiederholbarkeit und Berechenbarkeit der Abläufe garantieren, Regeln in der Kunst sollen diese unterlaufen oder sogar zerstören. Regeln in der Kunst dienen der Herausforderung, Regeln im Verkehr dienen dazu, es zu möglichst wenig Herausforderungen kommen zu lassen. Im gewissen Sinn sind Regeln in der Kunst aus dem selben Grund gut, wie im Sport, weil einzig nur dort, wo es Regeln gibt, auch Virtuosität möglich ist, aber anders als beim Sport ist in der Kunst auch noch der Regelverstoß mit inbegriffen.

Die Selbstbeschränkung hat den Zweck, einen neuen frischen Zugang auf die Welt sich zu erhalten, denn nichts ist tödlicher für die Kunst als die Konvention und sei es die eigene. Die Erkenntnis, dass die Kunst sich wandeln müsse, damit die Wahrnehmung auf der Welt sich erhalten kann (Sklovsky), hat Lars von Trier mit den Dogma-Regeln sich zu seinem selbstregulierenden Prinzip erhoben. Die Forderungen nach Verzicht auf technisch-manipulative Möglichkeiten des Films fordern den Künstler ebenso heraus, wie sie von ihm verlangen, dass er seine Abbildung und damit seine Sichtweise nicht der Konvention der Technik überlässt, sondern dass er sich einen offenen, dynamischen Zugang zur Realität bewahrt, wobei auch das, was dabei von außen zufällt (Wetter, Licht, die Spontaneität der Schauspieler) nicht als Zufall abgewertet, sondern zum Bestandteil des Films wird. Bei Kenntnisnahme dieser künstlerischen Absichten mag auch die "Hintergrundinformation" keine so große Überraschung mehr auslösen, dass die Dogma-Idee der Selbstbeschränkung ein Vorbild hat, das halb aus der bildenden Kunst und halb aus der ethnologischen Dokumentation entstammt: namentlich in der Person des Dokumentarfilmers Jørgen Leth, der für die Dogma-Bewegung das bewunderte Vorbild ist, und mit dem von Trier nach DOGVILLE einen Dokumentarfilm "Die fünf Hindernisse" (dt. Titel) gedreht und in Venedig gezeigt hat, in dem von Trier den Spieß umdreht und Leth immer wieder selbst Regeln auferlegt (ein Film, der im August zu sehen war). Sich nur auf die Regeln zu kaprizieren, ohne die dahinter ernsten künstlerischen Absicht zu sehen, die alle im dazugehörigen Manifest nachzulesen sind, mag unserer regelrechten Regelgläubigkeit geschuldet sein, aber ist ein wenig so, als würde man sich die von Moses überbrachten 10 Gebote betrachten, ohne den Glauben an einem Gottes wenigstens zur Kenntnis zu nehmen (geschweige diesen zu teilen). Ohne die Zurkenntnisnahme von der Idee eines Gottes wäre wohl auch Moses als Wichtigtuer oder gerissener Ideenverkäufer verlacht worden.

Obwohl aus dem vermeintlichen Scherz einige anerkannte Meisterwerke, zumindest sehr ernstzunehmende Filme erwachsen sind - FESTEN von Thomas Vinterberg, BREAKING THE WAVES und DANCER IN THE DARK und nun DOGVILLE von Lars von Trier, werden die künstlerischen Überzeugungen, auf denen die Dogma-Filmer ihre Gegenkirche zu Hollywood und zum Autorenkino errichtet haben, in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehenst ignoriert. Seeßlen hat seinen berüchtigten Dogma-Verriß aus dem Jahr 1999, von dem wir heute immer noch den Geruch der verbrannten Erde spüren, und auf den wir zum Schluss dieses Essays noch zu sprechen kommen werden, relativiert, indem er achtenswerterweise die Meisterschaft von DANCER IN THE DARK und DOGVILLE anerkannt hat. Andererseits hat er das Dogma-Manifest, das ja hauptsächlich auf Lars von Trier zurückgeht, als einen "Rockn´Roll-Schwindel" abgetan. Nun ist ein Manifest natürlich keine filmwissenschaftliche Abhandlung. Es ist ein künstlerisches Manifest, in dem die Verrätselung die Farbe ist, die es trägt, und deren Begründung sich auch nicht im Text selbst findet, sondern eben in den Filmen. Aber vermutlich ist dieses Abtun als "Schwindel" nicht durch dessen "Unwissenschaftlichkeit" und dessen ironischen Gestus begründet, sondern vielmehr von Seeßlens eigenen Motiven, einerseits sich nicht gegen die offensichtliche Meisterschaft der Filme stemmen zu wollen, andererseits aber an seiner eigenen auf Hollywood gerichteten Ästhetik festhalten zu können, und die Filme als erfolgreiche Einzelprodukte in diesen Kosmos eingemeinden zu wollen.

In der freien Wirtschaft würde man hierin den Versuch einer unfreundlichen Übernahme sehen können (wobei wir, die Bewunderer dieser Filmkunst hier die Aktionäre abgeben würden). In einer kunst-religiösen Metaphorik gesprochen geriert sich Seeßlen als Kardinal des Hollywood-Rom-Kinos, der die Werke der talentierten Mystiker in den römisch-vatikanischen Kosmos eingemeinden will, ohne aber die zugrundeliegende Häresie dazu. Die wohlgeformte Gestalt ohne aber den vielleicht ungewollten Gehalt haben zu wollen (z.B. die Gedichte Gottfried Benns ohne dessen dunklen Gedankenstrom in seinen Essays) entspricht zwar einer typischen, wohlbekannten Haltung der Postmoderne. Es ist dennoch kein besonders redliches Manöver, zumal für einen gelernten Ästhetiker. Nicht nur, weil noch kein Kriminalfall in der Kunstgeschichte bekannt ist, wo ein Kunstwerk sich auf Manifestationen seines Schöpfers gegründet hätte, die sich posthum als "Schwindel" herausgestellt hätten, sondern weil die ästhetische Revolution, das Neue und das Erregende der Filme des Dogma-Erfinders Lars von Triers damit zu einem Treppenwitz nivelliert wird. Man könnte, wenn man es dramatisch sehen wollte (und wir sind bei aller Gelassenheit eines Spaziergängers gar nicht so weit davon entfernt, das alles dramatisch zu sehen), die Empfehlung Seeßlens, das Dogma-Manifest als Scherz, nämlich "im Kontext des Pop" zu lesen, und nicht im "Kontext der Filmkunst", als versuchten Kunstraub aus der Gegenkirche betrachten. Stellen wir die Filme und ihr Manifest also wieder dorthin zurück, wo sie entstanden sind, und wohin sie folglich auch gehören, nicht in dem "Kontext des Pop", sondern in dem "Kontext der Filmkunst".

Und siehe da: Stellt man das (Gründungs-) Manifest wieder zurück in den Bereich der Kunst - und der Filme von Lars von Triers, gewinnen die zunächst reichlich dunklen, der Natur nach apodiktischen Verlautbarungen auf einmal eine Klarheit und Durchsichtigkeit, die nichts zu wünschen übrig lassen. Wir können uns daher der zunächst dunklen Sätze wie eines Reise- oder Fremdenführers bei der Begehung des Films DOGVILLE bedienen, und im "Kontext des Films" und seiner Dorfkirche in DOGVILLE werden sie aufleuchten wie Fackeln, die uns die wichtigsten Bausteine dieser Architektur zu unserer Ansicht freigeben werden.

"TOM DOGMA 95 the movie is no illusion!" Dies ist zweifelsohne ein dunkler Satz, der über die Pforte des Eingangs gemeißelt steht, und der sich erst erhellen wird, wenn wir durch das Kircheninnere durchgegangen sind. Aber nicht nur als Spruch, sondern als Anspruch durchzieht er das Manifest, wie auch den Film DOGVILLE selbst. Zumindest lesen wir daraus den Anspruch auf eine Wahrhaftigkeit heraus, der die Dogma-Filmer dazu bringt, sich sowohl gegen das Hollywood-Kino wie auch gegen den Autorenfilm zu wenden. Um den Anspruch klarer zu verstehen, gehen wir wie bei KILL BILL zunächst schulbuchmäßig vor, verweilen noch ein wenig an der Pforte, und fragen uns nach der Absicht, aus der heraus das Gebäude entstanden ist. Tarantinos Absicht (der ja wohl tatsächlich "Pop" personifiziert) besteht darin, ein möglichst starkes, beeindruckendes, filmisches Ereignis zu schaffen, und möglichst viel bauliche Elemente aus einem als bekannt vorausgesetztem cineastischen Fundus einzuarbeiten. Für Lars von Trier, so deuten es die Sätze aus dem Manifest, geht es aber um die Erfahrung von etwas Wirklichem, einem außerfilmischen Inhalt: In Interview-Äußerungen zu Filmen befragt, die ihn geprägt haben (zuallererst Carl Theodor Dreyer, Andrei Tarkovsky, Ingmar Bergmann) sagt Lars von Trier: "Ich möchte behaupten, dass jeder Film, den ich mag, auf einer Art wahrhaftigem Gefühl basiert, dass er - aber das ist sehr abstrakt, im Kern eine Wahrheit enthält, sogar ein Hitchcock-Film. Mein Lieblings-Hitchcock ist natürlich Vertigo, und obwohl dieser Film sehr, sehr sophisticated ist, habe ich doch das Gefühl, dass er sehr genau von einem bestimmten Gefühl erzählt." Konkret zu seinem Film DOGVILLE befragt, und ob er gerne provoziere, erklärte Lars von Trier: "Ich mache nicht dieses Fuck-you-thing, sondern mich interessiert der Inhalt, der Diskurs über Vergebung und die Notwendigkeit von Rache."

Halten wir also fest, dass Lars von Triers Film, im Unterschied zu dem Film von Tarantino die Außerordentlichkeit eines Inhalt beansprucht, ein Inhalt, der notwendigerweise abstrakt bleiben muss, daher aber des Mediums bedarf, um erfahrbar werden zu können. Erst dieses Interesse an einem Inhalt - an einem, wohlgemerkt, außerfilmischen Inhalt - setzt das Kino als ein ästhetisches Medium wieder in Funktion, bzw. - um in der religiösen Metaphorik zu verbleiben - in Amt und Würden. Es ist das Interesse an diesen Inhalt, das den eigentliche Grund darstellt, dem Prunk der Hollywood-Kirche zu entsagen, den Regiegott-Talar abzustreifen, und sich ironisch das einfache Gewand des Mystikers überzustreifen. Nicht das Kino selbst ist das Ziel, das Kino selbst ist nur das Mittel, diesen Inhalt sichtbar zu machen.

Einige Filmkritiker haben insbesondere die Abgrenzung der Dogma-Filmer von der Nouvelle Vague als vollkommen unglaubhaft kritisiert, aber auch wenn es unübersehbare Gemeinsamkeiten gibt, etwa den Impuls zur Revolte, oder aber die Verwendung der Handkamera, könnte die Ausrichtung, zumindest was die Nouvelle Vagues Godards betrifft, gegensätzlicher nicht sein. Suchten die Nouvelle-Vague-Filmer den Inhalt im Persönlichen und Autobiographischen, und betrachteten Filme als Artefakte ihrer persönlichen Stimmungen und Ansichten (wie auch Tarantino die Filme als Mix seiner persönlichen Vorlieben ansieht), so suchen die Dogma-Filmer die Wahrheit außen. Sichtbarstes Zeichen dafür ist, dass bisher alle Dogma-Filme eine Geschichte, einen durchkomponierten "Plot" haben. Haben Tarantino und Godard, letzterer um dem Story-Diktat des Hollywood-Kino zu entfliehen, den Plot ausgekippt, und ersterer damit aber auch jeglichen Inhalt gleich mitausgeschüttet, so rehabilitieren Lars von Trier und die anderen Filmer die Bedeutung der Geschichte wieder im Avantgardekino. In dieser Hinsicht erweist sich Lars von Trier, wie auch schon Kubrick vor ihm, als Traditionalist, und in mehrerer Hinsicht als dessen Nachfolger. Die Abgrenzung zur Nouvelle Vague (Manifest: The auteur concept was bourgeois romanticism from the very start and therby ...false!") ist absolut klar und vollkommen einleuchtend, macht man sich nur bewusst, dass "Dogma" nichts weniger als den Versuch eines neuen Realismus im Film darstellt. Verkennten wir diese Absicht, würde die gesamte Dogma-Bewegung so unklar und unverständlich wie eine Reise bleiben, von der wir nur die verwendeten Fahrzeuge, die An- und Abfahrtszeiten, die Zwischenstationen, aber weder die Absicht noch das eigentliche Reiseziel wüssten.

Natürlich müssen wir noch herausfinden, wo der Realismus zu finden ist, und welche Wirklichkeit er uns von der Geschichte DOGVILLE zeigt. Betreten wir zunächst nicht die Hauptpforte, sondern den Nebeneingang - die in DOGVILLE erzählte Story -, so finden wir eine Geschichte vor, die noch mehr als in den Vorgängerfilmen "Breaking the Waves" und "Dancer in the Darks" völlig einfach und märchenhaft komponiert ist: Eine junge Frau kommt auf der Flucht vor Gangstern in ein Dorf, trifft auf den jungen Möchtegern-Schriftsteller und Moralprediger Tom, der seinerseits Grace dazu benutzt, ein moralisches Experiment mit den Bewohner von Dogville zu veranstalten. Er überredet die Bewohner, Grace bei sich aufzunehmen, und überredet Grace, sich bei den Bewohnern mit kleinen Hilfeleistungen zu bedanken. Als Grace von der Polizei gesucht wird, entscheiden sich die Bewohner in einer Abstimmung, dass Grace dennoch bei ihnen bleiben darf, wenn sie sich zu den vorher freiwilligen Hilfsleistungen nun verpflichtet. Das ist der Beginn ihrer Versklavung. Am Ende ist Grace in Ketten gelegt, und von allen Männern vergewaltigt worden, außer von Tom zu dessen empfundenen Leidwesen. Als Tom Grace verrät, und die Gangster anruft, stellt sich heraus, dass der Gangster der Vater von Grace ist, und Grace nutzt die Gelegenheit, sich an allen Bewohnern zu rächen, und sie töten zu lassen.

Die Geschichte ist vorbildlich gebaut, sie verfügt mustergültig wie jeder Hollywood-Film über drei Akte und zwei Wendepunkte. Aber dieser Racheinhalt ist nur der Inhalt auf der Handlungsebene, der, wenn man ihn noch knapper wiedergeben würde - eine junge Frau kommt in ein Dorf, wird von den Bewohner ausgenutzt und versklavt, und rächt sich am Ende - der Inhalt eines jeden beliebigen Rachefilms sein könnte.

Völlig zurecht ist die Geschichte als eine Versuchsanordnung beschrieben worden, ohne dass wir uns schon über die Absichten dieser Versuchsanordnung im Klaren wären, was aber schon deutlich macht, das der erzählte Inhalt, anders als im plotfixiertem Hollywood-Kino und seinem missratenden Stiefkind, dem Kunstkino, noch nicht der Inhalt des Films ist. Entzünden wir eine weitere Fackel aus dem Manifest: "Having the charakter´s inner lives justify the plot is too complicated, and not "high art" (Wenn das Innenleben die Handlung rechtfertigt, ist das zu kompliziert und keine "hohe Kunst"). Dass der Inhalt nicht in der Handlung zu suchen ist, zeigt sich schon in der Zurückhaltung gegenüber dessen sensationellen Momenten: Die dramatischen Ereignisse, die Vergewaltigungen und Erniedrigungen sind fast nur angedeutet, und die weiteren Mittel - die ironisch gebrochenene, an "Barry Lyndon" erinnernde, märchenhaften Erzählstimme, die Kapitelunterbrechung mit der wunderbaren Barock-Musik von Antonio Vivaldi - entrücken die Dinge in eine weitere Distanz und verhindern, dass unsere emotionale Teilhabe auf der Ebene einer banalen psychologische Identifikation mit der Heldin ablaufen könnte. Auch hat der Film auf der reinen Handlungsebene relativ wenige Spannungsmomente: Abgesehen von der überraschenden Wende im dritten Akt wissen wir nach einer halben Stunde, dass die Entwicklung der Figuren immer mehr in ihr anthropologisch Böses verläuft (nicht umsonst fühlen wir uns an Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" erinnert, man könnte auch noch Dürrenmatts ebenfalls verfilmtes Theaterstück "Der Besuch der alten Dame" hinzufügen), wir wissen also ungefähr, wie der Hase läuft, wir wissen nur noch nicht, dass wir selbst dieser Hase sind, die scheinbaren Beobachter dieses Experiments, selbst eigentlich die Probanden dieser ästhetischen Versuchsanordnung sind, und auf eine Reise geschickt werden, an deren Ende wir uns als moderne Menschen mit moralisch korrekter Anschauungsweise nicht mehr wieder erkennen werden.

Um hinter der Handlung des Films zu dessen Inhalt, und damit auch zu unserem eigenen Erfahrungsinhalt zu gelangen, müssen wir uns fragen, was von der Geschichte der Film DOGVILLE uns zeigt, mit welchen Innenseiten dieser Geschichte er uns konfrontiert. Dieselbe Geschichte bereits durch die Prosabaumstämme eines Roman hindurch gesehen, würde gänzlich andere Seiten und Aspekte der Geschichte zum Vorschein bringen, als durch das lichte Geäst eines Gedichts gesehen.

"The basic purpose of a film is one of illumination showing the viewer something he can´t see in any other ways" (Der alleinige Zweck des Films besteht darin, etwas zu beleuchten, was der Zuschauer auf keine andere Weise zu sehen bekommen kann). Dies stammt zwar nicht aus dem Fundus der Sätze aus dem Manifest, sondern aus einem der seltenen Interviews von Stanley Kubrick, aber dieser Überzeugungssatz könnte auch für den ästhetischen Authentizitätsanspruch der Dogma-Regisseure gleichermaßen gelten. Man kann ihn in eine Frageform, zu einer Such-Fackel, umfunktionieren: Was zeigt uns der Film DOGVILLE von der Geschichte DOGVILLE, was wir ohne den Film nicht gesehen und erfahren hätten? Betreten wir also mit dieser Fackel nun den Haupteingang des Films, hinein in ein ästhetisches Gebäude, das zur Erkundung eines Gefühls errichtet worden ist, und versuchen wir zu verstehen, was er uns auf seine filmische Weise von der Geschichte zu sehen gibt, und was wir ohne diesen Film nicht zu sehen bekämen.

Und schon müssten wir unsere Besichtigung des Films beenden, und unsere Fackel konsterniert niedersinken lassen, wenn wir den (sinngemäßen) Ruf des Kritikers von Spiegel-Online ungeprüft Glauben schenken wollten: "Das ist ja gar kein Film, das ist ja abgefilmtes Theater!" Tatsächlich: Statt auf ein "richtiges" Dorf schauen wir auf eine Theaterkulisse. Der Eingangssatz, der über das Portal gemeißelt steht - "TO DOGMA 95 the movie is no illusion" - hätte uns warnen müssen, aber mit dem gänzlichen Entzug des illusionistischen Film-Naturalismus hätten wir nicht gerechnet. Allerdings gucken wir nicht vom erdachten Parkett, oder vom Balkon, oder von einer der handelnden Personen aus, sondern wir gucken von der (gedachten) Decke senkrecht auf ein Bühnenbild - ein Ausblick, von dem jeder zugeben muss, dass dies selbst im Zeitalters des Theaterevents eine eher ungewohnte, und von daher nämlich atemberaubende Perspektive ist.

Es wäre ein Leichtes, weitere technische Belege, dass es sich beim Film DOGVILLE um einen richtigen echten Film handelt, aufzuzählen (Fragmentarisierung des Raums, Close ups u.s.w.). Aber der bloße Beweis, dass der Film ein Film ist, bringt uns auf unserem Weg, den Film DOGVILLE in seiner ästhetischen Bauweise zu verstehen und daraus auch Erkenntnisse für das Medium zu gewinnen, kein Stück weiter, weil wir allein mit diesen Beharren die Absicht hinter dem Kunstgriff nicht begreifen könnten, worin wirklich der Sinn liegen sollte, statt die Geschichte in einem "richtigen" Dorfes in einem Bühnenbild spielen zu lassen. Daher wollen wir den schon im Grunde als unsinnig erkannten Einwurf des Kulturredakteurs, es handele sich bloß um ein "aufgezeichnetes Theaterstück", als einen Ausdruck unseres eigenen Erstaunens umdeuten, und ihm dorthin folgen, woher er in Wahrheit entfleuchte, nämlich nicht aus dem Verlagsgebäude des "Spiegels", sondern aus den unbewussten (inneren) Vorurteilen unseres eigenen Innen-Kinos heraus.

Betrachten wir noch mal dieses Innen-Kino: Im Hollywood-Kino haben wir, wie schon eingangs erwähnt, eine Ästhetik, die technisch in der Lage ist, uns unsere Welt als ziemlich real vor Augen erscheinen zu lassen. Dabei ist die Welt natürlich nicht real, aber zumindest filmreal, d.h. der Hollywood-Film unternimmt alles, um uns den Film nicht mehr spüren und merken zu lassen, das Ästhetische selbst zum Verschwinden zu bringen - "unsichtbar" zu machen - um uns das Gefühl zu geben, uns mitten in einem Handlungsgeschehen zu wähnen (Stichwort: unsichtbarer Schnitt). Die Story ist bekanntermaßen nach den ästhetischen Grundsätzen des Aristoteles gebaut, einer Dramaturgie also, die für das Theater gedacht war. Was also ist nun filmisch am Hollywood-Kino? Die Antwort ist notwendig paradox: Es ist die Dramaturgie, und man muss betonen, es ist nur die Dramaturgie. Der Hollywood-Film entnimmt all seine Ausdrucksmittel einer Theater-Dramaturgie, und bedient sich des Films und seiner technischen Mittel wie eines technisch perfektableren Theaterapparats, was zur Folge hat, dass der Film auch selbst gar nicht mehr als ein eigenes Ausdrucksmittel zu Tage treten kann. Pathetisch gesprochen: Der Hollywood-Film gleicht einem Dampfer, der sich die filmischen Mitteln versklavt hat, um uns das Bewusstein, dass wir uns einem Schiff befinden, und nur dank des Dampfers durch einen Handlungsablauf steuern, zum Verschwinden zu bringen. Wonach wir in unserem Innen-Kino also unsere Vorstellung vom Inbegriff des Films und vom "Kino" gebildet haben, nämlich dem Hollywood-Kino, bezeigt sich nun bei weiterem Hinsehen ironischerweise selbst als das abgefilmte Theater, das sich nur äußerlich, dank seines technischen Illusionismus als ein Film auszugeben trachtet. Was sich als Kino ausgibt, ist Theater, und was wie Theater aussieht, durch den verfremdeten Blick, ist in Wahrheit der Film. Dieser Verkehrung entsprechend hat der Spiegel-Online-Redakteur das Drehbuch von DOGVILLE, das ja in der Tat klassisch nach der aristotelischen 3-Akt-Struktur geformt ist, als "großartig" gelobt, weil es das ist, was ihm von der Hollywood-Ästhetik vertraut vorkam, und die filmische Umsetzung beklagt, die ihm von der Hollywood-Ästhetik unvertraut war. Es ist schon interessant zu sehen, wie schnell die Abkehr von der gewohnten Hollywood-Ästhetik dessen unbewussten Dogmen in uns zum Vorschein zu bringt.

Es geht nun nicht darum, den Spieß umzudrehen, sondern es geht darum, aufzuzeigen, wie Lars von Trier den Spieß umdreht. Der Effekt des Kunstgriffs, uns eben keinem Film-Naturalismus auszusetzen, liegt, wie bei jedem Geniestreich, auf der Hand, aber natürlich erkennt man ihn wie bei jedem Geniestreich erst hinterher: Indem von Trier nämlich das Theater wieder in den Film hineinnimmt, und damit jegliche "Kinoillusion" verunmöglicht, nimmt er das (versteckte) Theater wieder aus dem Film heraus. Das hört sich zwar wie ein Taschenspielertrick an, ist aber keiner: Entbunden von der sklavischen Aufgabe, uns die äußere Welt so täuschend echt wie nur möglich erscheinen zu lassen, treten die filmischen Sichtweisen wieder in Erscheinung, und damit wieder in ihre ursprüngliche künstlerische Funktion: nicht nämlich als ein technisches Mittel zur Erzeugung der Film-Illusion, sondern als ein Ausdrucksmittel.

Nun hat ja, wie von Trier, auch Tarantino dem Abbildcharakter entsagt, und uns einen Schritt in unser Innen-Kino in ein cinephiles Pubertätszimmer zurückführen wollen, wo wir unschuldig Kino geguckt haben (was schon deswegen nicht funktionierte, weil es diesen Ort vermeintlich unschuldigen Sehens niemals gegeben hat). Lars von Trier führt uns noch weiter zurück, in die Zeit, als das Kino eben noch nicht über die technische Möglichkeit verfügte, uns in einen Abbild-Illusionismus zu versetzen, und als es tatsächlich noch selbst wie "Theater" aussah, und eine ihm eigene Filmsprache entwickeln musste, um sich vom Theater abzusetzen und sich als eine eigene Kunstform zu etablieren. Indem Lars von Trier uns zu diesen Anfängen zurückführt, wirft er uns aus unserer postmodernen "Kenn-wir-schon-ham-wir-schon-ham-wir-schon-gesehen- Saturiertheit heraus und lässt uns wie weiland Robinson Crusoe auf einem prämodernen Eiland stranden, um uns dem Erstlingszauber der Geburt des Mediums als eine Kunstform wie neu erleben zu lassen. Im Prinzip sehen wir durch die Kamera, wie die "ersten Menschen" durch die Kamera geschaut haben. Er setzt uns also in ästhetischer Hinsicht einer anthropologischen Situation aus, indem wir uns im Bannraum des Films die Welt vermittels des Films wie neu erschließen müssen. Vor der Folie des Theaters treten die filmischen Sichtweisen hervor und werden wieder erlebbar.

Um das schon jetzt in allem angemessenen Pathos zu sagen: Lars von Trier ist kein "Kinozerstörer", wie es oft auch bewundernd behauptet wird, er ist vielmehr der siegreiche danielshafte Spartakus über das scheinbar allmächtig römische Goliath-Hollywood-Kino, dem es gelingt, die versklavten filmischen Mitteln aus dem Bauch des plotfixierten Kinos zu befreien, und sie wieder ihrer subversiven Natur gemäß zur ihrer surrealen Entfaltung kommen zu lassen (worin dessen eigentlicher "Antiamerikanismus" liegen dürfte).

Um die zauberische Wirkung der Wiederfindung des Filmischen als Sichtweise und Ausdrucksmittel exemplarisch aufzuzeigen, sollten wir kurz noch mal zur opening scene zurückkehren. Für die "ersten Menschen" war, wie uns die Theoretiker unter ihnen versichern, das Vermögen des Films, den Zuschauer von seinem Platz wegführen zu können, und durch die Kamera (als unseren Stellvertreter) in den Filmraum immer wechselnde Positionen einnehmen zu lassen (die sog. "Ent-Arritierung), einer der wesentlichen, neuesten und abenteuerlichen Eigenschaften des neuen Mediums.

Durch die Konfrontation des Filmischen mit der Theaterbühne lässt uns von Trier durch eine für das Theater "surreale" Platzierung dieses Mittel der Ent-Arritierung deutlich wie neu erleben. Hätte Lars von Trier, wie ursprünglich geplant, statt in einer Theaterbühne in einem "wirklichen" Dorf in Schottland gedreht, und hätte er eine ähnliche Einstellung aus einem Hubschrauber gefilmt, wäre das zwar auch "filmisch" gewesen, aber wir würden diese Einstellung gar nicht mehr als filmisch bemerken, weil wir sie schon gewohnt sind. Auch würde uns die Kulisse von DOGVILLE kaum überraschen, wenn wir sie vom Parkett oder vom Sitzplatz oder Balkon eines wirklichen Theaters aus betrachten würden, sie wäre sozusagen theaternaturalistisch. Der Eindruck aber, der von einigen schon als "gottähnliche Perspektive" beschrieben wurde, wird ja nicht durch den rein räumlichen Abstand erweckt, sondern weil wir durch die exorbitant nur dem Film mögliche Perspektive auf eine Theater-Welt gucken, die dieser selbst nicht angehört und daher ungewohnt ist. Durch die Einstellung von der Decke aus wird uns schlagartig bewusst, dass wir einer anderen Sphäre angehören, als die Menschen, die wir unten auf der Bühne erblicken, die sich zwischen Mauern bewegen, obwohl da keine sind, Türen öffnen, die nicht vorhanden sind (aber wer weiß, vielleicht sind da doch Türen? Wir sehen zwar keine Türen, aber hören die Türschläge ...), und dass wir einer von den Menschen da unten ganz und gar verschiedene, nämlich der filmischen Sphäre angehören.

Von dieser ersten Einstellung an ist klar, dass wir nicht einfach einer Geschichte folgen, deren Inhalt entlang den Höhe- und Wendepunkten auffindbar wäre, sondern einer ästhetischen und moralischen Versuchsanordnung, bei der nicht der äußerliche Geschehnisablauf entscheidend ist, sondern die menschliche Gefühlsdramatik. Aus dem Bewusstein, dass wir einen Film sehen, werden wir über die Dauer des Films nicht entlassen. Es ist das Fremde des Raums, in die wir uns bewegen, die uns die Welt so vorführt, als sähen wir sie zum ersten Mal.

Man hat ganz richtig wegen der Ähnlichkeit der Bühne mit einer Brecht-Bühne und der motivlichen Anlehnung an die Brecht´sche "Seeräuber-Jenny" von einem V-Effekt gesprochen, wobei sich in diesem Kürzel ein etwas zu großes Bescheidwissen spreizt, das im Grunde selbst wieder des verfremdenden Verfahrens bedürfte, weil hier wieder das der Wahrnehmung vorauseilende Wissen (ah, ja Brecht) die Wahrnehmung verstellt. Es ist keine Verfremdung mit der Brechtschen Absicht, eine gesellschaftlich verwertbare Erkenntnis zu gewinnen, sondern eine Verfremdung nach Tolstoi (von dem Brecht seine Idee auch entnommen hat), die im Unterschied zu Brecht auf den individuellen Akt des Bewusstwerdens der Wahrnehmung zielt. Bewusstwerdung und Erspüren der künstlerischen Mittel und Verfremdung führen zu dem Effekt des "Sehens-wie-zum-ersten-Mal", was eigentlicher Sinn und Zweck dieses Verfahrens ist. Um an die eingangs schon zitierte Definition des russischen Formalisten Sklovskij zu erinnern, die dieser eng an Tolstoi formuliert hat: Um die Wahrnehmung des Lebens wieder herzustellen, die Dinge wieder fühlbar zu machen, nutzt die Kunst das Verfahren der Verfremdung: Die "Verfremdung der Dinge und Komplizierung der Dinge, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess ein Ziel in sich und muss verlängert werden."

Der Verfremdungszauber in Dogville wäre unvollständig beschrieben, wenn wir nicht genau gewahr würden, was wir zu sehen bekommen, und wie wir es zu sehen bekommen. Dafür müssen wir uns des zweiten wichtigen Bausteins dieser ästhetischen Architektur des Films betrachten, nämlich der Handkamera, die schon zum Markenzeichen der Filme Lars von Triers und der Dogma-Filmer geworden ist; es ist ein schönes, weil wahres, aber etwas beschwerliches Paradox, dass ein Film und eine ästhetische Richtung, die sich all des technischen Ballastes entledigt hat, um direkt zum erzählerischen Kern vorzudringen, uns in der Beschreibung dazu zwingt, sich erst über dessen filmische Mittel zu vergewissern, um zum erzählerischen Kern vordringen zu können - wobei es hingegen bei dem technisch ungleich aufwendigeren Hollywood-Kino genügt, einfach nur den Inhalt zu referieren, weil all diese filmischen Mittel für den Erfahrungsinhalt der Geschichte vollkommen belanglos und ohne jede Bedeutung sind.

Die Handkamera ist das Kunstmittel, das am meisten in der Dogma-Debatte die Gemüter erregt, und man kann schon sagen, dass es der eigentliche skandalträchtige Kunstgriff ist. Es ist eines der Merkwürdigkeiten der Dogma-Debatte hierzulande, dass über das "Gewackel" der Handkamera mehr geschrieben wird, als über das, was man durch sie zu sehen bekommt, und das mag an dem selbst schon ziemlich verwackelten, nämlich unscharfen Authentizitätsbegriff liegen, der mit der Handkamera verbunden ist, nämlich der ständigen Vermischung zwischen einer journalistischen Authentizitätsvorstellung (Übereinstimmung mit der Wirklichkeit) und einer künstlerischen Auffassung von Authentizität (Übereinstimung von Inhalt und Form). Nun trifft man diese Vermischung von Künstlerischen und Dokumentarischem eben in Hollywood-Spielfilmen und amerikanischen Fernsehserien oft selbst an, wenn nämlich die Handkamera als eine Konvention des Dokumentarfilms eingesetzt wird, so etwa in Soderberghs TRAFFIC, oder in der Fernsehserie "24", um den Eindruck von Unmittelbarkeit entstehen zu lassen. Aber die Verwendung der Handkamera im Hollywood-Kino hat mit der künstlerischen Anwendung der Handkamera Lars von Triers nicht das Geringste zu schaffen. Wenn Seeßlen Lars von Trier "Fake-Dokumentarismus" vorwirft, dann befindet er sich genau auf nämlichem Dampfer, nämlich dem Hollywood-Film-Dampfer, in dem die Handkamera nur ein weiteres in dem Dienst des Plots versklavtes filmisches Mittel ist, die Tatsache zu vernebeln, dass wir einen Film sehen, und dadurch die Illusion der Unmittelbarkeit um ein weiteres zu verstärken. Dass Seeßlen im gleichen Dogma-Brandartikel auf der anderen Seite Lars von Trier Verachtung und seelische Entblößung vorwirft, womit ja unterstellt ist, dass die Handkamera etwas zeigt, was offensichtlich nicht "Fake" ist, zeigt wiederum, dass Seeßlen Lars von Trier von beiden Authentizitätslagern aus angreifen möchte, was aber selbst für einen Begriffs-Virtuosen wie Seeßlen ein Ding der Unmöglichkeit ist.

Bei Lars von Trier hingegen führt die Handkamera zu dem genau entgegensetzten Effekt, nämlich nicht zu der illusionären Erzeugung der Unmittelbarkeit, sondern zunächst zu dem Bewusstwerden des Vermittelten, und damit zur Wiedergewinnung des filmischen Wahrnehmungsorgans. Man hat von der Handkamera als Nachahmung des kindlichen Blicks gesprochen, aber dieser Effekt kommt nicht aus der Nachahmung, sondern im Gegenteil, aus dem surrealen Un-Naturalismus dieser Bewegungen. Auch Kinder sehen die Welt nicht wie durch eine Handkamera, auch ihnen ist schon die Vorrichtung von Mutter Natur mitgegeben, die dafür sorgt, dass die mit dem Sehen gekoppelten Auf- und Abbewegungen des Kopfes aus der Wahrnehmung ausgeblendet bleiben. Es ist das Ungewohnte der Handkamera, dass diese Schutzvorrichtung unterbrochen wird, wodurch erst das Neue, das Bewusstwerden der Wahrnehmung sich wieder einstellt, und wir durch die Welt gucken, als sähen wir sie zum ersten Mal.

Die Welt von DOGVILLE ist eine doppelt verfremdete Welt, verfremdet durch die Art, wie sie erscheint, und durch die Weise, wie wir in sie hineinschauen. Diese doppelte Verfremdung sorgt dafür, dass wir in der Tat die Welt so erblicken, als sähen wir sie zum ersten Mal. Es ist, als würden wir uns durch einen hermetisch geschlossenen ästhetischen Raum bewegen, mit ganz eigenen Gesetzen und eigenem Zeiterleben. Weil das Erleben, einen Kindesblick auf eine fremdartige Welt werfen zu lassen, mit erwachsenen Begriffen so schwer zu fassen ist (der dafür ansonsten verwendete Begriff der Transzendenz erscheint abgenutzt, und daher für unseren Verstehensprozess wie ein Placebo-Begriff), könnte man die Art und Weise, wie wir ästhetisch durch den Raum geführt werden, vielleicht nicht mit einem Schiff, aber mit einem Raumschiff vergleichen, aus dem wir die Welt in noch nie gesehener Art zu sehen bekommen. Denn wie in einem Raumschiff rasen wir durch eine fremdartige Welt im Innern dieser Kathedrale, und schauen in die Welt mit einem dem normalen Sehen enthobenen Blick (der Raum ist der ästhetische Raum, das Raumschiff ist der Kinosaal, und die Handkamera-Luke zeigt uns die Auf- und Abbewegungen des Raumschiffes an). Dieser doppelte Effekt der Verfremdung des Innen wie des Außen führt uns in der Tat in eine anthropologische Situation zurück, in der wir uns die Welt sehend erschließen mussten.

Indem der Film seine "technischen" Mittel nicht verschleiert (also das Raumschiff ruckeln und zuckeln lässt), sehen wir aus dem Raumschiff nicht nur was wir sehen, sondern wir erleben uns in dem, was wir sehen, mit. Was die Handkamera also dokumentiert, ist das spontane Spiel der Schauspieler, und die dem Film eigene Bewegung und Betrachtung, wodurch das Gemachte sichtbar bleibt. Hierdurch erst erleben wir uns als Wahrnehmende, und als Wahrnehmende sind wir mit "drin" in den Bildern, genauer: "mit drin" im Film. Sogar den im Hollywood-Kino unsichtbar gewordenen Schnitt sehen wir wieder, wenn etwa in vielen Einstellungen das Bild nach vorne springt (der Schauspieler ganz woanders steht, als er vorher stand, während die Tonspur aber Kontinuität suggeriert). Vielleicht wäre es besser zu sagen, ohne weitere Begründung, der Stein wird uns steinig gemacht, und wir spüren den Schnitt wieder, wie man seine Hände erst wieder spürt, wenn sie etwas zu ertasten bekommen. Gerade indem der Film sich nicht unsichtbar macht, erwächst er uns wieder zu unserem eigenen Wahrnehmungsorgan.

Auch in Tarantino Kino sitzen wir in einer fremdartigen, ebenfalls ästhetisch geschlossenen Welt, aber es ist wie in einem Raumschiffsimulator, in dem wir uns darüber zu freuen haben, dass alle Knöpfe so herrlich blinken, dass alle Bilder, die man zu sehen bekommt, nur simuliert sind, dass wir Filme sehen, die doch nur Filme sind, und daher wir von diesen Bildern von vornherein ausgeschlossen sind, weil wir die Bilder, die wir sehen, alle schon von früheren Raumschiff-Erlebnissen her kennen, und sie daher aus einer ganz anderen Zeit zu stammen scheinen. Wer würde dem gegenüber aber das richtige Raumschiff-Abenteuer nicht vorziehen?

Wie aber kommt es nun zu dem seltsamen und wunderbaren Effekt, auf den im Grunde alles ankommt, und auf den auch alles Weitere beruht, und ohne den all das nichts wäre: nämlich dass das Bewusstsein einen Film zu sehen, eben nicht wie im postmodernen Kino zur Abwertung der Authentizität der Bilder führt (das Blut ist ja kein richtiges Blut, die-und-die Einstellung ist ja nur aus dem-und-dem Film), sondern im genauen Gegenteil, die Wahrhaftigkeit der Bilder erst steigern macht?

Der Grund liegt nicht allein darin, dass wir uns als Wahrnehmende wieder entdecken und erspüren, sondern in dem, was wir durch die Raumschiffluke wahrzunehmen bekommen, und zwar so, dass wir es auch für wahr nehmen können. Wenn wir noch mal die Kubrick-Fackel hochhalten und gucken, was wir eigentlich von der Geschichte zu sehen bekommen, was wir ohne den Film nicht zu sehen bekämen, fällt die Antwort sowohl technisch, wie auch naiv aus: was wir zu sehen bekommen, sind Gesichter in einer unendlichen Fülle von Halb- und Großaufnahmen.

Wenn wir eben sagten, dass das Gewackel der Handkamera in der elendigen Authentizitätsdebatte mehr Interesse findet, als das, was wir durch die Handkamera zu sehen bekommen, war das in der Formulierung weniger die Aufdeckung, als vielmehr die Vertuschung eines Skandals. Über das Eigentliche wird tatsächlich nicht gesprochen, und falls doch mal, wird die Fülle an Großaufnahmen mit der technischen Eigenschaft der Handkamera "erklärt", weil, so die gewitzte Begründung, "eine Handkamera sich kaum für die Halbtotale und Totale eigne" (Sudermann, "Dogma 95"). Diese Erklärung ist fast so wunderschön wie die eines Literaturwissenschaftlers, der sich den Kunstgriff von Fontane, Briefstellen in seinem Roman einzumontieren, mit der zur Fontanes Zeit sprunghaft angestiegenen Briefkästen in Berlin zu erklären suchte. Vielleicht bedürfen, wem die geheime Folgerichtigkeit künstlerischer Prozesse eher fremd sind, solcher "natürlichen" Erklärungen. Aber diese Erklärungen erklären überhaupt nichts, sie verstellen nur den Blick darauf, worauf es dem jeweiligen Kunstwerk ankommt, und was es in seiner Gesamtheit ausmacht.

Natürlich ist die Grossaufnahme auch in DOGVILLE nicht die billigende Inkaufnahme des Zwangs eines technischen Aufnahmegerätes (was wohl nur Amateuren oder den Hollywood-Spektakel -Filmer vom Schlage Cecil DeMilles passieren würde, aber doch wohl kaum den Dogma-Filmern, deren Absicht der freiwilligen Beschränkung es ja ist, sich aus den technischen Zwängen des Filmemachens zu befreien), sondern deren eigentliches und gewolltes und wichtigstes Ausdrucksmittel. Die Groß- und Halbaufnahmen, die wir durch die Handkamera zu sehen bekommen, sind die filmische Sonde, mit wir in das Innere der Geschichte von DOGVILLE zu sehen bekommen, es ist das Filmische, durch das wir einen ganz speziellen und nur diesem Medium zugeneigten Einblick in das Innere der Bewohner von Dogville und das seiner Hauptfigur Grace bekommen.

Von Beginn an sind es nicht die äußeren, sondern inneren Spannungsmomente, mit denen wir in den Bann gezogen werden: es sind ja zunächst wundersame Augenblicke, betrachtet durch unsere Raumschiffluke, wenn wir den Gesichtern der Bewohner von Dogville schüchtern die Lebensgeister erwachen zu sehen, wenn diese sich gerührt und ungläubig aus ihrem zweckbehafteten Dasein wie aus einem tiefen Winterschlaf erheben, und auf Graces Anerbieten, ihnen zu helfen, erst verwundert antworten, es gäbe eigentlich nichts zu tun, aber ihnen dann vorsichtig doch Dinge einzufallen beginnen, die es zu tun gibt, die ihr Leben mit ein wenig Sinn und Schönheit erhellen können: bei Ma Ginger, die sich von Grace das Beet vom Unkraut befreien lässt; bei der gebildeten Vera, der Mutter der sieben Kinder und Frau des proletarischen Apfelbauern, die zu dem Vortrag eines Professors fährt, während Grace auf ihre sieben Kinder aufpasst; und schließlich dem blinden Jack Machay (gespielt von dem großartigen Ben Gazarra, berühmt durch seine Rollen bei Cassavetes), der glaubt, seine Blindheit vor anderen verbergen zu können, und es sich gefallen lässt, das Grace zur Zuhörerin seiner Apologien auf die Schönheit des Lichtes wird.

Bevor wir uns aber sagen könnten, was es ist, was wir von der Geschichte von DOGVILLE zu sehen bekommen, und weil es unser Interesse ist, über Dogville auch ein Verständnis für das Medium des Films zu gewinnen, könnten wir noch mal innehalten und uns grundsätzlich fragen, welchen Stellenwert die Großaufnahme in der Filmsprache einnimmt, um damit auch besser herausfinden zu können, welche Ansicht der Geschichte in DOGVILLE es ist, die wir durch die Großaufnahme zu sehen bekommen. Was sehen wir nun in den Groß- und Halbaufnahmen in Dogville?

Betreiben wir kurz Grundlagenforschung, legen das Dogma-Manifest beiseite, und schlagen wir bei einem anderem Fremdenführer nach, bei Bela Balázs, einen der bedeutendsten Erkunder und Geburtshelfer des Films als neue Kunstform, dessen beide in den 20er und 30er Jahren geschriebene Bücher "Der sichtbare Mensch" und "Der Geist des Films" Schatztruhen sind, die heute noch unschätzbare Kleinode bereithalten, die uns zum Verstehen bringen, worin die Natur des filmischen Erlebens liegt; die Begeisterungsfähigkeit und die gedanklichen Einsichten von Balázs sind heute noch frappierend, und übersteigen das meiste, was wir ansonsten über Kunst und Film lesen können.

Die Großaufnahme war für Balázs neben der Ent-Arritierung und der Montage das filmische Mittel, mit dem das Medium des Films eigentliches Neuland in den Künsten betrat, und in dem sich das Gefühl fokussiert, weswegen Balázs die Großaufnahme die "Lyrik" des Films nannte. Die Besonderheit der Großaufnahme liegt, folgen wir Balázs, darin, dass in der Großaufnahme die Gesichter vom Raum isoliert werden können (im Unterschied zum Theater), und in der Großaufnahme nicht nur Gefühle darstellbar sind, sondern auch Gefühlsentwicklungen (im Unterschied zur Porträtmalerei). Aber über diese Eigenschaften hinaus liegt das Besondere dieses filmischen Gestaltungsmittel darin, dass es die von allen anderen Künsten sich unterscheidende Fähigkeit besitzt, die Ambivalenz von Gefühlen gleichzeitig darzustellen. Während etwa in der Sprache die Verschiedenheit der sich widersprechenden Gefühle erst im Nacheinander möglich ist, ist das Beieinander von Gut und Böse, Güte und Verschlagenheit, Schläue und Naivität (Balázs sprach von einer Polyphonie des Gesichtsausdrucks) in einem einzigen Moment gleichzeitig möglich, wobei das nicht bedeutet, dass die Gefühle gleichzeitig abgebildet werden, aber dass sie auch in dem Wandel der Gefühle gleichzeitig "erklingen", wie in der Musik einzelne Töne zusammen einen Akkord ergeben. Balázs fand für diese Gefühlsdarstellung entsprechend den schönen Ausdruck des "Gefühlsakkords". Mit diesem Mittel der Großaufnahme, die Gefühle der Menschen erfassen und abbilden zu können, unterscheidet sich der Film grundlegend zu den anderen Künsten.

Es ist ein interessanter Zufall (aber vermutlich ist das auch wieder kein Zufall), dass Balázs in seinem Buch "Der Geist des Films" in seiner Beschreibung der Großaufnahme auf den Film "Die Jungfrau von Orléans" von Carl Theodor Dreyer zu sprechen kommt; Carl Theodor von Dreyer, zugleich eines von Lars von Triers großen Vorbildern, dessen Drehbuch "Medea" er sogar selbst verfilmt hat. "Johanna von Orléans" besteht nur aus der Montage von Großaufnahmen, in dem kein Raum vorhanden ist, der Raum auch nicht gegenwärtig ist, "wozu auch", fragt Balázs. "Hier wird nicht geritten und geboxt. Diese tobenden Leidenschaften, Gedanken, Überzeugungen prallen nicht im Raum aufeinander. Und doch ist dieses gefährliche Duell, in dem sich nicht Klingen, sondern Blicke kreuzen, von atemberaubender Spannung, zwei Stunden lang. Denn wir sehen jeden Angriff und jede Parade, jede Finte, jeden Stoß des Geistes, und wir sehen jede Wunde, die die Seele bekommt. Dieser Film spielt sich in einer anderen Dimension ab, als die Cowboy und die Alpenfilme. Das macht die Nähe der Kamera möglich."

Balázs sah die Bedeutung der Großaufnahme nicht als ein Mittel unter vielen, sondern als den eigentlichen Schauplatz der filmischen Handlung, und den Nachweis dieser Behauptung fand Balázs bei einem Film, den ich ebenfalls anführen will, weil er uns das Verhältnis von äußerer Handlung und dem inneren Geschehen für den Film DOGVILLE veranschaulichen kann. In dem Beispiel geht es um einen französischen Film ohne Titelangabe mit folgender Versuchsanordnung: Einer Mutter, die am Sterbebett ihres Kindes sitzt, tritt der Tod ins Zimmer, und unterbreitet ihr den Handel, sich das vorherstimmte Leben ihres Kindes anzusehen, und falls sie danach immer noch wolle, dass ihr Kind leben solle, so würde dies geschehen. Der Kunstgriff besteht nun darin, dass während diese Abenteuer passieren, das Gesicht der Mutter die gesamte Zeit eingeblendet bleibt, obwohl sie im Drama selbst gar nicht mitspielt. "Wir sehen", schreibt Balazc, "anderthalb Stunden lang dem Spiel eines Gesichtes zu, in dem Hoffnung, Angst, Freude, Rührung, Trauer, Mut, weißglühender Glaube und schwarze Verzweiflung flackern. Auf diesem Gesicht spielt sich das eigentliche Drama ab, der wesentliche Inhalt des Films. Die "Geschichte" gab nur den Anlass dazu. Und das Publikum, ein ganz primitives Publikum, wurde nicht müde, anderthalb Stunden lang diesem Mienenspiel zuzuschauen." Und er fügt hinzu: "Die Gaumont-Gesellschaft (die Produktionsgesellschaft) wusste, warum sie Suzanne Despres für diese Rolle die große Gage zahlte. Denn das Publikum und die Filmgeschäftsleute haben es schon heraus, was unsere Ästheten und Literaten noch nicht bemerkt haben, daß es im Film nicht auf das Epische, sondern auf das Lyrische ankommt (Hervorh. von Balázs)."

Es scheint, als wüssten wir nun auch schlaglichtartig, warum Lars von Trier Nicole Kidman und all die anderen wunderbaren Schauspieler brauchte, aber das erscheint ja angesichts der Zeitspanne und der filmischen Entwicklungen von den 20er Jahren bis heute zunächst etwas seltsam. Balázs ging vom Stummfilm aus, in dem der Film wegen seiner "Armut", also etwa ohne Ton auskommen zu müssen, auch auf den visuellen Ausdruck viel stärker angewiesen war, als später im Tonfilm. Im Hollywood-Film, wie er uns heute vor Augen tritt, steht die Großaufnahme wie ein bekanntes Möbelstück herum, das wir wie in einem uns bekannten Zimmer gewöhnlich in unserer Wahrnehmung blind umgehen: d.h. wir sehen sie nicht, wie wir ja auch den Film nicht mehr sehen. Funktionell steht sie im Sklaven-Dienst der Story-Bebilderung, ein kurzer Unterbrechungsmoment der Handlung, ein kurzes Innehalten, bis die Handlung dann weiterläuft. Um mit den Worten Balázs zu sprechen: Im heutigen Hollywoodfilm hat das Epische über das Lyrische gesiegt. Aber auch Balázs konnte, da er vom gewöhnlichen Stummfilm und dem frühen Tonfilm ausgehen musste, der Großaufnahme, so sehr er diese auch als das eigentliche neue Gebiet des Films schätzte, nicht mehr als ein "Betonungsmoment" zusprechen.

Das Interessante ist nun, dass Balázs die Entdeckung, dass es dem Film nicht auf das Epische, sondern allein auf das Lyrische ankommt, bei einem Film machte, bei dem ungewöhnlicherweise ein Gesicht in Großaufnahme zu sehen war, und damit das Lyrische den epischen Rahmen komplett ausfüllt. Balázs machte hier eine Entdeckung über eine Möglichkeit des Films, die erst später, bei John Cassavates und eben bei Lars von Trier offen zu Tage tritt: Nämlich die Möglichkeit, auf den Vorwand einer Story verzichten zu können, lediglich einer Grundsituation zu folgen, und das Lyrische - das Gefühl und das Innenleben der Figuren - durch glaubwürdiges Schauspielern in einer glaubwürdigen Situation - in den alleinigen Mittelpunkt zu stellen. Die künstlerische Verwendung der Handkamera, wie Cassavetes sie als einer der ersten verwendet hat, rehabilitiert nicht nur die Großaufnahme wieder als Schauplatz des (filmischen) Geschehens, sondern kehrt das Verhältnis vom Epischen und Lyrischen zugunsten des Lyrischen wieder um. Es braucht wie zu Balázs´ Zeiten keine Fabel mehr als bloßen, banalen Vorwand, die Geschichte selbst braucht nur eine Ausgangssituation, weil die Großaufnahme nicht mehr wie im Stummfilm nur ein "Betonungsmoment" ist, sondern geradezu unablässig die Zeit und Raum des Films ausfüllt. Wie in seinem Meisterwerk "A Woman under Influence": Das Epische - Eine Frau kommt aus der Psychiatrie und wird von ihrem Mann, ihrer Familien und Freunde empfangen - genügt, um zwei Stunden die Gefühle aller Beteiligten in den Gesichtern der Schauspieler zu beobachten. Das Meiste, was wir davon zu sehen bekommen, ist unaussprechlich.

Nun wird auch deutlich, was der Begriff der Versuchsanordnung meinen könnte: Die Geschichte von Dogville ist nicht der Vorwand zur Hervorbringung von Großaufnahmen (lyrischer Momente), er ist vielmehr die Staffelei, die eine Vielzahl von Gefühlsdarstellungen trägt. Die Wandlungsbreite der Bewohner von DOGVILLE, die sich, ohne dem Einhalt bieten zu können, zum Bösen wandeln, ist spiegelbildlich so groß, wie die Wandlung von Grace von einer jungen, gütigen Frau mit ihrem Glauben an das Gute im Menschen zu einer rächenden Frau. Die Handlungsumschwünge repräsentieren nicht das Innere der Figuren (was, wir erinnern uns aus dem Manifest, "no high art" ist), sondern sollen diese vielmehr zum Vorschein bringen. Das Anerbieten von Grace lässt den Bewohnern von Dogville ihr Böses hervortreten, und die fortführende Spirale der Demütigungen bringt bei Grace Gefühle bis hin zur Rachsucht hervor. Es spricht für Lars von Triers Anspruch auf Wahrhaftigkeit vor seinem eigenem Medium, dass er das latent Sadistische und Fragwürdige der Versuchsanordnung durch die Figur des Möchtegernschriftstellers und Moralphilosophen selbst in den Film hineinnimmt und dadurch mit sichtbar werden lässt.

Wenn Balázs Recht hat, dass das Mienenspiel in der Großaufnahme besonders geeignet ist, die Natur des Menschen in seinen widersprüchlichen Gefühle einzufangen (und spätestens seit DOGVILLE zweifeln wir nicht an der Richtigkeit dieser Behauptung), dann erscheint die Versuchsanordnung von DOGVILLE, die darauf zielt, das Nebeneinander von Gut und Böse, von Güte und Tücke, von Erbarmen und Erbarmungslosigkeit hervorzuholen, als dem Medium des Films vollkommen adäquat, weil der Film die hierdurch hervorgerufene Gefühlsambivalenz von Gut und Böse in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck bringen kann. Verallgemeinert würde dies bedeuten, dass das Medium des Films nach einem solchen Inhalt verlangt. Erinnern wir uns kurz noch mal an das hilflose Spiel der Schauspielerin Uma Thurman in KILL BILL. Begreifen wir, was in der Großaufnahme passiert, als den eigentlichen Inhalt des Films, findet unsere anfängliche Mutmaßung, dass Tarantinos Film keinen Inhalt hat, und Dogville wohl, hierin seine Bestätigung. Auch KILL BILL hat eine Fülle von Großaufnahmen; KILL BILL beginnt ja sogar mit einer Großaufnahme. Aber Tarantino genügt sich mit dem Instrument als solchem. In seinem Kino, in dem jede Ambivalenz herausgefiltert ist, gleichen seine aufwendig arrangierten Großaufnahmen - um an Balázs großartigen und feinfühligem Wort des "Gefühlsakkords" anzuknüpfen - pompösen glitzernden, auf der Bühne gestellten Klavieren, in denen nichts herauskommt, weil auch nichts hineingeben wird. Das heißt: Wir hören schon mal einen einzelnen Ton, Wut etwa, oder Trauer, aber ein Ton, auch wenn er mit der Faust auf den Tasten herausgepresst wird, ergibt noch keine Melodie. In Lars von Triers Film ist die Ambivalenz bis zu keiner Steigerung mehr fähig, und so genügt schon die flüchtigste Aufnahme der mal unruhigen, dann verweilenden, dann wieder herumreißenden Kamera, um ein ganzes vielstimmiges Orchester an Empfindungen in uns zum Erklingen zu bringen.

Und so beginnen wir immer tiefer in diesem Raumschiff in den Gefühlsraum der Figuren hineinzutauchen, und sehen durch die Handkamera-Luke zu, wie das Böse aus den guten Menschen von Dogville kriecht. Derselbe Lebensüberschuss, den Grace geweckt hat, und der vorher die Freundlichkeit und der Sinn des Schönen hervorgebracht hat, bringt nun das Andere, das Böse hervor: neben der Kinderliebe und dem Sinn für Bildung tritt der unverhohlene Sadismus Veras zu Tage; hinter dem Sinn für das schöne Licht des Blinden die unverhohlene Geilheit; neben dem tumben und naiven Lebensverständnis des Dorftrottels die Skrupellosigkeit eines erfahrenen Betrügers, und schließlich neben den Mut des Liebhaber und Moralprediger die Feigheit und den Kleinmut des Verräters. Am stärksten hat Trier das Nebeneinander des Guten, Unschuldigen und des Dunklen und Triebhaften in der Figur des Kindes Jasons vorgeführt, der sich als ausgereifter Masochist entpuppt, und Grace dazu zwingt, ihm Schläge zu geben, ansonsten würde er erzählen, dass sie ihn geschlagen hätte. In der Figur des Jason, dem erst freundlichen Kind, und dem Offenbarwerden seiner masochistischen Triebe, zeigt von Trier den Abgrund von Dogville auf, noch bevor Grace von Jasons Vater vergewaltigt, und noch bevor dessen Mutter, die sanfte Vera, Grace mit höchsten Sadismus gequält hat. Allein diese Nebenfigur ist etwas völlig Neues, noch nie Gesehenes im Kino.

Mit der Zeit erweist sich der Umstand, dass da keine wirklichen Häuser, keine wirklichen Türen sind, als eine direkt folgerichtige Konsequenz der durch die Handkamera gesehenen Großaufnahmen, und der damit verbundenen Absicht, ausschließlich nur dieses innere Geschehen abzufilmen. Der eben von uns gescholtene Sudmann hat in seinem Buch die richtige Beobachtung gemacht, dass die Vielzahl von Großaufnahmen auch in dem Film "Das Fest" zu einem "Schwinden der Bedeutung von Dekor und Requisite" führt. Aber auf magische Weise verläuft der Effekt auch in die umgekehrte Richtung: Desto mehr wir den Menschen ihre Gefühle in ihrem verschatteten Dasein glauben (die wir ja auch nicht sehen, sondern wir sehen nur den Gefühlsausdruck auf ihrem Gesicht), desto mehr glauben wir ihnen auch die Türen, die wir nur hören und die Mauern, die wir nicht sehen. Da für die Menschen von Dogville all das existiert, beginnen diese Dinge auch für uns Realität anzunehmen. Diese innere Realität wächst aus den Figuren so stark heraus, dass sie sich auf die äußere Realität mit überträgt und sie überstrahlt (auch der Erzähler dient dazu, überflüssige "erklärende" Handlungen zu vermeiden, und die Aufmerksamkeit ganz auf das innere Geschehen zu lenken). Hier zeigt sich auch, wie richtig es ist, vom kindlichen Blick zu sprechen: wie Kinder nicht zuerst die Umgebung wahrnehmen, sondern die Gesichter, und Dinge isoliert betrachten, so verharrt auch die Kamera auf den Gesichtern, darauf erpicht, die leiseste sichtbare Gefühlsregung aufzunehmen. Dass der Verlust des Raums auch zum Verlust des Zeitgefühls führt, ist eine der scheinbar technischen, in Wahrheit aber metaphysischen Gründe, warum, wie einige Kritiker verwundernd bemerkten, der Film trotz seiner Länge von drei Stunden nicht eine Sekunde zu lang erscheint. Die Wahrheit ist: er wäre auch länger nicht zu lang erschienen.

Den eigentlichen Inhalt des Films, die eigentliche und wahre Tragödie von DOGVILLE, die wir durch das Medium des Films zu sehen bekommen (und wir ohne das die "filmische" Großaufnahme sonst nicht zu sehen bekämen) bekommen wir allerdings erst in der Figur Grace zu Gesicht, die von Nicole Kidman in der bis dahin größten Rolle ihres Lebens gespielt wird. Das Drama, dem wir in Dogville ansichtig werden, ist ihr Drama. Ihr Erstaunen, der Schatten des Zweifels, die Wiedererlangung der Hoffnung, und der Anflug von Zweifeln, bis hin zur völligen Resignation ist das, was wir von ihrer Tragödie zu sehen bekommen.

Das am meisten Befremdliche an Grace ist, wie schon bei den Frauenfiguren in Lars von Triers vorherigen Filmen, ihre übermenschliche Duldsamkeit gegenüber ihren Peinigern, trotz Vergewaltigungen und Quälereien, was schon bei den vorherigen Filmen zur Kritik an dem vorgeblichen Frauenverständnis von Lars von Triers eingeladen hat. Aber natürlich ist Grace nicht die Verkörperung einer jungen "Power-Frau", wie etwa in der griechischen Tragödie oder eben auch in Tarantinos "Die Braut", die den Kampf gegen die bösen Mächte der Gesellschaft zu bestehen hat, und schon damit zur wohlfeilen Identifikation einlädt. Wie schon der ironisch gebrochene Märchenhafte des Erzähltons verrät, ist Grace überhaupt nicht die Verkörperung einer erwachsenen, modernen Frau; in Wahrheit ist sie die poetische Verkörperung unserer eigenen kindlichen, von Kränkungen erfüllten Seele.

Denn mindestens ja so befremdlich wie Graces Duldsamkeit gegenüber ihren Peinigern ist ja unsere eigene Duldsamkeit gegenüber der von Grace. Wenn wir uns fragen, woher diese unsere Duldsamkeit rührt, dann werden wir feststellen, dass die Lage, in die Grace geworfen ist, nicht die Lage einer jungen Frau ist, sondern vielmehr der Lage von Kindern entspricht. Jedes Kind wird in die Welt geworfen, und harrt in dem Glauben, dass die, denen es auf Gedeih und Verderben ausgeliefert ist, es gut mit ihnen meinen. Wenn Grace die Porzellanfiguren schön findet, die ihr vorheriger Sinn fürs Erwachsensein abgelehnt hätte, dann ist das ihr Versuch, die Welt, der sie ausgeliefert ist, sich einzuverleiben und schön zu finden.

Lars von Trier setzt uns also nicht nur ästhetisch und formal einem anthropologischen Eiland aus, wo wir die Welt wie-zum-ersten-Mal durch die Augen eines Kindes betrachten können, sondern er gibt uns auch die dazugehörige Welt: nicht idealisiert als ein riesiges, buntes Spielzimmer, in dem nichts eine Bedeutung hat und daher auch gar nichts passieren kann, so wie es sich der infantile Erwachsenenverstand zusammenträumt, sondern eine Welt voller Ambivalenzen, einen Ort untergründiger Strömungen, voll von Verletzungen und Kränkungen. Er erinnert uns daran, dass wir unsere Kindheit nicht nur im Kino, sondern auch noch in der wirklichen Welt verbracht haben.

In Grace sehen wir nun die ganze Tragödie, und was wir in ihr und durch sie erleben, ist nicht die Tragödie der Verletzungen und Kränkungen, diese sind nur dramaturgische Mittel zum Zweck. Die Tragödie, die wir in DOGVILLE durch sie zu sehen bekommen, ist vielmehr die Zerstörung eines Glaubens, nämlich des kindlichen Glaubens des Aufgehobenseins und des Guten der Menschen, von denen wir abhängig sind. In ihrem Mienenspiel erleben wir den Kampf um den Erhalt dieses inneren Glaubens: Wenn sie voller Bewunderung die Porzellanfiguren streichelt (zu deren Zerstörung sie später von Vera gezwungen wird); wenn Schatten ersten Zweifels sie befallen, wenn der Apfelbauer seine ersten körperlichen Begehrlichkeiten an sie richtet, und diese Schatten wiederum von einer tiefen Ruhe verdängt werden, wenn Tom sie zu beruhigen versteht - es ist immer das plötzliche Verschwinden von Hoffnung und dunklem Entsetzen, wenn die Schraube der Versuchsanordnung weiter gedreht wird, und eine neue, weitere Stufe des Bösen sichtbar geworden ist. Ihr immer wieder Zurückwollen in den Glauben an das Gute in ihren Peinigern - das ist die verzweifelte Duldung von Kindern, ihr Klammern an der Hoffnung, dass diejenigen, die Böses tun, nicht wirklich böse sind. Der Kampf um dieses Glauben, und die allmähliche Zerstörung dieses Glaubens ist der eigentliche Inhalt des Films DOGVILLE, es ist das, was wir von der Geschichte zu sehen bekommen, und den wir ohne genuinen Mitteln des Films - der Großaufnahme - nicht zu sehen bekommen würden.

Wenn wir Grace sehen, wie sie erst von den Bewohner von DOGVILLE als Geschenk angenommen wird, wie sie alsdann aber lernen muss, dass deren Zuwendung nicht umsonst zu haben ist, und wenn sie dann wieder Hoffnung zu schöpfen beginnt, erleben wir die rührende Momente des Kampfes um ihren Glauben.

Den Werdegang ins Unvermeidliche haben wir in "Breaking the Waves" und "Dancer in the Dark" gesehen. Die Kinderseelen mit ihrem Kinderglauben an das Gute im Menschen müssen sterben, damit wir erwachsen werden können, und wofür wir die gekränkten Kinderseelen den verführerischen Mächten der Verdrängung ausliefern müssen. Der Umschwung im dritten Akt, als der Gangster sich als Vater von Grace herausstellt (er ist weniger der biologische Vater, als vielmehr der Gott der Tragödie, die diabolische Verkörperung der poetischen Gerechtigkeit), und die Machtverhältnisse sich plötzlich ins Gegenteil verkehren, ist daher nicht so sehr die Rettung, sondern vielmehr ein weiterer, letzter Anschlag auf ihren Glauben. Grace kann sich rächen, aber dafür muss sie ihren Glauben opfern. Der moraltheologische Disput des Gangster-Vaters, (nicht weniger genial von James Caan verkörpert) zwingt Grace, sich entweder für das eine, oder für das andere zu entscheiden.

An dieser Stelle erhebt sich nun das größte Tabu, das jedem Rachegelüst entgegensteht, und das unseres Wissens nach noch kein vorheriger Rachefilm in seinem Kosmos aufgenommen hat. Jeder Rachefilm basiert auf einem moralisch gerechten und eindeutigen Empfinden, dass die, an denen sich gerächt wird, die Rache auch verdient haben. Auch KILL BILL hat, wie wir jetzt im Kino sehen konnten, trotz der sympathischen Zügen des bösen Bill, diese beruhigende Gewissheit. Aber im richtigen Leben, wie Grace in DOGVILLE, sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass zwar Menschen Böses tun, aber nicht das Böse meinen. Jedes Kind ist auf dem langen Weg ins Erwachsenenwerden gezwungen, seinen Wohltätern, die immer zugleich auch seine Peiniger sind, verzeihen zu müssen, weil sie es letztlich nicht so gemeint haben (um dann die Rachegelüsten im Hollywood-Kino auszuleben, wo die, die Böses tun, auch dankenswerterweise in der Fratze böser Teufel herumlaufen).

Das Un-Bewusstsein ihrer bösen Taten trifft auch auf die Menschen von Dogville zu. Das Böse geschieht sozusagen hinter ihren Rücken, und wenn es heraus und da ist, übersteigt es ihren moralischen Horizont. Am deutlichsten und am stärksten tritt das Böse - das Böses tut, aber nicht Böses meint - in der Szene zutage, als Grace versucht zu fliehen und der vermeintliche Fluchthelfer Ben als weitere Bezahlung für seine Dienste sich im Planwagen über sie wälzt. Wenn er ihr zuflüstert: "Bitte Grace, es ist nicht persönlich", dann ist das vollkommen ernst gemeint. Es ist das Bild, das sich am stärksten in die Seele brennen wird: Die Kamera hat das Leintuch der Ladefläche transparent gemacht, aber es bleibt als Hintergrund des Bildes erhalten, und Grace liegt zwischen den Apfelkisten und herumrollenden Äpfeln, und erscheint darin in der Schönheit eines Renaissance-Gemälde, als Ben sich anschickt, sich auf sie schiebt, ob seine Bezahlung abzuholen, und Grace die Augen schließt, und das Bild ausgeblendet wird. Es war wohl selten ein Bild im Kino zu sehen, in dem die empfundene Schönheit der Seele und der Schrecken der Welt sich so zusammengefunden haben, wie in diesem Bild, es ist: Ambivalenz!

Der betrübliche Umstand, dass die Menschen nicht wirklich böse sind, sondern nur unfähig zum Guten (was im übrigen einer realistisch psychologischen wie augustinischen Vorstellung über das Böse in der Welt entspricht), dass zwar die Menschen Böses tun, aber dennoch meinen, zugleich noch die märchenhaft guten Bewohner von Dogville zu sein, die sie wohl auch noch tatsächlich sind, ist der größte denkbare Widerstand gegen jedem Rachegelüst. Der Film DOGVILLE überschreitet dieses Tabu, das hebt ihn aus der Reihe der Rachefilme heraus, weil er, nicht trotz, sondern im Rahmen seiner ästhetischen Abgeschlossenheit, damit auch die Grenze hin zum wirklichen Leben überschreitet.

Entscheidend für die Glaubhaftigkeit und die Vollendung des Films ist, dass Lars von Trier die Rache hier nicht verschenkt, oder in irgendeiner Weise durch eine moralische Rechtfertigung verbrämt. Graces erste Begründung, nachdem sie sich zur Rache entschlossen hat, lautet: Dogville müsse von der Erde verschwinden, damit die Welt besser würde. Das ist eine Begründung, die noch ganz im Geist ihres Idealismus gehalten ist, ein Versuch, ihre Tat moralisch zu legitimieren, wodurch, wenn es dabei geblieben wäre, der Racheakt zu einem idealistisch verbrämten Gemetzel a´ la Pol Pot verkommen wäre. Aber Grace vollzieht den notwendigen Schritt, den Akt der Dorfauslöschung von einer idealistischen Großtat zu einem rein persönlichen Akt, wodurch dieser ja erst zur Rache wird: Bevor die Gangster zur Ausübung der Tat schreiten, Dogville und seine Bewohner auszulöschen, hält Grace den Ober-Gangster mit der Anweisung zurück, die Kinder Veras vor ihren eigenen Augen zu erschießen und erst damit aufzuhören, wenn die Mutter der Kinder ihre Tränen zurückhalten kann, was sie wohl nicht könne, sagt Grace, und lässt sich in das Leder des Wagens fallen, weil sie weint so leicht. In dem Moment, wo die Rache wirklich zur Rache wird und sich vom ideellen Akt zur bitteren, persönlichen Revanche steigert (Vera hatte zuvor Grace gezwungen, ihre liebgewordenen sieben Porzellanfiguren zu zerstören, womit sie erst hätte aufhören dürfen, wenn Grace aufgehört hätte, zu weinen) kommt der Film zu sich selbst, und geht ein Ruck durch das Publikum. Im Unterschied zu KILL BILL spüren wir, dass wir eine Mauer durchstoßen, und eine Terrain (wieder-) betreten haben, das wir zumindest eine lange Zeit nicht einmal in uns gespürt haben.

Und Lars von Trier setzt noch einen letzten Widerstand ein: Als alle Menschen, alle Kinder erschossen sind (wir haben ein Maschinengewehrfeuer auf ein Baby losgehen gesehen, auch das ein Bild, das so noch nicht auf der Leinwand zu sehen war) und alle Häuser niedergebrannt sind, sieht Grace durch die Rauchschwaden Tom als einzig Überlebenden. Ohne eine Sekunde des Zögerns greift sich Grace, die mit fließenden Tränen in den Augen das Gemetzel aus dem Fond ihres Wagens zugesehen hat, eine Pistole, und steigt aus der Limousine aus. Tom, wie immer nicht um einen Spruch verlegen, sagt: "Gratuliere Grace, Deine Illustrationen sind besser als meine!", und Grace sagt nur "Good-bye, Tom!" drückt Tom die Pistole an den Kopf, wendet das Gesicht immer noch mit Tränen ab, und schießt ihn nieder. Sie steigt ins Auto, und sagt sinngemäß: "Es gibt Dinge, die man selbst tun muss".

Im Racheakt triumphiert der kindliche Wille nach Vergeltung und das Beharren auf eine Welt, die besser zu sein habe. Die sonore Erzählstimme entlässt uns mit den Worten aus dem Film: "Es war, als hätten Schmerz und Kränkung wieder ihren angestammten Platz eingenommen." Gerade weil die Menschen von Dogville nicht wirklich böse sind, müssen wir uns an ihnen rächen, um das Bewusstein unsers eigenen Schmerzes wieder zurück in unser Leben zu holen, und das ist der tiefere Grund, warum wir unsere Rachegefühle von dem Film haben wieder erspüren lassen. Der Preis für den Racheakt von Grace ist allerdings die Zerstörung ihres Glaubens an das Gute im Menschen, und deswegen wird die Tragödie weiter gehen und zwei weitere Teile folgen.

Der Film ist ein Anschlag auf unser gewöhnliches moralisches Empfinden von Gut und Böse, wie es ihn vielleicht seit Kubricks Verfilmung von Anthony Burgess´ Roman "A Clockwork Orange" nicht mehr im Kino zu erleben gab. Nicht nur, dass alles, was Tarantino uns vollmundig versprochen hat - nie gesehene Bilder, unglaubliche Gewalt, eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen könnte etc.p.p. - von DOGVILLE scheinbar mühelos und mit zauberischer Selbstverständlichkeit erfüllt wird, sondern ihm gelingt noch, was jedem normalen Rachefilm zur Ehre gereichen würde: aus einem intellektuellen, cineastischen meist sittsamen Publikum, das mehrheitlich wohl aus Anhängern von Amnesty International und Gegnern der Todesstrafe besteht, grimmige Bejaher der Auslöschung eines ganzen Dorfes und ihrer Bewohner werden zu lassen, die wir überdies in fast drei Stunden in intimer Nähe haben kennen gelernt.

Nochmal: Kein Zweifel, welches der bessere Rachefilm ist.

das letzte Kapitel: V. Vor dem Kino (der Zukunft)

 

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