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Übersicht
das vorhergehende Kapitel:
III. Kill Bill
IV. DOGVILLE
Wenn wir nun die pompöse Kinomesse von KILL BILL verlassen
und in den Film DOGVILLE treten, dann ist das so, als würden
wir aus einer Kinokathedrale aus Pappmaché in die lautere
Wahrhaftigkeit einer einfachen Dorf- und Wanderkirche auf
dem Land treten, die mit der Zeit aber eine Wirkung entfaltet,
mit der sie sich als die wirkliche, echte Kathedrale erweist.
Natürlich können wir über den Film DOGVILLE nicht reden,
ohne über die "Dogma-Bewegung" zu reden, die von Lars von
Trier nicht nur gegründet und initiiert wurde, sondern von
ihm auch im Wesentlichen geprägt wird. Die öffentliche Diskussion
um diese Bewegung irrlichtert ein wenig an der Oberfläche,
weil hierzulande nicht so sehr die Idee der freiwilligen Beschränkung
wahrgenommen und diskutiert wird, als die einzelnen Regeln
selbst, die ja aber nur eine Spezifizierung dieser Idee der
freiwilligen Beschränkung sind. Es scheint fast, als hätte
sich ein Volk von Kritikern in ein Volk von Verkehrswächtern
verwandelt, das jede Nichteinhaltung und Übertretung einer
Dogma-Regel bereits entweder "Schwindel" rufen oder das baldige
Ende der Dogma-Bewegung selbst herbeirufen lässt. Dabei haben
Regeln in der Kunst natürlich eine gänzlich andere Bedeutung
als Regeln im Verkehr, nämlich eine genau entgegengesetzte:
Regeln im Verkehr sollen die Wiederholbarkeit und Berechenbarkeit
der Abläufe garantieren, Regeln in der Kunst sollen diese
unterlaufen oder sogar zerstören. Regeln in der Kunst dienen
der Herausforderung, Regeln im Verkehr dienen dazu, es zu
möglichst wenig Herausforderungen kommen zu lassen. Im gewissen
Sinn sind Regeln in der Kunst aus dem selben Grund gut, wie
im Sport, weil einzig nur dort, wo es Regeln gibt, auch Virtuosität
möglich ist, aber anders als beim Sport ist in der Kunst auch
noch der Regelverstoß mit inbegriffen.
Die Selbstbeschränkung hat den Zweck, einen neuen frischen
Zugang auf die Welt sich zu erhalten, denn nichts ist tödlicher
für die Kunst als die Konvention und sei es die eigene. Die
Erkenntnis, dass die Kunst sich wandeln müsse, damit die Wahrnehmung
auf der Welt sich erhalten kann (Sklovsky), hat Lars von Trier
mit den Dogma-Regeln sich zu seinem selbstregulierenden Prinzip
erhoben. Die Forderungen nach Verzicht auf technisch-manipulative
Möglichkeiten des Films fordern den Künstler ebenso heraus,
wie sie von ihm verlangen, dass er seine Abbildung und damit
seine Sichtweise nicht der Konvention der Technik überlässt,
sondern dass er sich einen offenen, dynamischen Zugang zur
Realität bewahrt, wobei auch das, was dabei von außen zufällt
(Wetter, Licht, die Spontaneität der Schauspieler) nicht als
Zufall abgewertet, sondern zum Bestandteil des Films wird.
Bei Kenntnisnahme dieser künstlerischen Absichten mag auch
die "Hintergrundinformation" keine so große Überraschung mehr
auslösen, dass die Dogma-Idee der Selbstbeschränkung ein Vorbild
hat, das halb aus der bildenden Kunst und halb aus der ethnologischen
Dokumentation entstammt: namentlich in der Person des Dokumentarfilmers
Jørgen Leth, der für die Dogma-Bewegung das bewunderte Vorbild
ist, und mit dem von Trier nach DOGVILLE einen Dokumentarfilm
"Die fünf Hindernisse" (dt. Titel) gedreht und in Venedig
gezeigt hat, in dem von Trier den Spieß umdreht und Leth immer
wieder selbst Regeln auferlegt (ein Film, der im August zu
sehen war). Sich nur auf die Regeln zu kaprizieren, ohne die
dahinter ernsten künstlerischen Absicht zu sehen, die alle
im dazugehörigen Manifest nachzulesen sind, mag unserer regelrechten
Regelgläubigkeit geschuldet sein, aber ist ein wenig so, als
würde man sich die von Moses überbrachten 10 Gebote betrachten,
ohne den Glauben an einem Gottes wenigstens zur Kenntnis zu
nehmen (geschweige diesen zu teilen). Ohne die Zurkenntnisnahme
von der Idee eines Gottes wäre wohl auch Moses als Wichtigtuer
oder gerissener Ideenverkäufer verlacht worden.
Obwohl aus dem vermeintlichen Scherz einige anerkannte Meisterwerke,
zumindest sehr ernstzunehmende Filme erwachsen sind - FESTEN
von Thomas Vinterberg, BREAKING THE WAVES und DANCER IN THE
DARK und nun DOGVILLE von Lars von Trier, werden die künstlerischen
Überzeugungen, auf denen die Dogma-Filmer ihre Gegenkirche
zu Hollywood und zum Autorenkino errichtet haben, in der öffentlichen
Wahrnehmung weitgehenst ignoriert. Seeßlen hat seinen berüchtigten
Dogma-Verriß aus dem Jahr 1999, von dem wir heute immer noch
den Geruch der verbrannten Erde spüren, und auf den wir zum
Schluss dieses Essays noch zu sprechen kommen werden, relativiert,
indem er achtenswerterweise die Meisterschaft von DANCER IN
THE DARK und DOGVILLE anerkannt hat. Andererseits hat er das
Dogma-Manifest, das ja hauptsächlich auf Lars von Trier zurückgeht,
als einen "Rockn´Roll-Schwindel" abgetan. Nun ist ein Manifest
natürlich keine filmwissenschaftliche Abhandlung. Es ist ein
künstlerisches Manifest, in dem die Verrätselung die Farbe
ist, die es trägt, und deren Begründung sich auch nicht im
Text selbst findet, sondern eben in den Filmen. Aber vermutlich
ist dieses Abtun als "Schwindel" nicht durch dessen "Unwissenschaftlichkeit"
und dessen ironischen Gestus begründet, sondern vielmehr von
Seeßlens eigenen Motiven, einerseits sich nicht gegen die
offensichtliche Meisterschaft der Filme stemmen zu wollen,
andererseits aber an seiner eigenen auf Hollywood gerichteten
Ästhetik festhalten zu können, und die Filme als erfolgreiche
Einzelprodukte in diesen Kosmos eingemeinden zu wollen.
In der freien Wirtschaft würde man hierin den Versuch einer
unfreundlichen Übernahme sehen können (wobei wir, die Bewunderer
dieser Filmkunst hier die Aktionäre abgeben würden). In einer
kunst-religiösen Metaphorik gesprochen geriert sich Seeßlen
als Kardinal des Hollywood-Rom-Kinos, der die Werke der talentierten
Mystiker in den römisch-vatikanischen Kosmos eingemeinden
will, ohne aber die zugrundeliegende Häresie dazu. Die wohlgeformte
Gestalt ohne aber den vielleicht ungewollten Gehalt haben
zu wollen (z.B. die Gedichte Gottfried Benns ohne dessen dunklen
Gedankenstrom in seinen Essays) entspricht zwar einer typischen,
wohlbekannten Haltung der Postmoderne. Es ist dennoch kein
besonders redliches Manöver, zumal für einen gelernten Ästhetiker.
Nicht nur, weil noch kein Kriminalfall in der Kunstgeschichte
bekannt ist, wo ein Kunstwerk sich auf Manifestationen seines
Schöpfers gegründet hätte, die sich posthum als "Schwindel"
herausgestellt hätten, sondern weil die ästhetische Revolution,
das Neue und das Erregende der Filme des Dogma-Erfinders Lars
von Triers damit zu einem Treppenwitz nivelliert wird. Man
könnte, wenn man es dramatisch sehen wollte (und wir sind
bei aller Gelassenheit eines Spaziergängers gar nicht so weit
davon entfernt, das alles dramatisch zu sehen), die Empfehlung
Seeßlens, das Dogma-Manifest als Scherz, nämlich "im Kontext
des Pop" zu lesen, und nicht im "Kontext der Filmkunst", als
versuchten Kunstraub aus der Gegenkirche betrachten. Stellen
wir die Filme und ihr Manifest also wieder dorthin zurück,
wo sie entstanden sind, und wohin sie folglich auch gehören,
nicht in dem "Kontext des Pop", sondern in dem "Kontext der
Filmkunst".
Und siehe da: Stellt man das (Gründungs-) Manifest wieder
zurück in den Bereich der Kunst - und der Filme von Lars von
Triers, gewinnen die zunächst reichlich dunklen, der Natur
nach apodiktischen Verlautbarungen auf einmal eine Klarheit
und Durchsichtigkeit, die nichts zu wünschen übrig lassen.
Wir können uns daher der zunächst dunklen Sätze wie eines
Reise- oder Fremdenführers bei der Begehung des Films DOGVILLE
bedienen, und im "Kontext des Films" und seiner Dorfkirche
in DOGVILLE werden sie aufleuchten wie Fackeln, die uns die
wichtigsten Bausteine dieser Architektur zu unserer Ansicht
freigeben werden.
"TOM DOGMA 95 the movie is no illusion!" Dies ist zweifelsohne
ein dunkler Satz, der über die Pforte des Eingangs gemeißelt
steht, und der sich erst erhellen wird, wenn wir durch das
Kircheninnere durchgegangen sind. Aber nicht nur als Spruch,
sondern als Anspruch durchzieht er das Manifest, wie auch
den Film DOGVILLE selbst. Zumindest lesen wir daraus den Anspruch
auf eine Wahrhaftigkeit heraus, der die Dogma-Filmer dazu
bringt, sich sowohl gegen das Hollywood-Kino wie auch gegen
den Autorenfilm zu wenden. Um den Anspruch klarer zu verstehen,
gehen wir wie bei KILL BILL zunächst schulbuchmäßig vor, verweilen
noch ein wenig an der Pforte, und fragen uns nach der Absicht,
aus der heraus das Gebäude entstanden ist. Tarantinos Absicht
(der ja wohl tatsächlich "Pop" personifiziert) besteht darin,
ein möglichst starkes, beeindruckendes, filmisches Ereignis
zu schaffen, und möglichst viel bauliche Elemente aus einem
als bekannt vorausgesetztem cineastischen Fundus einzuarbeiten.
Für Lars von Trier, so deuten es die Sätze aus dem Manifest,
geht es aber um die Erfahrung von etwas Wirklichem, einem
außerfilmischen Inhalt: In Interview-Äußerungen zu Filmen
befragt, die ihn geprägt haben (zuallererst Carl Theodor Dreyer,
Andrei Tarkovsky, Ingmar Bergmann) sagt Lars von Trier: "Ich
möchte behaupten, dass jeder Film, den ich mag, auf einer
Art wahrhaftigem Gefühl basiert, dass er - aber das ist sehr
abstrakt, im Kern eine Wahrheit enthält, sogar ein Hitchcock-Film.
Mein Lieblings-Hitchcock ist natürlich Vertigo, und obwohl
dieser Film sehr, sehr sophisticated ist, habe ich doch das
Gefühl, dass er sehr genau von einem bestimmten Gefühl erzählt."
Konkret zu seinem Film DOGVILLE befragt, und ob er gerne provoziere,
erklärte Lars von Trier: "Ich mache nicht dieses Fuck-you-thing,
sondern mich interessiert der Inhalt, der Diskurs über Vergebung
und die Notwendigkeit von Rache."
Halten wir also fest, dass Lars von Triers Film, im Unterschied
zu dem Film von Tarantino die Außerordentlichkeit eines Inhalt
beansprucht, ein Inhalt, der notwendigerweise abstrakt bleiben
muss, daher aber des Mediums bedarf, um erfahrbar werden zu
können. Erst dieses Interesse an einem Inhalt - an einem,
wohlgemerkt, außerfilmischen Inhalt - setzt das Kino als ein
ästhetisches Medium wieder in Funktion, bzw. - um in der religiösen
Metaphorik zu verbleiben - in Amt und Würden. Es ist das Interesse
an diesen Inhalt, das den eigentliche Grund darstellt, dem
Prunk der Hollywood-Kirche zu entsagen, den Regiegott-Talar
abzustreifen, und sich ironisch das einfache Gewand des Mystikers
überzustreifen. Nicht das Kino selbst ist das Ziel, das Kino
selbst ist nur das Mittel, diesen Inhalt sichtbar zu machen.
Einige Filmkritiker haben insbesondere die Abgrenzung der
Dogma-Filmer von der Nouvelle Vague als vollkommen unglaubhaft
kritisiert, aber auch wenn es unübersehbare Gemeinsamkeiten
gibt, etwa den Impuls zur Revolte, oder aber die Verwendung
der Handkamera, könnte die Ausrichtung, zumindest was die
Nouvelle Vagues Godards betrifft, gegensätzlicher nicht sein.
Suchten die Nouvelle-Vague-Filmer den Inhalt im Persönlichen
und Autobiographischen, und betrachteten Filme als Artefakte
ihrer persönlichen Stimmungen und Ansichten (wie auch Tarantino
die Filme als Mix seiner persönlichen Vorlieben ansieht),
so suchen die Dogma-Filmer die Wahrheit außen. Sichtbarstes
Zeichen dafür ist, dass bisher alle Dogma-Filme eine Geschichte,
einen durchkomponierten "Plot" haben. Haben Tarantino und
Godard, letzterer um dem Story-Diktat des Hollywood-Kino zu
entfliehen, den Plot ausgekippt, und ersterer damit aber auch
jeglichen Inhalt gleich mitausgeschüttet, so rehabilitieren
Lars von Trier und die anderen Filmer die Bedeutung der Geschichte
wieder im Avantgardekino. In dieser Hinsicht erweist sich
Lars von Trier, wie auch schon Kubrick vor ihm, als Traditionalist,
und in mehrerer Hinsicht als dessen Nachfolger. Die Abgrenzung
zur Nouvelle Vague (Manifest: The auteur concept was bourgeois
romanticism from the very start and therby ...false!") ist
absolut klar und vollkommen einleuchtend, macht man sich nur
bewusst, dass "Dogma" nichts weniger als den Versuch eines
neuen Realismus im Film darstellt. Verkennten wir diese Absicht,
würde die gesamte Dogma-Bewegung so unklar und unverständlich
wie eine Reise bleiben, von der wir nur die verwendeten Fahrzeuge,
die An- und Abfahrtszeiten, die Zwischenstationen, aber weder
die Absicht noch das eigentliche Reiseziel wüssten.
Natürlich müssen wir noch herausfinden, wo der Realismus
zu finden ist, und welche Wirklichkeit er uns von der Geschichte
DOGVILLE zeigt. Betreten wir zunächst nicht die Hauptpforte,
sondern den Nebeneingang - die in DOGVILLE erzählte Story
-, so finden wir eine Geschichte vor, die noch mehr als in
den Vorgängerfilmen "Breaking the Waves" und "Dancer in the
Darks" völlig einfach und märchenhaft komponiert ist: Eine
junge Frau kommt auf der Flucht vor Gangstern in ein Dorf,
trifft auf den jungen Möchtegern-Schriftsteller und Moralprediger
Tom, der seinerseits Grace dazu benutzt, ein moralisches Experiment
mit den Bewohner von Dogville zu veranstalten. Er überredet
die Bewohner, Grace bei sich aufzunehmen, und überredet Grace,
sich bei den Bewohnern mit kleinen Hilfeleistungen zu bedanken.
Als Grace von der Polizei gesucht wird, entscheiden sich die
Bewohner in einer Abstimmung, dass Grace dennoch bei ihnen
bleiben darf, wenn sie sich zu den vorher freiwilligen Hilfsleistungen
nun verpflichtet. Das ist der Beginn ihrer Versklavung. Am
Ende ist Grace in Ketten gelegt, und von allen Männern vergewaltigt
worden, außer von Tom zu dessen empfundenen Leidwesen. Als
Tom Grace verrät, und die Gangster anruft, stellt sich heraus,
dass der Gangster der Vater von Grace ist, und Grace nutzt
die Gelegenheit, sich an allen Bewohnern zu rächen, und sie
töten zu lassen.
Die Geschichte ist vorbildlich gebaut, sie verfügt mustergültig
wie jeder Hollywood-Film über drei Akte und zwei Wendepunkte.
Aber dieser Racheinhalt ist nur der Inhalt auf der Handlungsebene,
der, wenn man ihn noch knapper wiedergeben würde - eine junge
Frau kommt in ein Dorf, wird von den Bewohner ausgenutzt und
versklavt, und rächt sich am Ende - der Inhalt eines jeden
beliebigen Rachefilms sein könnte.
Völlig zurecht ist die Geschichte als eine Versuchsanordnung
beschrieben worden, ohne dass wir uns schon über die Absichten
dieser Versuchsanordnung im Klaren wären, was aber schon deutlich
macht, das der erzählte Inhalt, anders als im plotfixiertem
Hollywood-Kino und seinem missratenden Stiefkind, dem Kunstkino,
noch nicht der Inhalt des Films ist. Entzünden wir eine weitere
Fackel aus dem Manifest: "Having the charakter´s inner lives
justify the plot is too complicated, and not "high art" (Wenn
das Innenleben die Handlung rechtfertigt, ist das zu kompliziert
und keine "hohe Kunst"). Dass der Inhalt nicht in der Handlung
zu suchen ist, zeigt sich schon in der Zurückhaltung gegenüber
dessen sensationellen Momenten: Die dramatischen Ereignisse,
die Vergewaltigungen und Erniedrigungen sind fast nur angedeutet,
und die weiteren Mittel - die ironisch gebrochenene, an "Barry
Lyndon" erinnernde, märchenhaften Erzählstimme, die Kapitelunterbrechung
mit der wunderbaren Barock-Musik von Antonio Vivaldi - entrücken
die Dinge in eine weitere Distanz und verhindern, dass unsere
emotionale Teilhabe auf der Ebene einer banalen psychologische
Identifikation mit der Heldin ablaufen könnte. Auch hat der
Film auf der reinen Handlungsebene relativ wenige Spannungsmomente:
Abgesehen von der überraschenden Wende im dritten Akt wissen
wir nach einer halben Stunde, dass die Entwicklung der Figuren
immer mehr in ihr anthropologisch Böses verläuft (nicht umsonst
fühlen wir uns an Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" erinnert,
man könnte auch noch Dürrenmatts ebenfalls verfilmtes Theaterstück
"Der Besuch der alten Dame" hinzufügen), wir wissen also ungefähr,
wie der Hase läuft, wir wissen nur noch nicht, dass wir selbst
dieser Hase sind, die scheinbaren Beobachter dieses Experiments,
selbst eigentlich die Probanden dieser ästhetischen Versuchsanordnung
sind, und auf eine Reise geschickt werden, an deren Ende wir
uns als moderne Menschen mit moralisch korrekter Anschauungsweise
nicht mehr wieder erkennen werden.
Um hinter der Handlung des Films zu dessen Inhalt, und damit
auch zu unserem eigenen Erfahrungsinhalt zu gelangen, müssen
wir uns fragen, was von der Geschichte der Film DOGVILLE uns
zeigt, mit welchen Innenseiten dieser Geschichte er uns konfrontiert.
Dieselbe Geschichte bereits durch die Prosabaumstämme eines
Roman hindurch gesehen, würde gänzlich andere Seiten und Aspekte
der Geschichte zum Vorschein bringen, als durch das lichte
Geäst eines Gedichts gesehen.
"The basic purpose of a film is one of illumination showing
the viewer something he can´t see in any other ways" (Der
alleinige Zweck des Films besteht darin, etwas zu beleuchten,
was der Zuschauer auf keine andere Weise zu sehen bekommen
kann). Dies stammt zwar nicht aus dem Fundus der Sätze aus
dem Manifest, sondern aus einem der seltenen Interviews von
Stanley Kubrick, aber dieser Überzeugungssatz könnte auch
für den ästhetischen Authentizitätsanspruch der Dogma-Regisseure
gleichermaßen gelten. Man kann ihn in eine Frageform, zu einer
Such-Fackel, umfunktionieren: Was zeigt uns der Film DOGVILLE
von der Geschichte DOGVILLE, was wir ohne den Film nicht gesehen
und erfahren hätten? Betreten wir also mit dieser Fackel nun
den Haupteingang des Films, hinein in ein ästhetisches Gebäude,
das zur Erkundung eines Gefühls errichtet worden ist, und
versuchen wir zu verstehen, was er uns auf seine filmische
Weise von der Geschichte zu sehen gibt, und was wir ohne diesen
Film nicht zu sehen bekämen.
Und schon müssten wir unsere Besichtigung des Films beenden,
und unsere Fackel konsterniert niedersinken lassen, wenn wir
den (sinngemäßen) Ruf des Kritikers von Spiegel-Online ungeprüft
Glauben schenken wollten: "Das ist ja gar kein Film, das ist
ja abgefilmtes Theater!" Tatsächlich: Statt auf ein "richtiges"
Dorf schauen wir auf eine Theaterkulisse. Der Eingangssatz,
der über das Portal gemeißelt steht - "TO DOGMA 95 the movie
is no illusion" - hätte uns warnen müssen, aber mit dem gänzlichen
Entzug des illusionistischen Film-Naturalismus hätten wir
nicht gerechnet. Allerdings gucken wir nicht vom erdachten
Parkett, oder vom Balkon, oder von einer der handelnden Personen
aus, sondern wir gucken von der (gedachten) Decke senkrecht
auf ein Bühnenbild - ein Ausblick, von dem jeder zugeben muss,
dass dies selbst im Zeitalters des Theaterevents eine eher
ungewohnte, und von daher nämlich atemberaubende Perspektive
ist.
Es wäre ein Leichtes, weitere technische Belege, dass es
sich beim Film DOGVILLE um einen richtigen echten Film handelt,
aufzuzählen (Fragmentarisierung des Raums, Close ups u.s.w.).
Aber der bloße Beweis, dass der Film ein Film ist, bringt
uns auf unserem Weg, den Film DOGVILLE in seiner ästhetischen
Bauweise zu verstehen und daraus auch Erkenntnisse für das
Medium zu gewinnen, kein Stück weiter, weil wir allein mit
diesen Beharren die Absicht hinter dem Kunstgriff nicht begreifen
könnten, worin wirklich der Sinn liegen sollte, statt die
Geschichte in einem "richtigen" Dorfes in einem Bühnenbild
spielen zu lassen. Daher wollen wir den schon im Grunde als
unsinnig erkannten Einwurf des Kulturredakteurs, es handele
sich bloß um ein "aufgezeichnetes Theaterstück", als einen
Ausdruck unseres eigenen Erstaunens umdeuten, und ihm dorthin
folgen, woher er in Wahrheit entfleuchte, nämlich nicht aus
dem Verlagsgebäude des "Spiegels", sondern aus den unbewussten
(inneren) Vorurteilen unseres eigenen Innen-Kinos heraus.
Betrachten wir noch mal dieses Innen-Kino: Im Hollywood-Kino
haben wir, wie schon eingangs erwähnt, eine Ästhetik, die
technisch in der Lage ist, uns unsere Welt als ziemlich real
vor Augen erscheinen zu lassen. Dabei ist die Welt natürlich
nicht real, aber zumindest filmreal, d.h. der Hollywood-Film
unternimmt alles, um uns den Film nicht mehr spüren und merken
zu lassen, das Ästhetische selbst zum Verschwinden zu bringen
- "unsichtbar" zu machen - um uns das Gefühl zu geben, uns
mitten in einem Handlungsgeschehen zu wähnen (Stichwort: unsichtbarer
Schnitt). Die Story ist bekanntermaßen nach den ästhetischen
Grundsätzen des Aristoteles gebaut, einer Dramaturgie also,
die für das Theater gedacht war. Was also ist nun filmisch
am Hollywood-Kino? Die Antwort ist notwendig paradox: Es ist
die Dramaturgie, und man muss betonen, es ist nur die Dramaturgie.
Der Hollywood-Film entnimmt all seine Ausdrucksmittel einer
Theater-Dramaturgie, und bedient sich des Films und seiner
technischen Mittel wie eines technisch perfektableren Theaterapparats,
was zur Folge hat, dass der Film auch selbst gar nicht mehr
als ein eigenes Ausdrucksmittel zu Tage treten kann. Pathetisch
gesprochen: Der Hollywood-Film gleicht einem Dampfer, der
sich die filmischen Mitteln versklavt hat, um uns das Bewusstein,
dass wir uns einem Schiff befinden, und nur dank des Dampfers
durch einen Handlungsablauf steuern, zum Verschwinden zu bringen.
Wonach wir in unserem Innen-Kino also unsere Vorstellung vom
Inbegriff des Films und vom "Kino" gebildet haben, nämlich
dem Hollywood-Kino, bezeigt sich nun bei weiterem Hinsehen
ironischerweise selbst als das abgefilmte Theater, das sich
nur äußerlich, dank seines technischen Illusionismus als ein
Film auszugeben trachtet. Was sich als Kino ausgibt, ist Theater,
und was wie Theater aussieht, durch den verfremdeten Blick,
ist in Wahrheit der Film. Dieser Verkehrung entsprechend hat
der Spiegel-Online-Redakteur das Drehbuch von DOGVILLE, das
ja in der Tat klassisch nach der aristotelischen 3-Akt-Struktur
geformt ist, als "großartig" gelobt, weil es das ist, was
ihm von der Hollywood-Ästhetik vertraut vorkam, und die filmische
Umsetzung beklagt, die ihm von der Hollywood-Ästhetik unvertraut
war. Es ist schon interessant zu sehen, wie schnell die Abkehr
von der gewohnten Hollywood-Ästhetik dessen unbewussten Dogmen
in uns zum Vorschein zu bringt.
Es geht nun nicht darum, den Spieß umzudrehen, sondern es
geht darum, aufzuzeigen, wie Lars von Trier den Spieß umdreht.
Der Effekt des Kunstgriffs, uns eben keinem Film-Naturalismus
auszusetzen, liegt, wie bei jedem Geniestreich, auf der Hand,
aber natürlich erkennt man ihn wie bei jedem Geniestreich
erst hinterher: Indem von Trier nämlich das Theater wieder
in den Film hineinnimmt, und damit jegliche "Kinoillusion"
verunmöglicht, nimmt er das (versteckte) Theater wieder aus
dem Film heraus. Das hört sich zwar wie ein Taschenspielertrick
an, ist aber keiner: Entbunden von der sklavischen Aufgabe,
uns die äußere Welt so täuschend echt wie nur möglich erscheinen
zu lassen, treten die filmischen Sichtweisen wieder in Erscheinung,
und damit wieder in ihre ursprüngliche künstlerische Funktion:
nicht nämlich als ein technisches Mittel zur Erzeugung der
Film-Illusion, sondern als ein Ausdrucksmittel.
Nun hat ja, wie von Trier, auch Tarantino dem Abbildcharakter
entsagt, und uns einen Schritt in unser Innen-Kino in ein
cinephiles Pubertätszimmer zurückführen wollen, wo wir unschuldig
Kino geguckt haben (was schon deswegen nicht funktionierte,
weil es diesen Ort vermeintlich unschuldigen Sehens niemals
gegeben hat). Lars von Trier führt uns noch weiter zurück,
in die Zeit, als das Kino eben noch nicht über die technische
Möglichkeit verfügte, uns in einen Abbild-Illusionismus zu
versetzen, und als es tatsächlich noch selbst wie "Theater"
aussah, und eine ihm eigene Filmsprache entwickeln musste,
um sich vom Theater abzusetzen und sich als eine eigene Kunstform
zu etablieren. Indem Lars von Trier uns zu diesen Anfängen
zurückführt, wirft er uns aus unserer postmodernen "Kenn-wir-schon-ham-wir-schon-ham-wir-schon-gesehen-
Saturiertheit heraus und lässt uns wie weiland Robinson Crusoe
auf einem prämodernen Eiland stranden, um uns dem Erstlingszauber
der Geburt des Mediums als eine Kunstform wie neu erleben
zu lassen. Im Prinzip sehen wir durch die Kamera, wie die
"ersten Menschen" durch die Kamera geschaut haben. Er setzt
uns also in ästhetischer Hinsicht einer anthropologischen
Situation aus, indem wir uns im Bannraum des Films die Welt
vermittels des Films wie neu erschließen müssen. Vor der Folie
des Theaters treten die filmischen Sichtweisen hervor und
werden wieder erlebbar.
Um das schon jetzt in allem angemessenen Pathos zu sagen:
Lars von Trier ist kein "Kinozerstörer", wie es oft auch bewundernd
behauptet wird, er ist vielmehr der siegreiche danielshafte
Spartakus über das scheinbar allmächtig römische Goliath-Hollywood-Kino,
dem es gelingt, die versklavten filmischen Mitteln aus dem
Bauch des plotfixierten Kinos zu befreien, und sie wieder
ihrer subversiven Natur gemäß zur ihrer surrealen Entfaltung
kommen zu lassen (worin dessen eigentlicher "Antiamerikanismus"
liegen dürfte).
Um die zauberische Wirkung der Wiederfindung des Filmischen
als Sichtweise und Ausdrucksmittel exemplarisch aufzuzeigen,
sollten wir kurz noch mal zur opening scene zurückkehren.
Für die "ersten Menschen" war, wie uns die Theoretiker unter
ihnen versichern, das Vermögen des Films, den Zuschauer von
seinem Platz wegführen zu können, und durch die Kamera (als
unseren Stellvertreter) in den Filmraum immer wechselnde Positionen
einnehmen zu lassen (die sog. "Ent-Arritierung), einer der
wesentlichen, neuesten und abenteuerlichen Eigenschaften des
neuen Mediums.
Durch die Konfrontation des Filmischen mit der Theaterbühne
lässt uns von Trier durch eine für das Theater "surreale"
Platzierung dieses Mittel der Ent-Arritierung deutlich wie
neu erleben. Hätte Lars von Trier, wie ursprünglich geplant,
statt in einer Theaterbühne in einem "wirklichen" Dorf in
Schottland gedreht, und hätte er eine ähnliche Einstellung
aus einem Hubschrauber gefilmt, wäre das zwar auch "filmisch"
gewesen, aber wir würden diese Einstellung gar nicht mehr
als filmisch bemerken, weil wir sie schon gewohnt sind. Auch
würde uns die Kulisse von DOGVILLE kaum überraschen, wenn
wir sie vom Parkett oder vom Sitzplatz oder Balkon eines wirklichen
Theaters aus betrachten würden, sie wäre sozusagen theaternaturalistisch.
Der Eindruck aber, der von einigen schon als "gottähnliche
Perspektive" beschrieben wurde, wird ja nicht durch den rein
räumlichen Abstand erweckt, sondern weil wir durch die exorbitant
nur dem Film mögliche Perspektive auf eine Theater-Welt gucken,
die dieser selbst nicht angehört und daher ungewohnt ist.
Durch die Einstellung von der Decke aus wird uns schlagartig
bewusst, dass wir einer anderen Sphäre angehören, als die
Menschen, die wir unten auf der Bühne erblicken, die sich
zwischen Mauern bewegen, obwohl da keine sind, Türen öffnen,
die nicht vorhanden sind (aber wer weiß, vielleicht sind da
doch Türen? Wir sehen zwar keine Türen, aber hören die Türschläge
...), und dass wir einer von den Menschen da unten ganz und
gar verschiedene, nämlich der filmischen Sphäre angehören.
Von dieser ersten Einstellung an ist klar, dass wir nicht
einfach einer Geschichte folgen, deren Inhalt entlang den
Höhe- und Wendepunkten auffindbar wäre, sondern einer ästhetischen
und moralischen Versuchsanordnung, bei der nicht der äußerliche
Geschehnisablauf entscheidend ist, sondern die menschliche
Gefühlsdramatik. Aus dem Bewusstein, dass wir einen Film sehen,
werden wir über die Dauer des Films nicht entlassen. Es ist
das Fremde des Raums, in die wir uns bewegen, die uns die
Welt so vorführt, als sähen wir sie zum ersten Mal.
Man hat ganz richtig wegen der Ähnlichkeit der Bühne mit
einer Brecht-Bühne und der motivlichen Anlehnung an die Brecht´sche
"Seeräuber-Jenny" von einem V-Effekt gesprochen, wobei sich
in diesem Kürzel ein etwas zu großes Bescheidwissen spreizt,
das im Grunde selbst wieder des verfremdenden Verfahrens bedürfte,
weil hier wieder das der Wahrnehmung vorauseilende Wissen
(ah, ja Brecht) die Wahrnehmung verstellt. Es ist keine Verfremdung
mit der Brechtschen Absicht, eine gesellschaftlich verwertbare
Erkenntnis zu gewinnen, sondern eine Verfremdung nach Tolstoi
(von dem Brecht seine Idee auch entnommen hat), die im Unterschied
zu Brecht auf den individuellen Akt des Bewusstwerdens der
Wahrnehmung zielt. Bewusstwerdung und Erspüren der künstlerischen
Mittel und Verfremdung führen zu dem Effekt des "Sehens-wie-zum-ersten-Mal",
was eigentlicher Sinn und Zweck dieses Verfahrens ist. Um
an die eingangs schon zitierte Definition des russischen Formalisten
Sklovskij zu erinnern, die dieser eng an Tolstoi formuliert
hat: Um die Wahrnehmung des Lebens wieder herzustellen, die
Dinge wieder fühlbar zu machen, nutzt die Kunst das Verfahren
der Verfremdung: Die "Verfremdung der Dinge und Komplizierung
der Dinge, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer
zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess
ein Ziel in sich und muss verlängert werden."
Der Verfremdungszauber in Dogville wäre unvollständig beschrieben,
wenn wir nicht genau gewahr würden, was wir zu sehen bekommen,
und wie wir es zu sehen bekommen. Dafür müssen wir uns des
zweiten wichtigen Bausteins dieser ästhetischen Architektur
des Films betrachten, nämlich der Handkamera, die schon zum
Markenzeichen der Filme Lars von Triers und der Dogma-Filmer
geworden ist; es ist ein schönes, weil wahres, aber etwas
beschwerliches Paradox, dass ein Film und eine ästhetische
Richtung, die sich all des technischen Ballastes entledigt
hat, um direkt zum erzählerischen Kern vorzudringen, uns in
der Beschreibung dazu zwingt, sich erst über dessen filmische
Mittel zu vergewissern, um zum erzählerischen Kern vordringen
zu können - wobei es hingegen bei dem technisch ungleich aufwendigeren
Hollywood-Kino genügt, einfach nur den Inhalt zu referieren,
weil all diese filmischen Mittel für den Erfahrungsinhalt
der Geschichte vollkommen belanglos und ohne jede Bedeutung
sind.
Die Handkamera ist das Kunstmittel, das am meisten in der
Dogma-Debatte die Gemüter erregt, und man kann schon sagen,
dass es der eigentliche skandalträchtige Kunstgriff ist. Es
ist eines der Merkwürdigkeiten der Dogma-Debatte hierzulande,
dass über das "Gewackel" der Handkamera mehr geschrieben wird,
als über das, was man durch sie zu sehen bekommt, und das
mag an dem selbst schon ziemlich verwackelten, nämlich unscharfen
Authentizitätsbegriff liegen, der mit der Handkamera verbunden
ist, nämlich der ständigen Vermischung zwischen einer journalistischen
Authentizitätsvorstellung (Übereinstimmung mit der Wirklichkeit)
und einer künstlerischen Auffassung von Authentizität (Übereinstimung
von Inhalt und Form). Nun trifft man diese Vermischung von
Künstlerischen und Dokumentarischem eben in Hollywood-Spielfilmen
und amerikanischen Fernsehserien oft selbst an, wenn nämlich
die Handkamera als eine Konvention des Dokumentarfilms eingesetzt
wird, so etwa in Soderberghs TRAFFIC, oder in der Fernsehserie
"24", um den Eindruck von Unmittelbarkeit entstehen zu lassen.
Aber die Verwendung der Handkamera im Hollywood-Kino hat mit
der künstlerischen Anwendung der Handkamera Lars von Triers
nicht das Geringste zu schaffen. Wenn Seeßlen Lars von Trier
"Fake-Dokumentarismus" vorwirft, dann befindet er sich genau
auf nämlichem Dampfer, nämlich dem Hollywood-Film-Dampfer,
in dem die Handkamera nur ein weiteres in dem Dienst des Plots
versklavtes filmisches Mittel ist, die Tatsache zu vernebeln,
dass wir einen Film sehen, und dadurch die Illusion der Unmittelbarkeit
um ein weiteres zu verstärken. Dass Seeßlen im gleichen Dogma-Brandartikel
auf der anderen Seite Lars von Trier Verachtung und seelische
Entblößung vorwirft, womit ja unterstellt ist, dass die Handkamera
etwas zeigt, was offensichtlich nicht "Fake" ist, zeigt wiederum,
dass Seeßlen Lars von Trier von beiden Authentizitätslagern
aus angreifen möchte, was aber selbst für einen Begriffs-Virtuosen
wie Seeßlen ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Bei Lars von Trier hingegen führt die Handkamera zu dem genau
entgegensetzten Effekt, nämlich nicht zu der illusionären
Erzeugung der Unmittelbarkeit, sondern zunächst zu dem Bewusstwerden
des Vermittelten, und damit zur Wiedergewinnung des filmischen
Wahrnehmungsorgans. Man hat von der Handkamera als Nachahmung
des kindlichen Blicks gesprochen, aber dieser Effekt kommt
nicht aus der Nachahmung, sondern im Gegenteil, aus dem surrealen
Un-Naturalismus dieser Bewegungen. Auch Kinder sehen die Welt
nicht wie durch eine Handkamera, auch ihnen ist schon die
Vorrichtung von Mutter Natur mitgegeben, die dafür sorgt,
dass die mit dem Sehen gekoppelten Auf- und Abbewegungen des
Kopfes aus der Wahrnehmung ausgeblendet bleiben. Es ist das
Ungewohnte der Handkamera, dass diese Schutzvorrichtung unterbrochen
wird, wodurch erst das Neue, das Bewusstwerden der Wahrnehmung
sich wieder einstellt, und wir durch die Welt gucken, als
sähen wir sie zum ersten Mal.
Die Welt von DOGVILLE ist eine doppelt verfremdete Welt,
verfremdet durch die Art, wie sie erscheint, und durch die
Weise, wie wir in sie hineinschauen. Diese doppelte Verfremdung
sorgt dafür, dass wir in der Tat die Welt so erblicken, als
sähen wir sie zum ersten Mal. Es ist, als würden wir uns durch
einen hermetisch geschlossenen ästhetischen Raum bewegen,
mit ganz eigenen Gesetzen und eigenem Zeiterleben. Weil das
Erleben, einen Kindesblick auf eine fremdartige Welt werfen
zu lassen, mit erwachsenen Begriffen so schwer zu fassen ist
(der dafür ansonsten verwendete Begriff der Transzendenz erscheint
abgenutzt, und daher für unseren Verstehensprozess wie ein
Placebo-Begriff), könnte man die Art und Weise, wie wir ästhetisch
durch den Raum geführt werden, vielleicht nicht mit einem
Schiff, aber mit einem Raumschiff vergleichen, aus dem wir
die Welt in noch nie gesehener Art zu sehen bekommen. Denn
wie in einem Raumschiff rasen wir durch eine fremdartige Welt
im Innern dieser Kathedrale, und schauen in die Welt mit einem
dem normalen Sehen enthobenen Blick (der Raum ist der ästhetische
Raum, das Raumschiff ist der Kinosaal, und die Handkamera-Luke
zeigt uns die Auf- und Abbewegungen des Raumschiffes an).
Dieser doppelte Effekt der Verfremdung des Innen wie des Außen
führt uns in der Tat in eine anthropologische Situation zurück,
in der wir uns die Welt sehend erschließen mussten.
Indem der Film seine "technischen" Mittel nicht verschleiert
(also das Raumschiff ruckeln und zuckeln lässt), sehen wir
aus dem Raumschiff nicht nur was wir sehen, sondern wir erleben
uns in dem, was wir sehen, mit. Was die Handkamera also dokumentiert,
ist das spontane Spiel der Schauspieler, und die dem Film
eigene Bewegung und Betrachtung, wodurch das Gemachte sichtbar
bleibt. Hierdurch erst erleben wir uns als Wahrnehmende, und
als Wahrnehmende sind wir mit "drin" in den Bildern, genauer:
"mit drin" im Film. Sogar den im Hollywood-Kino unsichtbar
gewordenen Schnitt sehen wir wieder, wenn etwa in vielen Einstellungen
das Bild nach vorne springt (der Schauspieler ganz woanders
steht, als er vorher stand, während die Tonspur aber Kontinuität
suggeriert). Vielleicht wäre es besser zu sagen, ohne weitere
Begründung, der Stein wird uns steinig gemacht, und wir spüren
den Schnitt wieder, wie man seine Hände erst wieder spürt,
wenn sie etwas zu ertasten bekommen. Gerade indem der Film
sich nicht unsichtbar macht, erwächst er uns wieder zu unserem
eigenen Wahrnehmungsorgan.
Auch in Tarantino Kino sitzen wir in einer fremdartigen,
ebenfalls ästhetisch geschlossenen Welt, aber es ist wie in
einem Raumschiffsimulator, in dem wir uns darüber zu freuen
haben, dass alle Knöpfe so herrlich blinken, dass alle Bilder,
die man zu sehen bekommt, nur simuliert sind, dass wir Filme
sehen, die doch nur Filme sind, und daher wir von diesen Bildern
von vornherein ausgeschlossen sind, weil wir die Bilder, die
wir sehen, alle schon von früheren Raumschiff-Erlebnissen
her kennen, und sie daher aus einer ganz anderen Zeit zu stammen
scheinen. Wer würde dem gegenüber aber das richtige Raumschiff-Abenteuer
nicht vorziehen?
Wie aber kommt es nun zu dem seltsamen und wunderbaren Effekt,
auf den im Grunde alles ankommt, und auf den auch alles Weitere
beruht, und ohne den all das nichts wäre: nämlich dass das
Bewusstsein einen Film zu sehen, eben nicht wie im postmodernen
Kino zur Abwertung der Authentizität der Bilder führt (das
Blut ist ja kein richtiges Blut, die-und-die Einstellung ist
ja nur aus dem-und-dem Film), sondern im genauen Gegenteil,
die Wahrhaftigkeit der Bilder erst steigern macht?
Der Grund liegt nicht allein darin, dass wir uns als Wahrnehmende
wieder entdecken und erspüren, sondern in dem, was wir durch
die Raumschiffluke wahrzunehmen bekommen, und zwar so, dass
wir es auch für wahr nehmen können. Wenn wir noch mal die
Kubrick-Fackel hochhalten und gucken, was wir eigentlich von
der Geschichte zu sehen bekommen, was wir ohne den Film nicht
zu sehen bekämen, fällt die Antwort sowohl technisch, wie
auch naiv aus: was wir zu sehen bekommen, sind Gesichter in
einer unendlichen Fülle von Halb- und Großaufnahmen.
Wenn wir eben sagten, dass das Gewackel der Handkamera in
der elendigen Authentizitätsdebatte mehr Interesse findet,
als das, was wir durch die Handkamera zu sehen bekommen, war
das in der Formulierung weniger die Aufdeckung, als vielmehr
die Vertuschung eines Skandals. Über das Eigentliche wird
tatsächlich nicht gesprochen, und falls doch mal, wird die
Fülle an Großaufnahmen mit der technischen Eigenschaft der
Handkamera "erklärt", weil, so die gewitzte Begründung, "eine
Handkamera sich kaum für die Halbtotale und Totale eigne"
(Sudermann, "Dogma 95"). Diese Erklärung ist fast so wunderschön
wie die eines Literaturwissenschaftlers, der sich den Kunstgriff
von Fontane, Briefstellen in seinem Roman einzumontieren,
mit der zur Fontanes Zeit sprunghaft angestiegenen Briefkästen
in Berlin zu erklären suchte. Vielleicht bedürfen, wem die
geheime Folgerichtigkeit künstlerischer Prozesse eher fremd
sind, solcher "natürlichen" Erklärungen. Aber diese Erklärungen
erklären überhaupt nichts, sie verstellen nur den Blick darauf,
worauf es dem jeweiligen Kunstwerk ankommt, und was es in
seiner Gesamtheit ausmacht.
Natürlich ist die Grossaufnahme auch in DOGVILLE nicht die
billigende Inkaufnahme des Zwangs eines technischen Aufnahmegerätes
(was wohl nur Amateuren oder den Hollywood-Spektakel -Filmer
vom Schlage Cecil DeMilles passieren würde, aber doch wohl
kaum den Dogma-Filmern, deren Absicht der freiwilligen Beschränkung
es ja ist, sich aus den technischen Zwängen des Filmemachens
zu befreien), sondern deren eigentliches und gewolltes und
wichtigstes Ausdrucksmittel. Die Groß- und Halbaufnahmen,
die wir durch die Handkamera zu sehen bekommen, sind die filmische
Sonde, mit wir in das Innere der Geschichte von DOGVILLE zu
sehen bekommen, es ist das Filmische, durch das wir einen
ganz speziellen und nur diesem Medium zugeneigten Einblick
in das Innere der Bewohner von Dogville und das seiner Hauptfigur
Grace bekommen.
Von Beginn an sind es nicht die äußeren, sondern inneren
Spannungsmomente, mit denen wir in den Bann gezogen werden:
es sind ja zunächst wundersame Augenblicke, betrachtet durch
unsere Raumschiffluke, wenn wir den Gesichtern der Bewohner
von Dogville schüchtern die Lebensgeister erwachen zu sehen,
wenn diese sich gerührt und ungläubig aus ihrem zweckbehafteten
Dasein wie aus einem tiefen Winterschlaf erheben, und auf
Graces Anerbieten, ihnen zu helfen, erst verwundert antworten,
es gäbe eigentlich nichts zu tun, aber ihnen dann vorsichtig
doch Dinge einzufallen beginnen, die es zu tun gibt, die ihr
Leben mit ein wenig Sinn und Schönheit erhellen können: bei
Ma Ginger, die sich von Grace das Beet vom Unkraut befreien
lässt; bei der gebildeten Vera, der Mutter der sieben Kinder
und Frau des proletarischen Apfelbauern, die zu dem Vortrag
eines Professors fährt, während Grace auf ihre sieben Kinder
aufpasst; und schließlich dem blinden Jack Machay (gespielt
von dem großartigen Ben Gazarra, berühmt durch seine Rollen
bei Cassavetes), der glaubt, seine Blindheit vor anderen verbergen
zu können, und es sich gefallen lässt, das Grace zur Zuhörerin
seiner Apologien auf die Schönheit des Lichtes wird.
Bevor wir uns aber sagen könnten, was es ist, was wir von
der Geschichte von DOGVILLE zu sehen bekommen, und weil es
unser Interesse ist, über Dogville auch ein Verständnis für
das Medium des Films zu gewinnen, könnten wir noch mal innehalten
und uns grundsätzlich fragen, welchen Stellenwert die Großaufnahme
in der Filmsprache einnimmt, um damit auch besser herausfinden
zu können, welche Ansicht der Geschichte in DOGVILLE es ist,
die wir durch die Großaufnahme zu sehen bekommen. Was sehen
wir nun in den Groß- und Halbaufnahmen in Dogville?
Betreiben wir kurz Grundlagenforschung, legen das Dogma-Manifest
beiseite, und schlagen wir bei einem anderem Fremdenführer
nach, bei Bela Balázs, einen der bedeutendsten Erkunder und
Geburtshelfer des Films als neue Kunstform, dessen beide in
den 20er und 30er Jahren geschriebene Bücher "Der sichtbare
Mensch" und "Der Geist des Films" Schatztruhen sind, die heute
noch unschätzbare Kleinode bereithalten, die uns zum Verstehen
bringen, worin die Natur des filmischen Erlebens liegt; die
Begeisterungsfähigkeit und die gedanklichen Einsichten von
Balázs sind heute noch frappierend, und übersteigen das meiste,
was wir ansonsten über Kunst und Film lesen können.
Die Großaufnahme war für Balázs neben der Ent-Arritierung
und der Montage das filmische Mittel, mit dem das Medium des
Films eigentliches Neuland in den Künsten betrat, und in dem
sich das Gefühl fokussiert, weswegen Balázs die Großaufnahme
die "Lyrik" des Films nannte. Die Besonderheit der Großaufnahme
liegt, folgen wir Balázs, darin, dass in der Großaufnahme
die Gesichter vom Raum isoliert werden können (im Unterschied
zum Theater), und in der Großaufnahme nicht nur Gefühle darstellbar
sind, sondern auch Gefühlsentwicklungen (im Unterschied zur
Porträtmalerei). Aber über diese Eigenschaften hinaus liegt
das Besondere dieses filmischen Gestaltungsmittel darin, dass
es die von allen anderen Künsten sich unterscheidende Fähigkeit
besitzt, die Ambivalenz von Gefühlen gleichzeitig darzustellen.
Während etwa in der Sprache die Verschiedenheit der sich widersprechenden
Gefühle erst im Nacheinander möglich ist, ist das Beieinander
von Gut und Böse, Güte und Verschlagenheit, Schläue und Naivität
(Balázs sprach von einer Polyphonie des Gesichtsausdrucks)
in einem einzigen Moment gleichzeitig möglich, wobei das nicht
bedeutet, dass die Gefühle gleichzeitig abgebildet werden,
aber dass sie auch in dem Wandel der Gefühle gleichzeitig
"erklingen", wie in der Musik einzelne Töne zusammen einen
Akkord ergeben. Balázs fand für diese Gefühlsdarstellung entsprechend
den schönen Ausdruck des "Gefühlsakkords". Mit diesem Mittel
der Großaufnahme, die Gefühle der Menschen erfassen und abbilden
zu können, unterscheidet sich der Film grundlegend zu den
anderen Künsten.
Es ist ein interessanter Zufall (aber vermutlich ist das
auch wieder kein Zufall), dass Balázs in seinem Buch "Der
Geist des Films" in seiner Beschreibung der Großaufnahme auf
den Film "Die Jungfrau von Orléans" von Carl Theodor Dreyer
zu sprechen kommt; Carl Theodor von Dreyer, zugleich eines
von Lars von Triers großen Vorbildern, dessen Drehbuch "Medea"
er sogar selbst verfilmt hat. "Johanna von Orléans" besteht
nur aus der Montage von Großaufnahmen, in dem kein Raum vorhanden
ist, der Raum auch nicht gegenwärtig ist, "wozu auch", fragt
Balázs. "Hier wird nicht geritten und geboxt. Diese tobenden
Leidenschaften, Gedanken, Überzeugungen prallen nicht im Raum
aufeinander. Und doch ist dieses gefährliche Duell, in dem
sich nicht Klingen, sondern Blicke kreuzen, von atemberaubender
Spannung, zwei Stunden lang. Denn wir sehen jeden Angriff
und jede Parade, jede Finte, jeden Stoß des Geistes, und wir
sehen jede Wunde, die die Seele bekommt. Dieser Film spielt
sich in einer anderen Dimension ab, als die Cowboy und die
Alpenfilme. Das macht die Nähe der Kamera möglich."
Balázs sah die Bedeutung der Großaufnahme nicht als ein Mittel
unter vielen, sondern als den eigentlichen Schauplatz der
filmischen Handlung, und den Nachweis dieser Behauptung fand
Balázs bei einem Film, den ich ebenfalls anführen will, weil
er uns das Verhältnis von äußerer Handlung und dem inneren
Geschehen für den Film DOGVILLE veranschaulichen kann. In
dem Beispiel geht es um einen französischen Film ohne Titelangabe
mit folgender Versuchsanordnung: Einer Mutter, die am Sterbebett
ihres Kindes sitzt, tritt der Tod ins Zimmer, und unterbreitet
ihr den Handel, sich das vorherstimmte Leben ihres Kindes
anzusehen, und falls sie danach immer noch wolle, dass ihr
Kind leben solle, so würde dies geschehen. Der Kunstgriff
besteht nun darin, dass während diese Abenteuer passieren,
das Gesicht der Mutter die gesamte Zeit eingeblendet bleibt,
obwohl sie im Drama selbst gar nicht mitspielt. "Wir sehen",
schreibt Balazc, "anderthalb Stunden lang dem Spiel eines
Gesichtes zu, in dem Hoffnung, Angst, Freude, Rührung, Trauer,
Mut, weißglühender Glaube und schwarze Verzweiflung flackern.
Auf diesem Gesicht spielt sich das eigentliche Drama ab, der
wesentliche Inhalt des Films. Die "Geschichte" gab nur den
Anlass dazu. Und das Publikum, ein ganz primitives Publikum,
wurde nicht müde, anderthalb Stunden lang diesem Mienenspiel
zuzuschauen." Und er fügt hinzu: "Die Gaumont-Gesellschaft
(die Produktionsgesellschaft) wusste, warum sie Suzanne Despres
für diese Rolle die große Gage zahlte. Denn das Publikum und
die Filmgeschäftsleute haben es schon heraus, was unsere Ästheten
und Literaten noch nicht bemerkt haben, daß es im Film nicht
auf das Epische, sondern auf das Lyrische ankommt (Hervorh.
von Balázs)."
Es scheint, als wüssten wir nun auch schlaglichtartig, warum
Lars von Trier Nicole Kidman und all die anderen wunderbaren
Schauspieler brauchte, aber das erscheint ja angesichts der
Zeitspanne und der filmischen Entwicklungen von den 20er Jahren
bis heute zunächst etwas seltsam. Balázs ging vom Stummfilm
aus, in dem der Film wegen seiner "Armut", also etwa ohne
Ton auskommen zu müssen, auch auf den visuellen Ausdruck viel
stärker angewiesen war, als später im Tonfilm. Im Hollywood-Film,
wie er uns heute vor Augen tritt, steht die Großaufnahme wie
ein bekanntes Möbelstück herum, das wir wie in einem uns bekannten
Zimmer gewöhnlich in unserer Wahrnehmung blind umgehen: d.h.
wir sehen sie nicht, wie wir ja auch den Film nicht mehr sehen.
Funktionell steht sie im Sklaven-Dienst der Story-Bebilderung,
ein kurzer Unterbrechungsmoment der Handlung, ein kurzes Innehalten,
bis die Handlung dann weiterläuft. Um mit den Worten Balázs
zu sprechen: Im heutigen Hollywoodfilm hat das Epische über
das Lyrische gesiegt. Aber auch Balázs konnte, da er vom gewöhnlichen
Stummfilm und dem frühen Tonfilm ausgehen musste, der Großaufnahme,
so sehr er diese auch als das eigentliche neue Gebiet des
Films schätzte, nicht mehr als ein "Betonungsmoment" zusprechen.
Das Interessante ist nun, dass Balázs die Entdeckung, dass
es dem Film nicht auf das Epische, sondern allein auf das
Lyrische ankommt, bei einem Film machte, bei dem ungewöhnlicherweise
ein Gesicht in Großaufnahme zu sehen war, und damit das Lyrische
den epischen Rahmen komplett ausfüllt. Balázs machte hier
eine Entdeckung über eine Möglichkeit des Films, die erst
später, bei John Cassavates und eben bei Lars von Trier offen
zu Tage tritt: Nämlich die Möglichkeit, auf den Vorwand einer
Story verzichten zu können, lediglich einer Grundsituation
zu folgen, und das Lyrische - das Gefühl und das Innenleben
der Figuren - durch glaubwürdiges Schauspielern in einer glaubwürdigen
Situation - in den alleinigen Mittelpunkt zu stellen. Die
künstlerische Verwendung der Handkamera, wie Cassavetes sie
als einer der ersten verwendet hat, rehabilitiert nicht nur
die Großaufnahme wieder als Schauplatz des (filmischen) Geschehens,
sondern kehrt das Verhältnis vom Epischen und Lyrischen zugunsten
des Lyrischen wieder um. Es braucht wie zu Balázs´ Zeiten
keine Fabel mehr als bloßen, banalen Vorwand, die Geschichte
selbst braucht nur eine Ausgangssituation, weil die Großaufnahme
nicht mehr wie im Stummfilm nur ein "Betonungsmoment" ist,
sondern geradezu unablässig die Zeit und Raum des Films ausfüllt.
Wie in seinem Meisterwerk "A Woman under Influence": Das Epische
- Eine Frau kommt aus der Psychiatrie und wird von ihrem Mann,
ihrer Familien und Freunde empfangen - genügt, um zwei Stunden
die Gefühle aller Beteiligten in den Gesichtern der Schauspieler
zu beobachten. Das Meiste, was wir davon zu sehen bekommen,
ist unaussprechlich.
Nun wird auch deutlich, was der Begriff der Versuchsanordnung
meinen könnte: Die Geschichte von Dogville ist nicht der Vorwand
zur Hervorbringung von Großaufnahmen (lyrischer Momente),
er ist vielmehr die Staffelei, die eine Vielzahl von Gefühlsdarstellungen
trägt. Die Wandlungsbreite der Bewohner von DOGVILLE, die
sich, ohne dem Einhalt bieten zu können, zum Bösen wandeln,
ist spiegelbildlich so groß, wie die Wandlung von Grace von
einer jungen, gütigen Frau mit ihrem Glauben an das Gute im
Menschen zu einer rächenden Frau. Die Handlungsumschwünge
repräsentieren nicht das Innere der Figuren (was, wir erinnern
uns aus dem Manifest, "no high art" ist), sondern sollen diese
vielmehr zum Vorschein bringen. Das Anerbieten von Grace lässt
den Bewohnern von Dogville ihr Böses hervortreten, und die
fortführende Spirale der Demütigungen bringt bei Grace Gefühle
bis hin zur Rachsucht hervor. Es spricht für Lars von Triers
Anspruch auf Wahrhaftigkeit vor seinem eigenem Medium, dass
er das latent Sadistische und Fragwürdige der Versuchsanordnung
durch die Figur des Möchtegernschriftstellers und Moralphilosophen
selbst in den Film hineinnimmt und dadurch mit sichtbar werden
lässt.
Wenn Balázs Recht hat, dass das Mienenspiel in der Großaufnahme
besonders geeignet ist, die Natur des Menschen in seinen widersprüchlichen
Gefühle einzufangen (und spätestens seit DOGVILLE zweifeln
wir nicht an der Richtigkeit dieser Behauptung), dann erscheint
die Versuchsanordnung von DOGVILLE, die darauf zielt, das
Nebeneinander von Gut und Böse, von Güte und Tücke, von Erbarmen
und Erbarmungslosigkeit hervorzuholen, als dem Medium des
Films vollkommen adäquat, weil der Film die hierdurch hervorgerufene
Gefühlsambivalenz von Gut und Böse in besonders prägnanter
Weise zum Ausdruck bringen kann. Verallgemeinert würde dies
bedeuten, dass das Medium des Films nach einem solchen Inhalt
verlangt. Erinnern wir uns kurz noch mal an das hilflose Spiel
der Schauspielerin Uma Thurman in KILL BILL. Begreifen wir,
was in der Großaufnahme passiert, als den eigentlichen Inhalt
des Films, findet unsere anfängliche Mutmaßung, dass Tarantinos
Film keinen Inhalt hat, und Dogville wohl, hierin seine Bestätigung.
Auch KILL BILL hat eine Fülle von Großaufnahmen; KILL BILL
beginnt ja sogar mit einer Großaufnahme. Aber Tarantino genügt
sich mit dem Instrument als solchem. In seinem Kino, in dem
jede Ambivalenz herausgefiltert ist, gleichen seine aufwendig
arrangierten Großaufnahmen - um an Balázs großartigen und
feinfühligem Wort des "Gefühlsakkords" anzuknüpfen - pompösen
glitzernden, auf der Bühne gestellten Klavieren, in denen
nichts herauskommt, weil auch nichts hineingeben wird. Das
heißt: Wir hören schon mal einen einzelnen Ton, Wut etwa,
oder Trauer, aber ein Ton, auch wenn er mit der Faust auf
den Tasten herausgepresst wird, ergibt noch keine Melodie.
In Lars von Triers Film ist die Ambivalenz bis zu keiner Steigerung
mehr fähig, und so genügt schon die flüchtigste Aufnahme der
mal unruhigen, dann verweilenden, dann wieder herumreißenden
Kamera, um ein ganzes vielstimmiges Orchester an Empfindungen
in uns zum Erklingen zu bringen.
Und so beginnen wir immer tiefer in diesem Raumschiff in
den Gefühlsraum der Figuren hineinzutauchen, und sehen durch
die Handkamera-Luke zu, wie das Böse aus den guten Menschen
von Dogville kriecht. Derselbe Lebensüberschuss, den Grace
geweckt hat, und der vorher die Freundlichkeit und der Sinn
des Schönen hervorgebracht hat, bringt nun das Andere, das
Böse hervor: neben der Kinderliebe und dem Sinn für Bildung
tritt der unverhohlene Sadismus Veras zu Tage; hinter dem
Sinn für das schöne Licht des Blinden die unverhohlene Geilheit;
neben dem tumben und naiven Lebensverständnis des Dorftrottels
die Skrupellosigkeit eines erfahrenen Betrügers, und schließlich
neben den Mut des Liebhaber und Moralprediger die Feigheit
und den Kleinmut des Verräters. Am stärksten hat Trier das
Nebeneinander des Guten, Unschuldigen und des Dunklen und
Triebhaften in der Figur des Kindes Jasons vorgeführt, der
sich als ausgereifter Masochist entpuppt, und Grace dazu zwingt,
ihm Schläge zu geben, ansonsten würde er erzählen, dass sie
ihn geschlagen hätte. In der Figur des Jason, dem erst freundlichen
Kind, und dem Offenbarwerden seiner masochistischen Triebe,
zeigt von Trier den Abgrund von Dogville auf, noch bevor Grace
von Jasons Vater vergewaltigt, und noch bevor dessen Mutter,
die sanfte Vera, Grace mit höchsten Sadismus gequält hat.
Allein diese Nebenfigur ist etwas völlig Neues, noch nie Gesehenes
im Kino.
Mit der Zeit erweist sich der Umstand, dass da keine wirklichen
Häuser, keine wirklichen Türen sind, als eine direkt folgerichtige
Konsequenz der durch die Handkamera gesehenen Großaufnahmen,
und der damit verbundenen Absicht, ausschließlich nur dieses
innere Geschehen abzufilmen. Der eben von uns gescholtene
Sudmann hat in seinem Buch die richtige Beobachtung gemacht,
dass die Vielzahl von Großaufnahmen auch in dem Film "Das
Fest" zu einem "Schwinden der Bedeutung von Dekor und Requisite"
führt. Aber auf magische Weise verläuft der Effekt auch in
die umgekehrte Richtung: Desto mehr wir den Menschen ihre
Gefühle in ihrem verschatteten Dasein glauben (die wir ja
auch nicht sehen, sondern wir sehen nur den Gefühlsausdruck
auf ihrem Gesicht), desto mehr glauben wir ihnen auch die
Türen, die wir nur hören und die Mauern, die wir nicht sehen.
Da für die Menschen von Dogville all das existiert, beginnen
diese Dinge auch für uns Realität anzunehmen. Diese innere
Realität wächst aus den Figuren so stark heraus, dass sie
sich auf die äußere Realität mit überträgt und sie überstrahlt
(auch der Erzähler dient dazu, überflüssige "erklärende" Handlungen
zu vermeiden, und die Aufmerksamkeit ganz auf das innere Geschehen
zu lenken). Hier zeigt sich auch, wie richtig es ist, vom
kindlichen Blick zu sprechen: wie Kinder nicht zuerst die
Umgebung wahrnehmen, sondern die Gesichter, und Dinge isoliert
betrachten, so verharrt auch die Kamera auf den Gesichtern,
darauf erpicht, die leiseste sichtbare Gefühlsregung aufzunehmen.
Dass der Verlust des Raums auch zum Verlust des Zeitgefühls
führt, ist eine der scheinbar technischen, in Wahrheit aber
metaphysischen Gründe, warum, wie einige Kritiker verwundernd
bemerkten, der Film trotz seiner Länge von drei Stunden nicht
eine Sekunde zu lang erscheint. Die Wahrheit ist: er wäre
auch länger nicht zu lang erschienen.
Den eigentlichen Inhalt des Films, die eigentliche und wahre
Tragödie von DOGVILLE, die wir durch das Medium des Films
zu sehen bekommen (und wir ohne das die "filmische" Großaufnahme
sonst nicht zu sehen bekämen) bekommen wir allerdings erst
in der Figur Grace zu Gesicht, die von Nicole Kidman in der
bis dahin größten Rolle ihres Lebens gespielt wird. Das Drama,
dem wir in Dogville ansichtig werden, ist ihr Drama. Ihr Erstaunen,
der Schatten des Zweifels, die Wiedererlangung der Hoffnung,
und der Anflug von Zweifeln, bis hin zur völligen Resignation
ist das, was wir von ihrer Tragödie zu sehen bekommen.
Das am meisten Befremdliche an Grace ist, wie schon bei den
Frauenfiguren in Lars von Triers vorherigen Filmen, ihre übermenschliche
Duldsamkeit gegenüber ihren Peinigern, trotz Vergewaltigungen
und Quälereien, was schon bei den vorherigen Filmen zur Kritik
an dem vorgeblichen Frauenverständnis von Lars von Triers
eingeladen hat. Aber natürlich ist Grace nicht die Verkörperung
einer jungen "Power-Frau", wie etwa in der griechischen Tragödie
oder eben auch in Tarantinos "Die Braut", die den Kampf gegen
die bösen Mächte der Gesellschaft zu bestehen hat, und schon
damit zur wohlfeilen Identifikation einlädt. Wie schon der
ironisch gebrochene Märchenhafte des Erzähltons verrät, ist
Grace überhaupt nicht die Verkörperung einer erwachsenen,
modernen Frau; in Wahrheit ist sie die poetische Verkörperung
unserer eigenen kindlichen, von Kränkungen erfüllten Seele.
Denn mindestens ja so befremdlich wie Graces Duldsamkeit
gegenüber ihren Peinigern ist ja unsere eigene Duldsamkeit
gegenüber der von Grace. Wenn wir uns fragen, woher diese
unsere Duldsamkeit rührt, dann werden wir feststellen, dass
die Lage, in die Grace geworfen ist, nicht die Lage einer
jungen Frau ist, sondern vielmehr der Lage von Kindern entspricht.
Jedes Kind wird in die Welt geworfen, und harrt in dem Glauben,
dass die, denen es auf Gedeih und Verderben ausgeliefert ist,
es gut mit ihnen meinen. Wenn Grace die Porzellanfiguren schön
findet, die ihr vorheriger Sinn fürs Erwachsensein abgelehnt
hätte, dann ist das ihr Versuch, die Welt, der sie ausgeliefert
ist, sich einzuverleiben und schön zu finden.
Lars von Trier setzt uns also nicht nur ästhetisch und formal
einem anthropologischen Eiland aus, wo wir die Welt wie-zum-ersten-Mal
durch die Augen eines Kindes betrachten können, sondern er
gibt uns auch die dazugehörige Welt: nicht idealisiert als
ein riesiges, buntes Spielzimmer, in dem nichts eine Bedeutung
hat und daher auch gar nichts passieren kann, so wie es sich
der infantile Erwachsenenverstand zusammenträumt, sondern
eine Welt voller Ambivalenzen, einen Ort untergründiger Strömungen,
voll von Verletzungen und Kränkungen. Er erinnert uns daran,
dass wir unsere Kindheit nicht nur im Kino, sondern auch noch
in der wirklichen Welt verbracht haben.
In Grace sehen wir nun die ganze Tragödie, und was wir in
ihr und durch sie erleben, ist nicht die Tragödie der Verletzungen
und Kränkungen, diese sind nur dramaturgische Mittel zum Zweck.
Die Tragödie, die wir in DOGVILLE durch sie zu sehen bekommen,
ist vielmehr die Zerstörung eines Glaubens, nämlich des kindlichen
Glaubens des Aufgehobenseins und des Guten der Menschen, von
denen wir abhängig sind. In ihrem Mienenspiel erleben wir
den Kampf um den Erhalt dieses inneren Glaubens: Wenn sie
voller Bewunderung die Porzellanfiguren streichelt (zu deren
Zerstörung sie später von Vera gezwungen wird); wenn Schatten
ersten Zweifels sie befallen, wenn der Apfelbauer seine ersten
körperlichen Begehrlichkeiten an sie richtet, und diese Schatten
wiederum von einer tiefen Ruhe verdängt werden, wenn Tom sie
zu beruhigen versteht - es ist immer das plötzliche Verschwinden
von Hoffnung und dunklem Entsetzen, wenn die Schraube der
Versuchsanordnung weiter gedreht wird, und eine neue, weitere
Stufe des Bösen sichtbar geworden ist. Ihr immer wieder Zurückwollen
in den Glauben an das Gute in ihren Peinigern - das ist die
verzweifelte Duldung von Kindern, ihr Klammern an der Hoffnung,
dass diejenigen, die Böses tun, nicht wirklich böse sind.
Der Kampf um dieses Glauben, und die allmähliche Zerstörung
dieses Glaubens ist der eigentliche Inhalt des Films DOGVILLE,
es ist das, was wir von der Geschichte zu sehen bekommen,
und den wir ohne genuinen Mitteln des Films - der Großaufnahme
- nicht zu sehen bekommen würden.
Wenn wir Grace sehen, wie sie erst von den Bewohner von DOGVILLE
als Geschenk angenommen wird, wie sie alsdann aber lernen
muss, dass deren Zuwendung nicht umsonst zu haben ist, und
wenn sie dann wieder Hoffnung zu schöpfen beginnt, erleben
wir die rührende Momente des Kampfes um ihren Glauben.
Den Werdegang ins Unvermeidliche haben wir in "Breaking the
Waves" und "Dancer in the Dark" gesehen. Die Kinderseelen
mit ihrem Kinderglauben an das Gute im Menschen müssen sterben,
damit wir erwachsen werden können, und wofür wir die gekränkten
Kinderseelen den verführerischen Mächten der Verdrängung ausliefern
müssen. Der Umschwung im dritten Akt, als der Gangster sich
als Vater von Grace herausstellt (er ist weniger der biologische
Vater, als vielmehr der Gott der Tragödie, die diabolische
Verkörperung der poetischen Gerechtigkeit), und die Machtverhältnisse
sich plötzlich ins Gegenteil verkehren, ist daher nicht so
sehr die Rettung, sondern vielmehr ein weiterer, letzter Anschlag
auf ihren Glauben. Grace kann sich rächen, aber dafür muss
sie ihren Glauben opfern. Der moraltheologische Disput des
Gangster-Vaters, (nicht weniger genial von James Caan verkörpert)
zwingt Grace, sich entweder für das eine, oder für das andere
zu entscheiden.
An dieser Stelle erhebt sich nun das größte Tabu, das jedem
Rachegelüst entgegensteht, und das unseres Wissens nach noch
kein vorheriger Rachefilm in seinem Kosmos aufgenommen hat.
Jeder Rachefilm basiert auf einem moralisch gerechten und
eindeutigen Empfinden, dass die, an denen sich gerächt wird,
die Rache auch verdient haben. Auch KILL BILL hat, wie wir
jetzt im Kino sehen konnten, trotz der sympathischen Zügen
des bösen Bill, diese beruhigende Gewissheit. Aber im richtigen
Leben, wie Grace in DOGVILLE, sind wir mit der Tatsache konfrontiert,
dass zwar Menschen Böses tun, aber nicht das Böse meinen.
Jedes Kind ist auf dem langen Weg ins Erwachsenenwerden gezwungen,
seinen Wohltätern, die immer zugleich auch seine Peiniger
sind, verzeihen zu müssen, weil sie es letztlich nicht so
gemeint haben (um dann die Rachegelüsten im Hollywood-Kino
auszuleben, wo die, die Böses tun, auch dankenswerterweise
in der Fratze böser Teufel herumlaufen).
Das Un-Bewusstsein ihrer bösen Taten trifft auch auf die
Menschen von Dogville zu. Das Böse geschieht sozusagen hinter
ihren Rücken, und wenn es heraus und da ist, übersteigt es
ihren moralischen Horizont. Am deutlichsten und am stärksten
tritt das Böse - das Böses tut, aber nicht Böses meint - in
der Szene zutage, als Grace versucht zu fliehen und der vermeintliche
Fluchthelfer Ben als weitere Bezahlung für seine Dienste sich
im Planwagen über sie wälzt. Wenn er ihr zuflüstert: "Bitte
Grace, es ist nicht persönlich", dann ist das vollkommen ernst
gemeint. Es ist das Bild, das sich am stärksten in die Seele
brennen wird: Die Kamera hat das Leintuch der Ladefläche transparent
gemacht, aber es bleibt als Hintergrund des Bildes erhalten,
und Grace liegt zwischen den Apfelkisten und herumrollenden
Äpfeln, und erscheint darin in der Schönheit eines Renaissance-Gemälde,
als Ben sich anschickt, sich auf sie schiebt, ob seine Bezahlung
abzuholen, und Grace die Augen schließt, und das Bild ausgeblendet
wird. Es war wohl selten ein Bild im Kino zu sehen, in dem
die empfundene Schönheit der Seele und der Schrecken der Welt
sich so zusammengefunden haben, wie in diesem Bild, es ist:
Ambivalenz!
Der betrübliche Umstand, dass die Menschen nicht wirklich
böse sind, sondern nur unfähig zum Guten (was im übrigen einer
realistisch psychologischen wie augustinischen Vorstellung
über das Böse in der Welt entspricht), dass zwar die Menschen
Böses tun, aber dennoch meinen, zugleich noch die märchenhaft
guten Bewohner von Dogville zu sein, die sie wohl auch noch
tatsächlich sind, ist der größte denkbare Widerstand gegen
jedem Rachegelüst. Der Film DOGVILLE überschreitet dieses
Tabu, das hebt ihn aus der Reihe der Rachefilme heraus, weil
er, nicht trotz, sondern im Rahmen seiner ästhetischen Abgeschlossenheit,
damit auch die Grenze hin zum wirklichen Leben überschreitet.
Entscheidend für die Glaubhaftigkeit und die Vollendung des
Films ist, dass Lars von Trier die Rache hier nicht verschenkt,
oder in irgendeiner Weise durch eine moralische Rechtfertigung
verbrämt. Graces erste Begründung, nachdem sie sich zur Rache
entschlossen hat, lautet: Dogville müsse von der Erde verschwinden,
damit die Welt besser würde. Das ist eine Begründung, die
noch ganz im Geist ihres Idealismus gehalten ist, ein Versuch,
ihre Tat moralisch zu legitimieren, wodurch, wenn es dabei
geblieben wäre, der Racheakt zu einem idealistisch verbrämten
Gemetzel a´ la Pol Pot verkommen wäre. Aber Grace vollzieht
den notwendigen Schritt, den Akt der Dorfauslöschung von einer
idealistischen Großtat zu einem rein persönlichen Akt, wodurch
dieser ja erst zur Rache wird: Bevor die Gangster zur Ausübung
der Tat schreiten, Dogville und seine Bewohner auszulöschen,
hält Grace den Ober-Gangster mit der Anweisung zurück, die
Kinder Veras vor ihren eigenen Augen zu erschießen und erst
damit aufzuhören, wenn die Mutter der Kinder ihre Tränen zurückhalten
kann, was sie wohl nicht könne, sagt Grace, und lässt sich
in das Leder des Wagens fallen, weil sie weint so leicht.
In dem Moment, wo die Rache wirklich zur Rache wird und sich
vom ideellen Akt zur bitteren, persönlichen Revanche steigert
(Vera hatte zuvor Grace gezwungen, ihre liebgewordenen sieben
Porzellanfiguren zu zerstören, womit sie erst hätte aufhören
dürfen, wenn Grace aufgehört hätte, zu weinen) kommt der Film
zu sich selbst, und geht ein Ruck durch das Publikum. Im Unterschied
zu KILL BILL spüren wir, dass wir eine Mauer durchstoßen,
und eine Terrain (wieder-) betreten haben, das wir zumindest
eine lange Zeit nicht einmal in uns gespürt haben.
Und Lars von Trier setzt noch einen letzten Widerstand ein:
Als alle Menschen, alle Kinder erschossen sind (wir haben
ein Maschinengewehrfeuer auf ein Baby losgehen gesehen, auch
das ein Bild, das so noch nicht auf der Leinwand zu sehen
war) und alle Häuser niedergebrannt sind, sieht Grace durch
die Rauchschwaden Tom als einzig Überlebenden. Ohne eine Sekunde
des Zögerns greift sich Grace, die mit fließenden Tränen in
den Augen das Gemetzel aus dem Fond ihres Wagens zugesehen
hat, eine Pistole, und steigt aus der Limousine aus. Tom,
wie immer nicht um einen Spruch verlegen, sagt: "Gratuliere
Grace, Deine Illustrationen sind besser als meine!", und Grace
sagt nur "Good-bye, Tom!" drückt Tom die Pistole an den Kopf,
wendet das Gesicht immer noch mit Tränen ab, und schießt ihn
nieder. Sie steigt ins Auto, und sagt sinngemäß: "Es gibt
Dinge, die man selbst tun muss".
Im Racheakt triumphiert der kindliche Wille nach Vergeltung
und das Beharren auf eine Welt, die besser zu sein habe. Die
sonore Erzählstimme entlässt uns mit den Worten aus dem Film:
"Es war, als hätten Schmerz und Kränkung wieder ihren angestammten
Platz eingenommen." Gerade weil die Menschen von Dogville
nicht wirklich böse sind, müssen wir uns an ihnen rächen,
um das Bewusstein unsers eigenen Schmerzes wieder zurück in
unser Leben zu holen, und das ist der tiefere Grund, warum
wir unsere Rachegefühle von dem Film haben wieder erspüren
lassen. Der Preis für den Racheakt von Grace ist allerdings
die Zerstörung ihres Glaubens an das Gute im Menschen, und
deswegen wird die Tragödie weiter gehen und zwei weitere Teile
folgen.
Der Film ist ein Anschlag auf unser gewöhnliches moralisches
Empfinden von Gut und Böse, wie es ihn vielleicht seit Kubricks
Verfilmung von Anthony Burgess´ Roman "A Clockwork Orange"
nicht mehr im Kino zu erleben gab. Nicht nur, dass alles,
was Tarantino uns vollmundig versprochen hat - nie gesehene
Bilder, unglaubliche Gewalt, eine Sogwirkung, der man sich
nicht entziehen könnte etc.p.p. - von DOGVILLE scheinbar mühelos
und mit zauberischer Selbstverständlichkeit erfüllt wird,
sondern ihm gelingt noch, was jedem normalen Rachefilm zur
Ehre gereichen würde: aus einem intellektuellen, cineastischen
meist sittsamen Publikum, das mehrheitlich wohl aus Anhängern
von Amnesty International und Gegnern der Todesstrafe besteht,
grimmige Bejaher der Auslöschung eines ganzen Dorfes und ihrer
Bewohner werden zu lassen, die wir überdies in fast drei Stunden
in intimer Nähe haben kennen gelernt.
Nochmal: Kein Zweifel, welches der bessere Rachefilm ist.
das letzte Kapitel: V.
Vor dem Kino (der Zukunft)
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