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Übersicht
das vorhergehnde Kapitel: IV.
Dogville
V. Vor dem Kino (der Zukunft)
Bevor wir den Blick nach vorn werfen, sehen wir noch zurück,
woher wir gekommen sind: Begonnen haben wir mit dem Gefühl
eines Mangels, einer Unlust am Kino, und einer Saturiertheit
die unsere eigene war, und zugleich eines des Kinos. Gestoßen
waren wir auf zwei Filme, die wir Leuchttürme genannt haben,
da beide aus der nivellierten Einheitslandschaft des Hollywood-
und Kunstkinos herausragten. Beide Filme sollten nicht als
einzelne Filme angesehen werden, sondern über deren Gelungenheiten
oder Misslungenheit wollten wir Aufschluss über das Medium
und sein Erfahrungspotential bekommen, um hieraus Einsichten
über das Kino der Zukunft zu gewinnen. Wie man ja auch dem
Sinn der Sprache nicht näher kommt, wenn man sich das Zeichensystem
als solches ansieht (weil es "als solches" nur in den Köpfen
einiger Sprachwissenschaftler existiert), sondern nur in dem
einzelnen Satz, dem gesprochenen Wort selbst den Sinn der
Sprache erfährt, so erfüllt sich ja auch der Sinn des Mediums
Film nur in dessen konkreter Versprachlichung, nämlich dem
einzelnen Film.
Unser Maßstab war der Kunst-Maßstab: die Möglichkeit zu einer
Erfahrung. Wenn Kunst uns die Möglichkeit gibt, unser Leben
auch unterhalb unseres Bildes als moderne Menschen in seinem
unterirdischen Dasein wieder fühlen, erspüren, also erfahren
zu können, sind wir in dem Moment wohl nicht die moralisch
besseren Menschen, aber die vollständigeren Menschen. Um an
Slovskijs vorangestelltes Motto anzuknüpfen: Um uns als Menschen
neu empfinden zu können, bedürfen wir der Kunst.
Jedes Kino, von dem man sagt, dass es "großes Kino" ist,
ist es gelungen, zwischen den Bildern auf der Leinwand und
unseren tiefsten und geheimsten Gefühlen eine unsichtbare
Verbindung zu schaffen. Gemessen an diesem Wirkungs-Maßstab
ist der scheinbar kleine dänische Film DOGVILLE große Kunst.
Das genügt uns aber noch nicht, nicht als Begründung. Wir
wollten ja wissen, welcher von beiden Filmen die Zukunft des
Mediums weisen könnte, und dazu müssen wir uns beide Filme
im schon besagten Kontext der Filmkunst anschauen. Zwar haben
wir beide Filme denselben Maßstab unterworfen, aber zugleich
haben wir gesehen, dass Tarantino, obwohl er größte Wirkungsabsichten
verfolgt, eine irgendwie geartete Erfahrung sogar vermeiden
möchte. Könnte es nicht sein, dass hier das Kino einfach auf
zwei verschiedenen Bedürfnissen gründet, nach denen sich auch
die Anhängerschaft teilt: zwischen jenen, denen Kino ein Sehnsuchtsort
ist, eine Utopie, die dem Leben völlig enthoben ist, und denen,
die der Film vor allem ein Medium zum Verstehen und zur Erfahrung
unseres alltäglichen Lebens, auch mit dessen geheimen Anteilen,
ist?
Versuchen wir diese Frage nach der Richtigkeit einer bestimmten
ästhetischen Vorgehensweise etwas allgemeingültiger im Kontext
des Films zu stellen und mit der Zukunftsfrage zu verknüpfen.
Lässt sich die ästhetische Vorgehensweise von DOGVILLE tatsächlich
verallgemeinern, als richtweisend für das gesamte Medium begreifen,
wodurch sich der von Lars von Trier ins Manifest hineingeschriebene
Anspruch, eine Avantgarde zu sein, auch erst erfüllen würde?
Die Antwort fällt in aller Entschiedenheit mit "Ja!" aus.
Die erste Verallgemeinerung, die sich aus dem DOGVILLE zu
seinem Medium zu ziehen ist, ist der dringend notwendige Verzicht
auf den Illusionismus. Allein die Tatsache, dass der Film
DOGVILLE, der auf Einsichten beruht, die vor siebzig, achtzig
Jahren formuliert worden sind, allgemein als einzigartig empfunden
worden ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf den gegenwärtigen
Zustand des Kinos. Der vermeintlich technische Reichtum des
Hollywood-Kinos, einen Illusionismus erzeugen zu können, hat
auf der anderen Seite zu einer Verarmung seiner ästhetischen
Ausdrucksmöglichkeiten geführt.
Die zweite Verallgemeinerung, die sich aus dem Film DOGVILLE
ziehen lässt, ist die Bedeutung der Geschichte im Film. Wir
sind ja während unseres Durchgangs immer wieder auf zwei verschiedene
Traditionen gestoßen, die beide Filme wie unsichtbare Schatten
hinter sich herziehen. Tarantinos künstlerische Kurve, dessen
schnelles Ansteigen, und dann das Fallen ins Uninteressante,
zeigte sich auch schon bei seinen Vorgängern. Auch bei Godard
(und Greenaway, den man gewissermaßen als den älteren, intellektuelleren
Bruder von Tarantino bezeichnen könnte) hat der Hinauswurf
der Story und die Reduzierung auf Bilder zwar für zunächst
interessante Ergebnissen gesorgt, aber dann nur noch zu ewigen
Wiederholungen desselben. Die Geschichte (als das zunächst
Außerfilmische) drin zu behalten hat indes bei Kubrick, den
wir als einen der Vorgänger von Lars von Trier herausgestellt
haben, zu langlebigeren Filmen und zu Beibehaltung seiner
Fähigkeit geführt, über einen langen Zeitraum immer wieder
zu neuen überraschenden filmischen Resultaten zu kommen.
Daran schließt sich aber zugleich als dritte Verallgemeinerung
die weitere Feststellung an, dass die Neuerung des Films nicht
über die Neuerung der Story, sondern nur über das "Wie" der
filmischen Seite möglich ist. Die Veränderung der narrativen
Strukturen kann für einen Film zwar zu einer Herausforderung
werden (z.B. der 1-Akt-Film zu "Meanstreets" von Scorsese,
oder der 2-Akt-Film "Full Metal Jacket" von Kubrick), aber
sie ist noch nicht die Neuerung selbst, sondern nur die Bedingung
des filmisch Neuen. Die Neuerung liegt allein auf der filmischen
Seite, d.h. bei der Montage, bei den Bilder, den Großaufnahmen,
die Kamerabewegungen, die Länge und Kürze der jeweiligen Einstellungen.
Zurecht hat man die Dogma-Bewegung als ein "Zurück zur Natur"
bewertet, und derjenige dem dieser Spruch irrtümlich zugewiesen
wird, hat zwar diesen Satz niemals so gesagt, aber tatsächlich
sinngemäß ausgedrückt: Es gibt in jedem Weg einen Punkt, in
dem jeder weitere Schritt in diese Richtung ein Rückschritt
wäre. Daher ist der Weg, den DOGVILLE weist, nicht vergangenheitsbeschwörend,
sondern zukunftweisend. Zwar hat man den Dogma-Filmern ihren
Verzicht auf das Illusionskino als "künstlich" vorgeworfen,
aber das ist genauso unsinnig, wie dies jemanden vorzuwerfen,
der statt mit dem Auto durch die Landschaft zu rasen lieber
zu Fuß durch sie hindurchgeht. Der vermeintliche Purismus
ist ja nur ein Purismus gegenüber den illusionistischen Mittel,
aber er führt gegenüber der Wirkung zu einem Reichtum, von
dem sich noch viele Filme nähren werden: ein Reichtum an Großaufnahmen,
ein Reichtum an Schauspielkunst, ein Reichtum an Bildererleben,
ein Reichtum an Erfahrungen. Der "puristische" Film ist Kino
pur, er ist mehr Kino, als der Hollywood-Film bieten kann,
da er uns die Welt durch seine filmischen Augen betrachten
und erleben lässt. Durch das Fortlassen der technischen Soßen
bekommen wir den Geschmacksreichtum der ganzen Kartoffel wieder
zu spüren. Und wir sehen es als ein hoffnungsvolles Zeichen,
dass auch andere Filme, mit ganz anderen Mittel, sich zum
Filmischen wieder besinnen (wozu als jüngstes Beispiel "Die
Rückkehr" von Andrej Swjaginzew gehört). Desto mehr Kino,
desto mehr Kunst, haben wir eingangs gesagt. DOGVILLE beweist
die Richtigkeit dieses Satzes!
DOGVILLE und die Dogma-Filme Lars von Triers - ist tatsächlich,
trotz oder wegen der vermeintlichen Rückkehr, etwas Neues.
Dass etwas Neues entstanden ist, zeigt die Kunst immer dadurch,
dass sie ihren Geist auf einen Zeitgenossen niederfahren lässt,
der mit einem Aufschrei der Empörung dafür sorgt, dass seine
Mitwelt Kenntnis davon erhält. Diesmal hat es Seeßlen getroffen,
der in seinem Brandartikel in der "Zeit" 1999 Lars von Trier
und den Dogma-Filmer Verachtung vorwarf. Zwar verwendete Seeßlen
das in solchen Fällen heute üblich gewordene moralische Argument,
den Menschen wäre ihre Würde genommen, in diesem Fall durch
die Handkamera (zu Emma Bovary Zeiten hieß es, die öffentliche
Moral sei verletzt, aber gemeint war dasselbe). Aber der wahre
Skandal liegt nie wirklich in dem, was zu sehen ist, sondern
in dem Anschlag auf unsere gewohnte Wahrnehmung, durch die
Neuheit der Optik.
Da in der Geschichte der Künste sich zyklisch vieles wiederholt,
und sich so oder so schon abgespielt hat, nur in verschiedenen
Ausformungen, könnte man den Dogma-Skandal in einem noch größeren
Kontext als den Film-Kontext, nämlich dem Kunst-Kontext betrachten,
und die Dogma-Filmer mit dem Auftreten der Impressionisten
im 19. Jahrhundert vergleichen, denn wie die Impressionisten
orientieren sich die Dogma-Filmer auf die Authentizität der
Wahrnehmung. Als Manet, ebenfalls mit Verzicht auf die damals
vorherrschende illusionistische Ästhetik, einen Spargel anders
als gewohnt malte (nämlich so, dass man das Gemalte in dem
Gemälde wieder sah), ergoss sich sofort eine Flut von Beschimpfungen
und Bedrohungen über ihn, und man könnte sich fragen, welche
hochheiligen Gefühle wohl mit dem Malen dieses Gemüses verletzt
worden sind. Der Verzicht auf das Malerische, den man Manet
vorwarf, ist genauso unsinnig, wie der Vorwurf Seeßlens, der
Lars von Trier den Verzicht auf das Filmische vorwarf. Aber
es zeigt, wie wichtig uns der vertraute Boden unserer Wahrnehmung
ist, und der Aufschrei beweist, dass er rissig geworden ist,
weil etwas Neues entstanden ist.
Mag Tarantino noch soviel Zuschauer haben, mag er auch auf
den Jury-Thron von Cannes dieses Jahr erhoben worden sein,
das Kino der Zukunft wird er nicht mehr beeinflussen. Tarantino
ist der letzte Kometenschweif und wir wissen nicht, ob des
Hollywood-Kinos, oder des storylosen Avantgardekinos. Sein
kreatives Feuer scheint erloschen. Das zeigt sich am deutlichsten
in seiner Verfeinerungssucht, dem Ausfeilen einer Kampfszene
ohne weitere Bedeutung, die fetischisierte Ausstattungssucht
(das letzte gelbe Kostüm von Bruce Lee!!!), dem Stolz, echtes
falsches Kunstblut aus Japan verwendet zu haben. Solche unendliche,
kapriziöse Ausstattungssucht ist ein typisches Symptom, an
dem noch jede ästhetische Richtung ihren Zustand kurz vor
der Agonie anzeigt, und offenbart, dass ihr jede Schöpfungskraft
abhanden gekommen ist (was sich auch durch die Ankündigung
Tarantinos beim Start von "KillBillVol2" in 15 Jahren mit
dem kleinen Mädchen der toten Kämpferin eine Fortsetzung drehen
zu wollen, zeigt).
Sind Lars von Trier und die Dogma-Filmer die neuen Impressionisten
des Kinos, so ähnelt Tarantino dem Malerfürst Hans Markart,
der die Gegenrichtung zu den damaligen Impressionisten symbolisierte,
und der zur gleichen Zeit, als die Impressionisten ihre skandalauslösende
Ausstellung in Paris hatten, in Wien seine Mitmenschen damit
verzückte, das Gegenwartsleben in die künstlerischen, fiktiven
Formen der Vergangenheit zu gießen und damit zu heroisieren
(nicht zuletzt sich selbst), ganze Festumzüge zu organisieren
und Wohnungen mit all den Versatzstücken einer vergangenen
Epoche auszustaffieren. Wie Tarantino hat Hans Markart einer
ganzen Dekade seinen Stempel aufgedrückt. Die Epoche, in der
er herrschte, war die Epoche des Historismus, die man in vielerlei
Hinsicht die Postmoderne des 19. Jahrhunderts nennen könnte.
Hans Markart ist heute vergessen, während die Bilder von Monet,
Manet, Degas und Renoir heute noch in aller Frische, als wären
sie gestern gemalt, direkt in unsere dunklen einsamen Ich-Gefängnisse
strahlen.
Kehren wir diesem Illusionskino den Rücken Wir können natürlich
weiter schlechte Filme gucken. Aber die Zukunft des Kinos
hängt nicht zuletzt auch von uns, den Zuschauern, ab. Vielleicht
sollten wir , am Ende dieser Erkundung, noch einen weiteren
Schritt weitergehen, als es bei dem Resümee zu belassen, es
den Dogma-Filmern nachtun, und uns Zuschauerregeln geben,
damit der Sinn und der Geschmack an wirklicher Kunst uns erhalten
bleiben kann, und damit wir die Ansprüche, die wir an das
Kino stellen, auch an uns erfüllen können.
Acht Regeln , die jederzeit diskutiert, und auch ergänzt
werden können:
- Gehen wir nur noch in die Filme, wenn wir Schauspieler
schauspielern sehen wollen (nicht zu verwechseln mit Star-Gucken).
Jede gute Filmkunst ist auf gute Schauspielkunst angewiesen.
Alles andere sind nur Plot- und Special Effect-Filme. (Ausnahmen
wie "Barry Lyndon", die ja gerade das Gefühlsfremde der
Menschen dieser Epoche darstellen wollen, bestätigen diese
Regel). Das ist sicherlich daher das beste Kriterium zur
Filmauswahl, und die allerwichtigste Regel, daher auch Regel
No.1
- Meiden wir Filme, deren Kritiker sich in ihren Kritiken
hauptsächlich mit der Story des Films beschäftigen. Meist
tun sie das nur, weil es nichts anderes über den Film zu
sagen gibt. Dann lohnt es sich aber nicht, sie sich anzusehen,
egal was die Kritiker ansonsten dazu meinen.
- Stellen wir uns nach jedem Film die K-Frage, die Kubrick-Frage:
Was hat der Film uns gezeigt, was wir ohne den Film nicht
gesehen hätten, und hätten wir das, was der Film uns gezeigt
hat, von einem Roman, von einem Theaterstück, oder von einem
Zeitungsbericht nicht ebenso gut gezeigt bekommen können?
- Fragen wir uns regelmäßig (alle drei Monate, alle drei
Jahre) , welcher Film uns am meisten gerührt hat und stellen
ein jederzeit zu überprüfendes Ranking auf.
- Jeden Film, der uns in besonderer Weise anrührt, wollen
wir uns mindestens zweimal im Kino ansehen. Denn wenn er
uns anrührt, übersteigt er unsere Begriffe, und wir werden
unsere Begriffe zu Bildern machen müssen, damit das Erlebnis
uns zu einer bewussten Erfahrung werden kann.
- Die Hälfte aller Filme, die wir uns innerhalb eines Jahres
ansehen, sollten Filme sein, die vor 1957 gedreht worden
sind. Mindestens sollten dies aber 5 Filme im Jahr sein.
Andrej Swjaginzew, der Regisseur von "Die Rückkehr" erzählte,
er habe die ganze Zeit praktisch im Filmmuseum verbracht.
Das Sehen früherer Filme führt dazu, dass wir lernen, uns
Filme als Filme anzuschauen, und nicht nur als Träger momentaner,
modischer Anschauungen und momentaner Bedürfnisse.
- Wenn wir Unterhaltungsfilme sehen wollen, gucken wir Unterhaltungsfilme.
Lassen wir uns unterhalten, aber reden wir nicht mehr soviel
darüber. Damit erheben wir die Unterhaltungsfilme zu den
Filmen, über die sich wirklich zu reden lohnt. Der Unterschied
zwischen Kunst und Unterhaltung muss gewahrt bleiben.
- Gehen wir nicht nur in Filme, sondern gehen wir ins Museum,
ins Theater, oder lesen wir Romane oder Gedichte. Denn auch
beim Film geht es nicht um den Film, sondern um die Kunst,
und wenn wir das vergessen, werden wir zu jenen blinden
Stubenhocker in unserem Medium, die vor lauter Filme den
Film nicht mehr sehen.
Wünschen wir uns weiterhin gute Unterhaltung im Kino, aber
wünschen wir uns Filme, die uns und das Leben ernst nehmen,
die keine Erinnerungsfolie des gestrigen Lebens, sondern ein
gültiger Ausdruck des Lebens sind, das wir heute alle führen.
Frank Müllers
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