08.05.2008

Die Hoffnung auf DEN Film- und die Angst, ihn zu verpassen

KIKE LIKE ME
Kike Like Me – auf der Suche nach dem Jüdischen von Jamie Kastner
(Foto: DOK.fest | KIKE LIKE ME)

Das DOK.Fest München zeigt Filme mit starken Protagonisten

Von Magali Thomas

Das Gemeine an einem Festival ist, dass es immer Filme gibt, die man nicht gesehen hat. Die guten, die besseren, DEN Film. Das Gute am DOK.FEST dieses Jahr ist, dass die Preis­ver­lei­hung schon zur Halbzeit des Festivals am Sonntag, den 4. Mai statt­findet, so dass jeder die Möglich­keit hat sich die gekrönten Filme am letzten Tag des Festivals noch einmal anzu­schauen. Manchmal sind das ja dann auch die guten Filme.
Über 60 Doku­men­tar­filme werden auf dem 23. DOK.FEST 2008 in München gezeigt, davon 16 im Wett­be­werb. Ein paar Hinweise, welche Filme besonders faszi­niert haben.

Ein Film lebt von seinen Prot­ago­nisten, das müssen nicht immer Menschen sein, aber oft sind sie es. In L’AVOCAT DE LA TERREUR von Barbet Schroeder heißt er Jacques Vergès. Dieser Anwalt des Terrors ist berühmt für seine Mandanten, die entweder für huma­ni­täre Verbre­chen angeklagt wurden oder für terro­ris­ti­sche Akti­vi­täten. Darunter auch Nazi Klaus Barbie und Terrorist Carlos. Man glaubt es kaum, aber dieser Film zeigt eine überaus roman­ti­sche und faszi­nie­rende Persön­lich­keit in einem fein konstru­ierten Film und ist gleich­zeitig ein span­nender Thriller. Ein Rückblick auf die letzten 50 Jahre Terro­rismus, von den lokalen Guer­ril­leros zum globalen Terro­rismus, wie wir ihn heute erleben.
Die Biogra­phie von Vergès spiegelt eine Anziehung für das Rebel­lentum, eine Wut gegen die Doppel­moral des Estab­lish­ment und den Wunsch nach Erfolg. Vergès strickt an seinem eigenen Mythos und das macht er überaus charmant. Weniger charmant sind die Taten seiner Mandanten, aber sie sichern ihm eine Repu­ta­tion, die nicht alltäg­lich ist und das schmei­chelt seiner eitlen Seele.
L’AVOCAT DE LA TERREUR wurde 2008 ausge­zeichnet mit dem fran­zö­si­schen César für den besten Doku­men­tar­film und ist in anderen Länder schon in den Kinos gestartet. Für Deutsch­land gibt es keinen Start­termin. Also eine gute Gele­gen­heit ihn auf dem DOK.FEST zu sehen.

Eine andere, ganz gegen­sätz­liche Persön­lich­keit findet sich in Pavel Kouteckýs Film CITIZEN HAVEL. Václav Havel, ehema­liger Präsident der tsche­chi­schen Republik und Schrift­steller wurde von 1993 an zehn Jahre mit der Kamera begleitet.
Sein Leitmotiv in der Politik: »Liebe und Wahrheit sollen über Lüge und Hass siegen«. Hörte man diese Worte aus einem deutschen Poli­ti­ker­mund, so würde man sich wahr­schein­lich verwun­dert die Ohren reiben. Bei Havel klingt das glaub­würdig.
Wir sehen Havel bei offi­zi­ellen und inof­fi­zi­ellen Anlässen: mit Bill Clinton in der Jazzbar oder mit den Rolling Stones beim Empfang, aber auch die kleinen Momente mit seinen Beratern und Freunden, seiner ersten Frau Olga, die Trauer um ihren Tod, die zweite Heirat mit der Schau­spie­lerin Dagmar Veškrnová und während eines Foto­ter­mins, bei dem kein Klei­dungs­stück passen will. In diesem Film ordnet sich die Kamera ihrem Prot­ago­nisten unter, hält sich zurück und beob­achtet. Sie ist gänzlich unspek­ta­kulär und entspricht damit viel­leicht auch ihrem Prot­ago­nisten, der in seiner subtilen Mensch­lich­keit die Politik seines Landes vertrat.

Filmisch faszi­nie­rend ist der Film STRANDED, abgesehen davon, dass er die unglaub­liche Über­le­bens­ge­schichte der Passa­giere der Urugyan Air Force 571 wieder erzählt. 1972 stürzte die Maschine mit 45 Menschen über den chile­ni­schen Anden ab. An Bord eine junge Rugby­mann­schaft aus Uruguay mit Freunden und Verwandten und die Besatzung. 72 Tage lang mussten die „Gestran­deten“ ausharren und unter extremem Bedin­gungen ihr Überleben sichern. In 4000 Meter Höhe, umgeben von Eisglet­schern und als Unter­kunft das Flug­zeug­wrack. Nur 16 über­lebten. Dreißig Jahre später kehren sie an den Ort der Tragödie zurück und versuchen, ihren Kindern zu erklären, was sie damals erlebt haben. Exzellent montierte Inter­views, ein heraus­ra­gendes Sound­de­sign und beein­dru­ckendes fiktives Material, das Szenen nach­stellt, ohne jemals voyeu­ris­tisch zu wirken. Die Fiktion ist ohne Dialog, fängt dafür aber die Atmo­sphäre einer jungen ausge­las­senen Mann­schaft ein, die von einem Moment zum anderen mit dem eigenen Überleben konfron­tiert ist und in totaler Abhän­gig­keit vonein­ander agiert. Sie sehen sich vor eine schwie­rige Entschei­dung gestellt: entweder das Fleisch der Toten zu essen, oder zu verhun­gern.

Ganz anders der Film von Rory Kennedy GHOSTS OF ABU GHRAIB.
Das berüch­tigte Gefängnis Abu Ghraib am Rande der iraki­schen Haupt­stadt Bagdhad ist jedem ein Begriff, denn man erinnert sich vor allem an die Fotos grin­sender US-Wach­sol­daten aus dem Jahr 2004, die mit gefol­terten Häft­lingen posierten. Ein Skandal ging um die Welt. Das Weiße Haus distan­zierte sich von den „faulen Äpfeln im Korb“. Sünden­böcke wurden gesucht und gefunden. Sie hatten zufällig alle niedrige Dienst­grade, und die hoch­ran­gigen Verant­wort­li­chen sahen sich entlastet. In GHOSTS OF ABU GHRAIB deckt Filme­ma­cherin Rory Kennedy auf, wie die Genfer Konven­tionen syste­ma­tisch außer Kraft gesetzt wurden und somit Folter­me­thoden Tür und Tor geöffnet waren. Auch ehemalige Insassen von Abu Ghraib kommen zu Wort und die Wach­sol­daten, die wir von den Fotos kennen. Wie konnte es dazu kommen? Der Frage geht Rory Kennedy nach und ohne die Absegnung von oben hätte dies nicht passieren können. Auch wenn man es vorher schon ahnte, jetzt weiß man es.

Weitere empfeh­lens­werte Filme: THREE TIMES DIVORCED, eine paläs­ti­nen­si­sche Mutter sieht sich von ihren sechs Kinder getrennt als sie ihren Mann verlässt. Ohne israe­li­schen Ausweis ist sie rechtlos. KIKE LIKE ME, Filme­ma­cher Jamie Kastner begibt sich auf eine Reise um die Welt um der Frage auf den Grund zu gehen, was es bedeutet Jude zu sein. Und was ist daran so inter­es­sant, wissen zu wollen, ob der andere jüdisch ist? Auch für den Filme­ma­cher war es eine Reise der Ende­ckungen.

Außer­ge­wöhn­liche Land­schaften Islands sieht man in DIE NATUR VOR UNS von Niels Bolbrinker. Die Kunst der Foto­grafie und des foto­gra­fi­schen Rahmens anhand des deutschen Künstlers Alfred Ehrhardt. Beein­dru­ckend schöne Bilder.

L’AVOCAT DE LA TERREUR (Fr. 02. Mai 20:00 im Arri; So. 04. Mai 14:00 im Film­mu­seum)
CITIZEN HAVEL (Do. 01. Mai 19:30 im Film­mu­seum; Di. 06. Mai 19:00 im Arri)
STRANDED (Sa. 03. Mai 21:30 im Atelier; Mi. 07. Mai 17:00 im Arri)
GHOSTS OF ABU GHRAIB (Sa. 03. Mai 19:30 im Atelier; Mo. 05. Mai 17:30 im Arri)
THREE TIMES DIVORCED (01. Mai 17:00 im Gasteig; So. 04. Mai 18:30 im Atelier)
KIKE LIKE ME (Do. 01. Mai 22:00 im Atelier; Sa. 03. Mai 20:00 im Arri)
DIE NATUR VOR UNS (Do. 01. Mai 15:30 im Atelier; Sa. 03. Mai 22:00 im Film­mu­seum)