29.09.2011

UNDERDOX 06

FINISTERRAE
von Sergio Caballero

Bettlaken-Gespenster, indigene Völker in Argentinien, heimliche Alkoholiker – UNDERDOX zeigt die ganze Bandbreite der Menschlichkeit

Von Dunja Bialas

Manche sagen ja, Gespenster wären keine Menschen. Die Gespenster von UNDERDOX wollen wieder welche sein und begeben sich deshalb auf Pilger­fahrt. Die Gespenster sind natürlich – in schönster Kinder­tra­di­tion – mit Bettlaken verklei­dete Menschen.

Das ist kindisch? Nein, das ist Kino! Der Abschluss­film des dieses Jahr zum sechsten Mal statt­fin­denden UNDERDOX-Festivals in München schert sich nicht um Konven­tionen und Image. Hier geht es um die große Lust am Spiel. An dem Absurden. An dem Undenk­baren. An dem, was immer alle gerne machen, auch wenn sie erwachsen sind: sich verkleiden.

Finis­terrae, so heißt der gespens­ti­sche Abschluss­film, bewegt sich im wahrsten Sinne in einem Zwischen­reich, hier zwischen Tod und Leben, zwischen Gespenst­sein und Mensch­sein. Ähnliches gilt im Prinzip für die alle Filme, die bei UNDERDOX laufen, dem Festival »zwischen Expe­ri­ment und Dokument«. Dazwi­schen sein: das heißt, Erzähl­kon­ven­tionen über Bord werfen. Der Plau­si­bi­lität nichts geben. Das heißt auch, einen Doku­men­tar­film zu machen, ohne das alther­ge­brachte Infor­ma­ti­ons­futter zu liefern. Denn der Schwer­punkt von UNDERDOX – bei allen Spiel­formen – liegt auf dem Doku­men­ta­ri­schen, und was man mit ihm machen kann.

Der Eröff­nungs­film dieses Jahr stammt von einem, der in der Doku­men­tar­film­szene hoch angesehen ist. Er macht Filme im Stil des direct cinema: Kamera drauf­halten, mithören, beob­achten. Thomas Heise hat sich bislang vor allem als Doku­men­tar­filmer der Wende und des Post-Wende-Deutsch­lands hervor­getan, nun betritt er neues Terrain. In Sonnen­system zeigt er den Alltag indigenen Kollas in den Bergen Nord­ar­gen­ti­niens. Dass Heise, gebür­tiger Ost-Berliner, kein Spanisch kann, tut dem keinen Abbruch. Er wendet sich dem Volk und ihrem Leben zu, dass mehr ist, als es nur zu doku­men­tieren. Der Film ist eine Begegnung ohne Worte, eine Erzählung vom Kennen­lernen und einander Sehen. (Donnerstag, 29.09., 20 Uhr, Film­mu­seum, in Anwe­sen­heit von Thomas Heise)

Geschichte wird im Film meist mit Film­schnipsel aus Archiven erzählt. Zwei der Filme bei UNDERDOX, die die Vergan­gen­heit erfor­schen, arbeiten mit Foto­gra­fien: Der portu­gie­si­sche Film 48 von Susana de Sousa Dias erforscht Portrait­auf­nahmen von poli­ti­schen Gefan­genen aus 48 Jahren Diktatur. Printed Matter ist ein belgisch-israe­li­scher Film, in dem die Filme­ma­cher Foighel & Efrat anhand von Foto-Kontakt­bögen das Neben­ein­ander von poli­ti­scher und privater Geschichte entdecken: die Intifada befindet sich hier gleich neben dem Sonn­tags­spa­zier­gang. (Beide Filme Samstag, 18.30 Uhr, Film­mu­seum, in Anwe­sen­heit von Foighel & Efrat)

Weitere Programm­schwer­punkte dieses Jahr bei UNDERDOX sind Artist in Focus: Ben Rivers und Fire­wal­kers of Greece.

Mit Ben Rivers steht der FIPRESCI-Preis-Gewinner von Venedig 2011 auf dem Programm, außerdem einen der umtrie­bigsten briti­schen Film­künstler. Seine Filme erfor­schen wilde Umge­bungen und verschlos­sene Welten und fühlen sich an wie Erin­ne­rungen an eine zukünf­tige Zeit. Sie sind wie mit einer Patina versehen, die seine Filme in eine unbe­stimmte zeitliche Ferne rücken und die sich vor allem seiner Arbeits­weise verdankt: Rivers dreht auf 16mm, mit einer Bolex, meist in Schwarz­weiß, oft auf Material mit abge­lau­fenem Verfalls­datum und entwi­ckelt das belich­tete Material selbst. Wir zeigen seine 16mm Scope Trilogy! (Freitag, 30.09., 18.30 Uhr, Film­mu­seum)

Grie­chen­land geht es gerade sehr schlecht, und keiner spricht mehr von ihm als Kultur­na­tion. UNDERDOX schon. Gast­ku­rator Vassily Bourikas aus Athen hat in Zusam­men­ar­beit mit der Greek Film Archive für uns das Programm Fire­wal­kers of Greece zusam­men­ge­stellt, mit Filmen von Joseph Hepp, Kame­ra­mann der ersten grie­chi­schen Wochen­schauen in den 1910er Jahren und Regisseur früher Spiel­filme mit Vilar, dem grie­chi­schen Buster Keaton, Roussos Koun­douros, Chronist der 50er und 60er Jahre, und Marina Gioti, Filme­ma­cherin und Video­künst­lerin aus dem heutigen Athen. (Samstag, 01.10., 21 Uhr, Film­mu­seum, in Anwe­sen­heit von Vassily Bourikas)

Und wieder dabei sind auch dieses Jahr Spiel­filme, neben den UNDERDOX Shorts (Sonntag, 20.30 Uhr, Werk­statt­kino, in Anwe­sen­heit von Boris Lehman, Isabelle Martin und Nikolaus Eckhard) und den Müchener Künst­ler­vi­deos (Dienstag, 22.30 Uhr, Werk­statt­kino), eine Freiheit von UNDERDOX, die sich andere Münchner Festivals nicht nehmen. Gezeigt wird Isild Le Bescos neuer Film Bas-Fonds (Freitag, 21 Uhr, Film­mu­seum), ein echtes Torpedo-Stück aus Frank­reich, fernab des Wir-sind-alle-lieb-zuein­ander-Nach­bar­schafts­my­thos, der so gerne als fran­zö­si­scher Arthouse in den deutschen Kinos läuft, dann La BM du Seigneur (Samstag, 1.10., 20.30 Uhr, Werk­statt­kino), der eine Zigeuner-Gemeinde in der Krise zeigt, zufä­li­ger­weise auch in Frank­reich (Sarkozy möchte sie ja alle loswerden), sodann Das schla­fende Mädchen (Montag, 3.10., 20.30 Uhr, Werk­statt­kino, in Anwe­sen­heit von Rainer Kirberg) über Kunst als sadistsiche Versuchs­an­ord­nung bzw. über die allge­meine Frage: Darf man den, den man liebt, einsperren, um ihn für sich zu behalten? Und dann noch der eingangs erwähnten Abschluss­film Finis­terrae (Mittwoch, 5.10., 22.30 Uhr, Werk­statt­kino), ein absolut »lach­hafter« (UNDERDOX) Film über die Pilger­schaft von zwei Gespens­tern vom kata­la­ni­schen Sonar-Festi­val­ma­cher Caballero.