02.08.2012

Das Reale, das man nie einfangen kann

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Der Eröffnungsfilm:
Tabu von Miguel Gomes

Zum 23. FID Marseille – Festival International de Cinéma

Von Dieter Wieczorek

Versteckt sich in FID nicht ein D, für Doku­men­ta­risch? Doch der Unter­titel »Festival inter­na­tional de Cinéma« zeigt bereits, dass das Festival sich nicht auf Doku­men­ta­tion einschränken will. Wie es der Regisseur des Eröff­nungs­films Tabu, Miguel Gomes (Portugal), auf den Punkt brachte: Festi­val­di­rektor Jean-Pierre Rehm habe wie kaum einer vor ihm verstanden, dass Fiktion der substan­zi­elle Bestand­teil des Realen ist. Tabu selbst ist die Erin­ne­rungs­reise einer harschen, alternden Dame in ihre kolo­nia­lis­ti­sche Vergan­gen­heit, in der sie eine kompli­zierte und doch nur allzu­mensch­lich fremd­gän­ge­ri­sche Liebes­ge­schichte lebte. Hier kann von Doku­men­ta­tion wirklich die Rede nicht sein.

Aber dies macht das Festival so spannend. Man weiß nie, was kommt. Am anderen Ende der Skala steht ein an doku­men­ta­ri­scher »Härte« wohl kaum zu über­tref­fendes Werk wie Nikolaus Geyr­hal­ters (Öster­reich) Donau­spital. In analy­ti­scher Beob­ach­tungs­kühle werden hier die Vorgänge in Europas größtem Kran­ken­haus kommen­tarlos einge­fangen. Geyr­hal­ters Kamera gleicht einem gött­li­chen Auge, allseits präsent, nichts wertend, nichts hier­ar­chi­sie­rend, und bildet einfach die Gescheh­nisse in ihrer herben, zuweilen schönen Absur­dität ab – wie das profes­sio­nelle Abräumen eines Leichnams.

Auf der anderen Seite bietet das inter­na­tio­nale Wett­be­werbs­pro­gramm Raum für einen so außer­ge­wöhn­li­chen Film wie White Epilepsy von Philippe Gran­d­rieux (Frank­reich), eine unendlich langsame Sequenz mit zwei nackten Körpern irgendwo im freien nächt­li­chen Raum, ihre Glied­maßen verschlungen, ihre Körper wie in einer bewusst­seins­ver­zö­gernden Absenz befangen, oft kaum klar zu iden­ti­fi­zieren, durch extreme Hell/Dunkel-Licht­ef­fekte frag­men­ta­ri­siert, die an Barock­ma­lerei erinnern... Sequenzen wie bei Francis Bacon und Cara­vaggio, und die eine außer­ge­wöhn­lich klare, archai­sche Geschichte erzählen: die des Geschlech­ter­kampfes bis zum Tode. Die sugges­tive Bildmacht dieses Filmes, auf den man sich – wie auf alle Kunst – einlassen muss, denn schnelle Infor­ma­tion oder Aktio­na­lität im ober­fläch­li­chen Sinn werden hier nicht geboten, wirkt im Gedächtnis nach, lange noch, selbst nach abküh­lenden Drinks zu nächt­li­cher Stunde am Ort der gemein­schaft­li­chen Zusam­men­kunft des Festivals, dem Théatre des Bernar­dines.

Im fran­zö­si­schen Wett­be­werbs­pro­gramm beein­druckte besonders Être Là (Da sein) von Régis Sauder, der in Gefäng­nissen prak­ti­zie­rende Psych­iater und Psycho­logen mit ihren Zweifeln und analy­ti­schen Refle­xionen zu Wort kommen lässt und sie begleitet bei ihren täglichen, ange­spannten Dialogen mit den Patienten. Die Para­do­xien ihrer Existenz und Arbeits­po­si­tion, zu verstehen, wo Verur­tei­lung statt hat, zu verändern, wo die Gefäng­nis­mauern unbe­weg­lich bleiben, anzu­passen und zur Rein­te­gra­tion formieren, wo Problem­stel­lungen und Indi­vi­dua­litäten nicht nach Anpassung suchen... all die komplexen Arbeits­be­din­gungen zwischen der gesell­schaft­li­chen Legi­mi­ta­tion des Abstra­fens und dem wirk­li­chen Wunsch nach Verän­de­rung werden von Sauder unver­kürzt und ohne Lösbar­keits­an­ge­bote thema­ti­siert.

Nicht oft hat der einfacher Betrachter die Chance, teil­zu­haben am schlichten Geplauder eines (einsamen) Reichen, der weit mehr Spiel­karten der inter­na­tio­nalen Geld­ma­chen­schaften kennt als so mancher Banker und von Exis­tenzen zu berichten weiß, über die uns die üblichen Nach­rich­ten­sys­teme nicht wirklich infor­mieren. Und dies alles vom Liege­stuhl eines gepflegten Gartens einer Villa irgendwo der Schweiz (natürlich), aus einem fein geka­chelten Bade­zimmer oder der Kaminecke, an all diesen Orten, wo vertrau­liche Einsin­nig­keit herrscht. JJA von Gaëlle Boucand ist ein deko­die­rendes Werk, ein Einfangen sonst unzu­gäng­li­cher Perspek­tiven des Realen, Schul­ma­te­rial für fort­ge­schritten Desil­lu­sio­nierte.

Unter den immerhin sieben Neben­rei­hen­pro­gramme besonders hervor­zu­heben, neben der Retro­spek­tive des brasi­lia­ni­schen Avant­garde-Filme­ma­chers Glauber Rocha, der eine pathe­tisch surrealen und zugleich verspielt sarkas­ti­sche Film­sprache entwi­ckelte, um seinem Land die eigenen Geschichte der Unter­wer­fung und Unter­drü­ckung zu erzählen, war die Reihe »Les Fils du pouvoir« (Die Fäden der Macht). Gewalt- und Macht­muster wurden hier in allen Rich­tungen durch­ge­spielt. Der aus Öster­reich kommende Film Low Defi­ni­tion Control – Malfunc­tions #0 von Michael Palm reflek­tiert auf die Unter­wer­fungs­me­cha­nismen einer Gesell­schaft der Sicher­heits­kon­trollen und Über­wa­chungs­sys­teme, in der die »Anti­zi­pa­tionen des Übels« das Leben in Vermei­dung- und der Verhü­tungs­muster zurück­drängen. In der dünnen Lebens­luft der Sicher­heits­ge­sell­schaften stirbt alle Spon­ta­n­eität, alles Spiel, alle Lebens­lust und aller Wille zum Risiko schlicht ab. Was bleibt ist das Abzählen der (nicht gelebten) Lebens­zeit als quan­ti­ta­tive Lebens­er­fül­lung.

Die Mitver­ant­wor­tung mehrer Geheim­dienste, explizit der us-ameri­ka­ni­schen, briti­schen und deutschen, an dem aller­dings 23 Jahr zurück­lie­genden geplanten Absturz einer Verkehrs­ma­schine der PAN AM über Lockerbie, dechif­friert Allan Fran­co­vichs mutiger Doku­men­tar­film The Maltese Double Cross. Die von Arte bereit­ge­stellte – aller­dings bereits gekürzte Werk­ver­sion gibt eine Eindruck der inter­na­tio­nalen Verflech­tung zwischen offi­zi­ellen und »terro­ris­ti­schen« Akti­vitäten weltweit, berichtet vom orga­ni­sierten Drogen­handel durch die verant­wort­li­chen offi­zi­ellen Geheim­dienst und vielem anderen mehr. Dieser Werk des nicht mehr lebenden US-Film­di­rektor aus dem Jahr 1994 erinnert an einen Typ des enga­gierten und aufklä­rungs­wil­ligen Doku­men­tar­film, den Festivals heute (aus Mangel an Material?) kaum mehrt liefern.

Hier wäre einer der wenigen Kritik­punkte – für Frank­reich nicht nur am FID – zu formu­lieren. Während andere Länder in ihren Doku­men­tar­filmen und Festivals doch hart mit sich selbst ins Gericht gehen, und gerade deshalb glaub­würdig als Schau­plätze der Meinungs­frei­heit fungieren, scheint in Frank­reich doch bis auf wenige Details alles in Ordnung. Dies mag unter anderem die Konse­quenz eines durch­struk­tu­rierten Subven­ti­ons­ap­pa­rates der fran­zö­si­schen Film- und Festi­val­in­dus­trie zu sein. Man muss schon tief in die Neben­reihen absteigen, um ein Werk zu finden, das etwa die ernied­ri­genden Behand­lung von Antrag­stel­lern beim Bürger­meis­teramt am Stadtrand von Paris thema­ti­siert, wo Menschen gezwungen sind, Winternächte im Freien zu verbringen, nur um am nächsten Tag zur Anhörung vorge­lassen zu werden. Doch auch dies ist in gewisser Weise noch ein harmloses Detail, vergli­chen mit der Problem­stel­lung und Analyse eines Allen Fran­co­vichs. In der Arte-Version zumindest wird die fran­zö­si­sche Geheim­dienst­tä­tig­keit und poli­ti­sche Invol­vie­rung nicht thema­ti­siert. Gibt es in Frank­reich nicht doch viel­leicht ein kleines Problem mit Atom­mei­lern und der offi­zi­ellen Infor­ma­ti­ons­po­litik? Gibt es nicht beacht­liche Machen­schaften im Waffen­handel und in Groß­pro­jekten auf der Grundlage einer sich fort­set­zenden Kolo­ni­al­po­litik? Gibt es nicht eine besondere fran­zö­si­sche Weise, mit Bestechung und Bezie­hungs­po­litik umzugehen? Gab es da nicht einen gewissen Sarkozy? Alles Themen, die gut in die »Les Fils de pouvoir«-Sektion gepasst hätten und nicht 23 Jahre alt sind. Von all dem jedoch kein Wort, kein Film in FID. Schade.