Das Reale, das man nie einfangen kann |
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Der Eröffnungsfilm: Tabu von Miguel Gomes |
Von Dieter Wieczorek
Versteckt sich in FID nicht ein D, für Dokumentarisch? Doch der Untertitel »Festival international de Cinéma« zeigt bereits, dass das Festival sich nicht auf Dokumentation einschränken will. Wie es der Regisseur des Eröffnungsfilms Tabu, Miguel Gomes (Portugal), auf den Punkt brachte: Festivaldirektor Jean-Pierre Rehm habe wie kaum einer vor ihm verstanden, dass Fiktion der substanzielle Bestandteil des Realen ist. Tabu selbst ist die Erinnerungsreise einer harschen, alternden Dame in ihre kolonialistische Vergangenheit, in der sie eine komplizierte und doch nur allzumenschlich fremdgängerische Liebesgeschichte lebte. Hier kann von Dokumentation wirklich die Rede nicht sein.
Aber dies macht das Festival so spannend. Man weiß nie, was kommt. Am anderen Ende der Skala steht ein an dokumentarischer »Härte« wohl kaum zu übertreffendes Werk wie Nikolaus Geyrhalters (Österreich) Donauspital. In analytischer Beobachtungskühle werden hier die Vorgänge in Europas größtem Krankenhaus kommentarlos eingefangen. Geyrhalters Kamera gleicht einem göttlichen Auge, allseits präsent, nichts wertend, nichts hierarchisierend, und bildet einfach die Geschehnisse in ihrer herben, zuweilen schönen Absurdität ab – wie das professionelle Abräumen eines Leichnams.
Auf der anderen Seite bietet das internationale Wettbewerbsprogramm Raum für einen so außergewöhnlichen Film wie White Epilepsy von Philippe Grandrieux (Frankreich), eine unendlich langsame Sequenz mit zwei nackten Körpern irgendwo im freien nächtlichen Raum, ihre Gliedmaßen verschlungen, ihre Körper wie in einer bewusstseinsverzögernden Absenz befangen, oft kaum klar zu identifizieren, durch extreme Hell/Dunkel-Lichteffekte fragmentarisiert, die an Barockmalerei erinnern... Sequenzen wie bei Francis Bacon und Caravaggio, und die eine außergewöhnlich klare, archaische Geschichte erzählen: die des Geschlechterkampfes bis zum Tode. Die suggestive Bildmacht dieses Filmes, auf den man sich – wie auf alle Kunst – einlassen muss, denn schnelle Information oder Aktionalität im oberflächlichen Sinn werden hier nicht geboten, wirkt im Gedächtnis nach, lange noch, selbst nach abkühlenden Drinks zu nächtlicher Stunde am Ort der gemeinschaftlichen Zusammenkunft des Festivals, dem Théatre des Bernardines.
Im französischen Wettbewerbsprogramm beeindruckte besonders Être Là (Da sein) von Régis Sauder, der in Gefängnissen praktizierende Psychiater und Psychologen mit ihren Zweifeln und analytischen Reflexionen zu Wort kommen lässt und sie begleitet bei ihren täglichen, angespannten Dialogen mit den Patienten. Die Paradoxien ihrer Existenz und Arbeitsposition, zu verstehen, wo Verurteilung statt hat, zu verändern, wo die Gefängnismauern unbeweglich bleiben, anzupassen und zur Reintegration formieren, wo Problemstellungen und Individualitäten nicht nach Anpassung suchen... all die komplexen Arbeitsbedingungen zwischen der gesellschaftlichen Legimitation des Abstrafens und dem wirklichen Wunsch nach Veränderung werden von Sauder unverkürzt und ohne Lösbarkeitsangebote thematisiert.
Nicht oft hat der einfacher Betrachter die Chance, teilzuhaben am schlichten Geplauder eines (einsamen) Reichen, der weit mehr Spielkarten der internationalen Geldmachenschaften kennt als so mancher Banker und von Existenzen zu berichten weiß, über die uns die üblichen Nachrichtensysteme nicht wirklich informieren. Und dies alles vom Liegestuhl eines gepflegten Gartens einer Villa irgendwo der Schweiz (natürlich), aus einem fein gekachelten Badezimmer oder der Kaminecke, an all diesen Orten, wo vertrauliche Einsinnigkeit herrscht. JJA von Gaëlle Boucand ist ein dekodierendes Werk, ein Einfangen sonst unzugänglicher Perspektiven des Realen, Schulmaterial für fortgeschritten Desillusionierte.
Unter den immerhin sieben Nebenreihenprogramme besonders hervorzuheben, neben der Retrospektive des brasilianischen Avantgarde-Filmemachers Glauber Rocha, der eine pathetisch surrealen und zugleich verspielt sarkastische Filmsprache entwickelte, um seinem Land die eigenen Geschichte der Unterwerfung und Unterdrückung zu erzählen, war die Reihe »Les Fils du pouvoir« (Die Fäden der Macht). Gewalt- und Machtmuster wurden hier in allen Richtungen durchgespielt. Der aus Österreich kommende Film Low Definition Control – Malfunctions #0 von Michael Palm reflektiert auf die Unterwerfungsmechanismen einer Gesellschaft der Sicherheitskontrollen und Überwachungssysteme, in der die »Antizipationen des Übels« das Leben in Vermeidung- und der Verhütungsmuster zurückdrängen. In der dünnen Lebensluft der Sicherheitsgesellschaften stirbt alle Spontaneität, alles Spiel, alle Lebenslust und aller Wille zum Risiko schlicht ab. Was bleibt ist das Abzählen der (nicht gelebten) Lebenszeit als quantitative Lebenserfüllung.
Die Mitverantwortung mehrer Geheimdienste, explizit der us-amerikanischen, britischen und deutschen, an dem allerdings 23 Jahr zurückliegenden geplanten Absturz einer Verkehrsmaschine der PAN AM über Lockerbie, dechiffriert Allan Francovichs mutiger Dokumentarfilm The Maltese Double Cross. Die von Arte bereitgestellte – allerdings bereits gekürzte Werkversion gibt eine Eindruck der internationalen Verflechtung zwischen offiziellen und »terroristischen« Aktivitäten weltweit, berichtet vom organisierten Drogenhandel durch die verantwortlichen offiziellen Geheimdienst und vielem anderen mehr. Dieser Werk des nicht mehr lebenden US-Filmdirektor aus dem Jahr 1994 erinnert an einen Typ des engagierten und aufklärungswilligen Dokumentarfilm, den Festivals heute (aus Mangel an Material?) kaum mehrt liefern.
Hier wäre einer der wenigen Kritikpunkte – für Frankreich nicht nur am FID – zu formulieren. Während andere Länder in ihren Dokumentarfilmen und Festivals doch hart mit sich selbst ins Gericht gehen, und gerade deshalb glaubwürdig als Schauplätze der Meinungsfreiheit fungieren, scheint in Frankreich doch bis auf wenige Details alles in Ordnung. Dies mag unter anderem die Konsequenz eines durchstrukturierten Subventionsapparates der französischen Film- und Festivalindustrie zu sein. Man muss schon tief in die Nebenreihen absteigen, um ein Werk zu finden, das etwa die erniedrigenden Behandlung von Antragstellern beim Bürgermeisteramt am Stadtrand von Paris thematisiert, wo Menschen gezwungen sind, Winternächte im Freien zu verbringen, nur um am nächsten Tag zur Anhörung vorgelassen zu werden. Doch auch dies ist in gewisser Weise noch ein harmloses Detail, verglichen mit der Problemstellung und Analyse eines Allen Francovichs. In der Arte-Version zumindest wird die französische Geheimdiensttätigkeit und politische Involvierung nicht thematisiert. Gibt es in Frankreich nicht doch vielleicht ein kleines Problem mit Atommeilern und der offiziellen Informationspolitik? Gibt es nicht beachtliche Machenschaften im Waffenhandel und in Großprojekten auf der Grundlage einer sich fortsetzenden Kolonialpolitik? Gibt es nicht eine besondere französische Weise, mit Bestechung und Beziehungspolitik umzugehen? Gab es da nicht einen gewissen Sarkozy? Alles Themen, die gut in die »Les Fils de pouvoir«-Sektion gepasst hätten und nicht 23 Jahre alt sind. Von all dem jedoch kein Wort, kein Film in FID. Schade.