Ich-Botschaften und Filmrecycling |
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Joana Preiss auf ihrem Selbsterfahrungstrip Sibérie |
Von Dunja Bialas
Das FID Marseille, einst Dokumentarfilmfestival, »Festival International du Documentaire«, nennt sich seit diesem Jahr weit gefasst »Festival International du Cinéma« – Festival des Kinos. Hintergrund ist die Auffassung des seit 2002 wirkenden Festivalleiters Jean-Pierre Rehm, der bewusst keine Unterscheidung treffen möchte zwischen langen und kurzen Filmen, zwischen Künstlerfilmen und Filmkunst, und seit vier Jahren nun auch Spiel- und Dokumentarfilme gleichberechtigt programmiert. Er hat sich damit viele Feinde eingehandelt, vor allem die Szene der französischen Dokumentarfilmer gegen sich aufgebracht. Aber: Viel Feind, viel Ehr. Denn er hat seine Nachahmer gefunden. Viele Festivals, auch das maßgebliche Festival de Cannes, haben ihn, wie er sagt, »kopiert« und das Programm auch für Formen des Filmschaffens geöffnet, die nicht kategorisierbar sind. Rehm kommt aus der Kunstgeschichte, er gibt Theorieseminare für Kunststudenten und ist langjähriger Autor bei den »Cahiers du Cinéma«. Er hat dem FID seinen intellektuellen Stempel aufgedrückt, fordert die Sehgewohnheiten der Zuschauer heraus, sorgt bisweilen für Kontroverse und Kopfschütteln. Eines aber kennt Rehm nicht: den Kompromiss. Rehm zeigt Filme, die sonst keiner zeigt. Und mit seiner Kompromisslosigkeit hat er auch dieses Jahr wieder für Entdeckungen gesorgt. Oder, mit einem Graffiti gesprochen, dass sich auf einer Tür im Festivalzentrum La Criée fand: Auch dieses Jahr war wieder »EXT-REHM«.
Aufgefallen ist die Vielzahl an Werken, in denen die Filmautoren von einem biographischen Moment in ihrem Leben erzählen. Wenn dies gelang, konnte sich eine erstaunliche Form von kleiner Geschichtsschreibung entwickeln. Das schlechte Feld des Österreichers Bernhard Sallmann war so ein Glücksfall. Im Stil des verstorbenen Dokumentarfilm-Essayisten Gerhard Friedl wagt Sallmann in seiner Erzählung über seinen Heimatort Ansfelden bei Linz die gespreizte Ton-Bild-Schere. Aus dem Off hört man seine in Manier eines Chronisten vorgetragene Geschichte über den abgelegenen Weiler, vor dessen Haustür vor ein paar Jahrzehnten die Schneise einer heute vielbefahrenen Autobahn geschlagen wurde. Bildliches Zentrum ist ein ausladender Vierkanthof, Hof der Familie des Filmemachers, einst Mittelpunkt eines ertragreichen Bauernlebens. Nach und nach musste die Familie angesichts der zunehmenden Urbanisierung der Landschaft die Bewirtschaftung aufgeben. Sallmann beginnt seine Geschichte über die historischen Umbrüche des Ortes ganz privat. Er zitiert seine Schulaufsätze, die er in den 70er Jahren schrieb, und in denen er den Bauernalltag ganz romantisch schildert, mit Pferden, Heuschober und einem drohenden Gewitter bei der Ernte. Sallmann gelingt dann mühelos die Volte von der nostalgisch verbrämten Geschichte des Hofes zur großen Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert, zu den Ereignissen während des Dritten Reichs. Es bescherte dem kleinen Ort dunkle Erinnerungen, an einen Zug ausgehungerter KZ-Häftlinge durch das Dorf, an ein Arbeitslager auf einem der Felder der Familie. Dieses sollte das titelgebende »schlechte Feld« werden, da hier auch nach dem Abriss der Bauten nach dem Krieg kein Kraut mehr wachsen wollte.
Sallmann selbst hat seinen Text aus dem Off gesprochen, um dem Geschilderten Authentizität einzuhauchen. Durchaus angenehm klingt das Lokalkolorit seiner Stimme, oft die Geduld strapazierend ist die österreichische Breite seiner Intonation. Dennoch: Das Authentische, Unverrückbare seiner Chronisten-Erzählung hat sich ins Gedächtnis gegraben, durch eben das Stocken seiner Stimme. – Was seine Chronik politisch für die Region bedeutet, zeigt sich übrigens an der offiziellen Website der Stadt Ansfelden. Die Seite, auf der mal ein Bericht darüber zu lesen war, dass Das schlechte Feld das renommierte Crossing-Europe-Festival in Linz eröffnete, ist gesperrt. Dreimal darf man raten, warum.
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Dass die Filmemacher selbst in ihren Filmen in Erscheinung treten, zog sich wie ein roter Faden durch das internationale Programm. Sie manifestierten sich als Stimme, durch persönliche Geschichten, durch Material aus dem Privatarchiv oder als Protagonisten vor der Kamera.
Letztere hat Joana Preiss durchexerziert, ihres Zeichnes französische Schauspielerin und Lebensgefährtin von Bruno Dumont, den man als Regisseur von Extremspielfilmen wie La vie de Jésus oder 29 Palms kennengelernt hat. Sie hat sich dazu entschieden, ihr Dasein als Paar vor die Kamera zu bringen, das mittel- bis schwerneurotische Krisen durchlebt. Sibérie (als Weltpremiere im Internationalen Wettbewerb) ist ein Tagebuchfilm, in dem sie eine Reise mit Dumont nach Sibirien unternimmt. Wechselseitig filmen sich Schauspielerin und Regisseur, im unausweichlichen Aneinanderkleben im engen Zugabteil während der langen Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn. Hier wird das filmische Dispositiv per se zum Inhalt: der Regisseur, dem die Schauspielerin unterstellt, sie zu manipulieren; sie selbst, scheinbar unbekümmert agierend, der unterstellt werden muss, genau zu wissen, wie sie sich vor der Kamera inszenieren kann. Dann die beiden stummen Hauptprotagonisten, zwei Videokameras, die sich wechselseitig belauern und zu Machtmitteln werden. Immer wieder ist in der Erzählung über das Paar, das sich in Liebe und Streit auseinandersetzt, auch der Wille nach einer Geschichte zu spüren, wenn es versucht, einen Streit vom Zaun zu brechen, wenn der Regisseur die Schauspielerin in volltrunkenem Zustand filmt, gegen ihren Willen. Was jedoch hier so authentisch erscheint, kann nur Fiktion sein, mit einer dem Gefilmten im Nachhinein angelegten Dramaturgie. Egal aber, ob das Tagebuch reines Fake ist oder – wie suggeriert – intimes Zeugnis einer echten Auseinandersetzung: das Grundthema, der Versuch, die Übermacht des viel älteren, erfolgreichen Regisseurs abzuschütteln, durch die Übernahme seiner filmischen Mittel blieb als spannendes Experiment auf der Schnittstelle von Dokument und Fiktion lange im Gedächtnis haften.
Jonathan Caouette kennt man seit Tarnation als unerbittlichen Psychoanalysten und Exhibitionisten der eigenen Familiengeschichte. Auch in seinem jüngsten Film hat der Macher von Musikvideos sich die eigene verquere Familie vorgenommen. WALK AWAY RENÉE zeigt seine Mutter Renée an der Schwelle zum psychotischen Schub, als er sie mit dem Auto quer durch die halbe USA nach New York in ein betreutes Wohnheim holt. Unerbittlich hält er die Kamera auf Renée, während diese immer mehr abdriftet und ihre Persönlichkeit unter den Einfluss der Psychose gerät. Das ist nicht sehr erhellend, aber qualvoll mitanzusehen. Die Frage bleibt offen, weshalb Caouette die Leidensgeschichte seiner Familie so minutiös protokolliert und als Film an die Öffentlichkeit bringt. Er macht das durchaus ästhetisch eindrucksvoll, mit einem bravourösen Mix aus Super-8-Erinnerungen, Selbstbefragungen vor der Kamera, aber auch seltsam sensationslüsternen Shots im Stil des »Reality TV«. Walk Away Renée ist wie auch schon Tarnation die therapeutische Aufarbeitung einer neurotischen Familiensituation. Das mag den Filmemacher befreien, es bleibt beklemmend für den Zuschauer, der unfreiwillig zum Voyeur degradiert wird.
Wo nicht wie bei Caouette alles erklärt wird, bleibt das Rätselhafte zurück, und die rätselhaftesten Filme macht wohl Jean-Claude Rousseau. Rousseau ist in Frankreich ein »Star« des minimalistischen Kinos, sein Werk besteht aus Filmminiaturen, die meist in Hotelzimmern entstehen, während er auf einem Festival zu Gast ist. Seine Filme sind assoziative Gedankenblitze, die sich in Andeutungen genügen. NUIT BLANCHE, die »Nachtwache«, die bei Rousseau gerade mal eine Minute vierzig Sekunden dauert, zeigt ihn, wie er nachts in einem Hotelzimmer am Fenster steht, den Vorhang zurückzieht und hinausblickt. Was er da sieht, sehen wir nicht, aber wie ein Flash unterbricht plötzlich die dunkle Stimmung des Films das weiße Bild eines Schneefelds; ein fuchsfarbenes Pferd mit wehender Mähne (eine Stute?) durchpflügt in wildem Galopp die Schneelandschaft. Und dann wieder abrupte Rückkehr in die Langweiligkeit des Hotelzimmers, die Kamera hält nun auf die eintönig vor sich hinleuchtende Stehlampe. Rousseau schafft in aller Knappheit ein mediales Miniaturereignis, hervorgerufen durch den Schnitt und den Kontrast von Helligkeit, Lebendigkeit und dunkler »Nature morte« des Innenraums. Das mag einfach erscheinen, ist bei Rousseau aber erfahrbar sinnlich, hoch komplex und bedeutet für ihn nichts weniger als die Auseinandersetzung mit Bildbetrachtung, Kunstgeschichte und Kinematographie. In aller Bescheidenheit.
Im Experimentalfilm immer schon hoch angesehen ist der Umgang mit vorgefundenem Bild- und Tonmaterial. »Found footage«, so lautet der Fachbegriff für die »Ready Mades« der Filmgeschichte. Ein klassisches Beispiel des Found Footage war der Eröffnungsfilm des Festivals, Poussières d’amérique (American Dust) des Franzosen Arnaud de Pallières. In einer Collage aus anonymem Archivmaterial bastelt de Pallières eine fiktive Kindheitsgeschichte im Amerika der 60er Jahre, die uns allen als kollektive Erinnerung dienen soll. Der Film, den de Pallières bescheiden als »Arbeitstagebuch« und »Improvisation« beschreibt, erstellt eine bombastische Textur aus Bildern der Apollo-Abenteuer, Indianer-Geschichten und prägnanter Super-8-Home-Movies, unterlegt mit einem eindrucksschindenden Score. Dazwischen hat de Pallières sein Essay, auf eine Off-Stimme verzichtend, Tafeln wie im Stummfilm eingefügt, auf denen er – für einen Stummfilm ziemlich geschwätzig – uns den großen Zusammenhang des Ganzen erklärt. Poussières d’amérique nimmt sich dabei ziemlich viel vor, als wolle der Film die Fahrt auf den Mond noch einmal als mediales Ereignis wiederholen. Dabei wirkt er aber nur selbstverliebt und anmaßend, gerade so, als hätte er ihn eben erst erfunden: den Found-Footage-Film.
Andere Filme des Programms, die ebenfalls mit altem Material arbeiteten, übten sich in der Disziplin des Filmrecyclings. Längst vergessene Aufnahmen erweckten die Filmemacher im »Lost & Found«-Gestus zu neuem Leben, indem sie sie aus einer Archiv-Schublade hervorzogen und sie durch die Materialmontage zu Filmen machten.
Bedrückend, eindrucksvoll und voll Wehmut der Versäumnis war Just Shoot Me der Brasilianerin Claudia Nunes im Internationalen Wettbewerb. Zwanzig Jahre ließ sie die Aufnahmen von Straßenkindern ungesehen in ihrem Video-Archiv liegen, und hat, nachdem sie einige Kinder von damals wiedergefunden hat, zu einem filmischen Mosaik zusammengesetzt. Ein Zeugnis über eine vergangene Misere manifestiert sich, eine filmische Erinnerung an das Überleben im No Future der 80er Jahre, verlebendigt durch die Kinder, die sich selbst filmen, und die ohne Scheu gnadenlose Statements vor der Kamera abgeben. Nur: damals war es ein Straßenprojekt, das die Kinder resozialisieren sollte, es war der augenblickliche Ausdruck des Daseins der Kinder, der sich im doppeldeutigen Hier und Jetzt des Titels (»Shoot me!«) offenbart. Nunes hat darauf verzichtet, ihrem Film einen Vorspann zu geben, der erklärt, weshalb das Material damals vor zwanzig Jahren liegen blieb. Auch bindet sie die wiedergefundenen Protagonisten nicht in den neuen Film ein. Daraus ergibt sich eine ziemliche Ratlosigkeit des Zuschauers gegenüber dem Material: Sollen wir die filmische Kraft der Bilder bewundern? Sollen wir das damalige Schicksal der Kinder bedauern? Zu gerne hätte man erfahren, wie sich die Situation verändert hat, ob Straßenprojekte überhaupt greifen, was aus den Wenigen, die die Straße überlebt haben, geworden ist. Unabhängig davon entsteigt aber zwischen den Bildern dieses kollektiven Portraits eine große Aussagekraft, die sagt: Diese Bilder hier haben nichts von ihrer politischen Notwendigkeit eingebüßt, sie sind zwar vergangen, aber vielleicht sind sie auch zeitlos. Und damit immer noch aktuell, unabhängig von den Schicksalen der Einzelnen.
Anders der Film mit dem vielleicht witzigsten Titel des Festivals: VIKINGLAND, der ebenfalls im Internationalen Wettbewerb lief, lieferte Zeugnis ab von spaßiger Sorglosigkeit und war dabei unglaublich altbacken. Der Filmemacher Xurxo Chirro, Archivar beim baskischen Regionalfernsehen, hat in den Regalen des Fernsehsenders vier VHS-Kassetten mit Aufnahmen von einer Bootsfahrt gefunden. Sie dokumentieren eine lustige Reise gestandener Seemänner, die sich zum ersten Mal mit der Videokamera versuchen. Chirro hat versucht, aus den improvisierten Szenen, in denen die Seeleute sich untereinander filmen und dabei ordentlich Spaß haben, einen Film zu machen. Folgt man dem FID-Marseille-Katalog, so ging es ihm auch darum, eine »Hommage an die Praxis des Amateurs« zu vollziehen. Zwar mit sehr netter VHS-Patina, aber, im Zeitalter des Bilder-Overkills mit einer Unzahl ähnlicher Aufnahmen: Who cares?
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Filmrecycling mit hohem Anspruch kann eine Neusichtung der Bilder bedeuten, ein Drehen der Bilder in einem Kreis, das eine neue Aussage zum Vorschein bringt. Genau dies macht der französisch–polnische Regisseur Lech Kowalski in seinem neuesten Film The End of the World Begins With One Lie, der in Marseille in Uraufführung gezeigt wurde. Kowalski hat sich die Methode von Godard angeeignet, der auf seinem Videotisch Szenen aus bekannten Filmen isoliert, sie immer wieder aufs Neue betrachtet, neuem Material gegenüberstellt und einen klugen Kommentar dazu spricht, der nicht weniger als sezierend wirkt. Kowalski hat sich dazu die Louisiana Story des Dokumentarfilmpioniers Robert Flaherty von 1948 vorgenommen. Der Film, der, wie uns Kowalski glauben machen will, den Oskar für den Besten Dokumentarfilm erhalten hat (in Wirklichkeit aber für das Beste Drehbuch nominiert war), schildert das Abenteuer eines Jungen aus Louisiana, der miterlebt, wie die Männer der Standard Oil Company auf dem Land seiner Eltern nach Schwarzem Gold bohren. Bei der Eruption des Öls kommt es zur wohl ersten Ölkatastrophe des Neuen Erdöl-Zeitalters. Kowalski pickt sich wenige Szenen aus dem Film heraus: der Verkauf des Landes, die Versuche, die Leitung in den Boden zu bohren, sein Kampf mit einem Alligator, bis er ihn endlich fangen kann und tötet und die Haut triumphal in die Kamera hält. Diese verschränkt er mit Funden aus dem Internet, Berichte und Analysen über die bis dato größte Ölkatastrophe am Golf von Mexiko im Jahre 2010. Kowalski hat recherchiert und erklärt uns aus dem Off, dass Flahertys Film von der Standard Oil Company finanziert wurde, die Louisiana Story also ein Propagandafilm der Industrie sei. Für ihn ist der Film eine Art Urknall für die späteren Naturkatastrophen, in seiner begeisterten Darstellung der Ölförderung – trotz kleiner Ölpest am Ende. Kowalski hat die Spielfilmszenen oft einfach laufen lassen, viel zu lang und unkommentiert, so dass man ganz abtauchen konnte in die Szenen. Auf der anderen Seite die Analysen der Internetseiten: Da ballt sich die Information in wenige Bildpixel, zu viel für eine Betrachtung als Bewegtbild. Kowalski macht es anders als Godard: Er moquiert sich über die Versuche eines analytischen Verstehens und setzt uns wieder dem aus, worum es im Kino eigentlich geht: dem dunklen Gefühl.