16.05.2013

Mögliches Leben, Mögliches Überleben

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Mit bayerischen Accessoires:
Cesar’s Grill von Dario Aguirre

Das Schweizer Dokumentarfilmfestivals Visions du Réel zeigt wenig amüsante Welten

Von Dieter Wieczorek

Jeder stirbt für sich allein, ist eine gängige Volks­weis­heit. Und doch, der im Kurz­film­wett­be­werb Nyons präsen­tierte Film Maria von Claudiu Mitcu offeriert eine Szene, in der die Todes­ein­sam­keit auf ein Minimum beschränkt werden kann. Maria liegt auf dem Ster­be­bett, in einer dörf­li­chen Gegend irgendwo in Rumänien. Dort ist sie umgeben von ihren schnat­ternden, singenden Freun­dinnen und Verwandten, Kindern und Enkeln, und schaut dem Tod gelassen entgegen. »So ist das Leben«, sagt sie. Ihre Vertrauten lassen sie eintau­chen in gemein­same Erin­ne­rungen, lassen ihr Leben noch einmal Revue passieren, bespre­chen gar in ihrer Gegenwart die prag­ma­ti­schen Fragen zum Beer­di­gungs­ab­lauf. Mitsus Film erinnert daran, was in unseren hygie­ni­schen, admi­nis­tra­tiven, »modernen« Gesell­schaften verloren ging. Spezia­listen treten in Maria nicht auf, lediglich Gleich­ge­sinnte und Mitfüh­lende.

Eigent­lich hatte sich der Ecuador stammende Dario Aguirre in Deutsch­land schon heimisch gefüllt, als ihn der Anruf seines Vaters erreicht, der mit seinem kleinen Restau­rant vor dem Bankrott steht. So reist er zurück in sein Herkunfts­land, mit einem Gedanken: seine eigene Vergan­gen­heit mit der Kamera einzu­fangen. Kaum zurück­ge­kehrt ist er am Heimatort noch zusätz­lich mit der Todes­krank­heit seiner Mutter konfron­tiert. Nur wenige Wochen bleiben ihnen gemeinsam. Aguirre zeigt vor allem, wie sich durch die Kamera das bisher eher distan­zierte Verhältnis zwischen Vater verändert. Erst jetzt beginnt ein Dialog. Als der Vater nach dem Tod seiner Frau sich einer erneuten Liebe öffnet, wird der Sohn zu einem vertrauten Freund. Cesars Grill, eine­deutsch-schwei­ze­ri­sche Kopro­duk­tion, ist ein sehr persön­li­cher Film, der Mut macht und aufzeigt, wie verkrus­tete Bezie­hungen doch wieder aufbre­chen können. Das Film­ma­chen spielt eine kata­ly­sa­to­ri­sche Rolle und schafft neue Wirk­lich­keiten. Leben und Kunst verqui­cken sich geglückt.

Die belgisch-tunesisch-qata­ri­sche Kopro­duk­tion Democracy Year Zero kehrt zurück zu den Anfängen der Revolte oder Revolution (ganz nach Interpretationsbelieben) in Tunesien. Rekonstruiert wird die anfängliche Eruption des Ungehagens am politischen System als solchen, die weit über einen konkrete Angriff auf nur ein Regime hinaus ging. Hier artikulierte sich eine Bevölkerung, die weder ihrer medialen Virtualisierung noch den hypokriten Versprechungen des Demokratie-Simulakrums mehr Folge leisten wollte und nach direkten Eingriffsformen in politische Wirklichkeit verlangte. Das manche der alten und neuen, religiösen und politischen Machtzentren dies nicht gerne sahen, ist evident. Chris­tophe Cotteret wirft den Blick auf das langsame Schwinden der rebellischen Energie des planetaren Unmutes, immer dann, wenn wieder genug Kleingeld fliest, Home-Videokultur und Family-TV Shows sich wieder auszubreiten beginnen. Ein gewiss trauriger, auf jeden Fall wichtiger Film, der von der Schwierigkeit zeugt, dem von Ideologien übertünchten eigenen Sklaventum zu entkommen.

Zu reiner Reise nicht nur ans Ende der Welt, sondern zugleich zu einer unter­ge­henden Welt im Norden Grönlands läd Daniel Denck in The Expe­di­tion to the End of the World (Ekspe­di­tionen til verdens ende). Von über­wäl­ti­gender Schönheit sind diese Land­schaften abschmel­zender Eisberge und einer ums Überleben ringenden Tierwelt. In ihren magis­tralen Dimen­sionen zeigt Natur sich völlig unbesorgt um anthro­po­lo­gi­sche Perspek­tiven. Durch diese Unend­lich­keiten reist eine bunt gemischte Gruppe diverser Wissen­schaft­lern und Künstler, die jeweils aus ihrer Sicht, mit ihrem Zeit- und Zivi­li­sa­ti­ons­ver­s­tändnis, auf ihrem fragilen, zuweilen fast stecken blei­benden Boot kommen­tieren, was sich vor ihren Augen ereignet: die Vorzei­chen einer unter­ge­henden Zivi­li­sa­tion. Die einen tun’s melan­cho­lisch, die anderen gutge­launt zynisch. Der Mensch war viel­leicht nur eine Fehl­pro­gram­ma­tion der Natur.

Sebastian Mez reist zu einem der radio­aktiv verstrahl­testen Zonen des Planeten, wo doch noch Menschen sich behaupten. In der Gegend um das im Südural liegende Kern­kraft­werk »Mayak«, Test­stätte für Nukle­ar­waffen, ist der unsicht­baren Tod spürbar, der vom strah­lenden Fluss in Häuser und Gärten dringt. Das Unglaub­liche mit Vorsicht und Deli­ka­tesse filmend schafft Sebastian Mez (Deutsch­land) in Meta­mor­phosen ein meta­pho­ri­schen Bild einer todge­weihten Gruppe, die mit Würde und Gelas­sen­heit ihren Tages­ge­schäften und alltäg­li­chen Verrich­tungen nachgeht, die für den Zuschauer aller­dings alles andere als banal erscheinen.

Verseucht in meta­pho­ri­schen Sinne war auch die Kommune Otto Mühls in den 70ger Jahren. Dort wirkte und wirbelte er als Allein­un­ter­halter, Utopist, Tyrann und Guru und zog Hunderte von Menschen in seinen Bann, mit einem bril­lanten Stil­mittel: freie Sexua­lität aller mit allen. Was sympa­thisch klingt und gewiss mangelt, wird doch zum massiven Problem, wenn Kinder ohne eigene Willens­kraft in diesen Rausch einbe­zogen werden. Dreissig Jahre später erst ist der Zeitpunkt einer Abrechung gekommen. Die einstigen Kinder haben die Kamera selbst in die Hand genommen und stellen Fragen an ihre Kommune-Eltern, genauer gesagt, ihre Mütter, aus einsich­tigen Gründen. Rituelle Schuld­ge­ständ­nisse zum einen, anhal­tende Wirk­lich­keits­flucht und Verken­nungs­stra­te­gien zum anderen kenn­zeichnen den heutigen Stand der Dinge. Die dialog­freu­dige, rheto­risch topfite Diktatur des Kraft­zen­trums Mühl wird selbst noch in den Archiv­ma­te­ria­lien spürbar, die in Paul-Julien Roberts öster­rei­chi­schem Film Meine kleine Familie einfliessen.

Dass allein eine Freund­schaft schon Politik sein kann zeigt Avi Mograbi in seinem in Nyon gezeigten Werk Once I entered a Garden (Nichnasti Pa’am Lagan). Der für seine herbe Kritik am eigenen Land bekannte israe­li­sche Filme­ma­cher doku­men­tiert hier das Zusam­men­treffen mit seinem arabi­schen Freund Ali und dessen quick­vi­taler Tochter. Diese nebenbei verhält sich oft prag­ma­ti­scher als die beiden älteren Herren, die sich zuweilen von Emotionen und Erin­ne­rungen an bessere Tage davon reissen lassen. Fotoalben werden durch­blät­tert, Musik erklingt, an die verge­benen Chancen einer Wende und Annähe­rung zwischen den Lagern wird erinnert. Gemeinsam reisen sie durch das gespal­tene Land. Die erstarrte Zeitzone des Jetzt-und-Hier wird konfron­tiert mit den in der Erin­ne­rung noch präsenten Poten­zia­litäten der Vergan­gen­heit. Viel ist verloren, und doch noch nah. Heute ist die Wirk­lich­keit zur Ideologie und Macht­po­litik erstarrt, und doch…allein der Dialog zwischen den beiden Männern eröffnet eine nicht bloss illu­so­ri­schen Hoffnung auf eine andere, noch mögliche Zukunft.

Ein Welt­fes­tival des Doku­men­tar­films wäre kein solches, wenn es nicht zu jedem Film auch sein Gegen­s­tück gäbe. Und zu dem vorsichtig hoff­nungs­vollen Klang in Mograbis Film liefert Yotam Feldmann in HaMaabada das herb realis­ti­sche Gegen­s­tück. Feldmans These ist so einfach wie über­zeu­gend. Es kann zwischen Israel und den Paläs­ti­nen­sern keinen Frieden geben, da der israe­li­sche Staat zu seinem Eigen­er­halt substan­ziell auf seine Waffen­ex­porte ange­wiesen ist, die ihm ein jähr­li­ches Geld­vo­lumen von 7 Billionen Dollar mit stei­gender Tendenz sichern. In Israel werden neue Waffen nicht nur erfunden und produ­ziert, sondern auch erprobt und prak­ti­ziert, wie etwa der Kassen­schlager, das Corner-Shot-Gewehr, das Sucher und Gewehr­lauf trennt und daher das risi­ko­lose ziel­lauf­ge­steu­erte Abtöten um die Hausecke herum ermög­licht. Das Erfolgs­kon­zept Israels: nur erprobte Waffen werden angeboten, sich im Gueril­la­krieg bereits bewährt haben. Ihre Effizienz ist statis­tisch belegbar, eigene Verluste mit der Anzahl der besei­tigten Feinde verglei­chend. Dieser Erfolgs­ko­ef­fi­zient überzeugt die Kunden. Jenseits allen – immerhin noch mensch­li­chen – Zynismus kommen hier Generäle, Staats­be­auf­tragte, Poli­zei­of­fi­ziere und Waffen­händler aus alle Welt zusammen, tätig in brasi­lia­ni­schen Favelas und überall, wo Bevöl­ke­rungen sich zur Wehr zu setzen versucht. Sie werden gut beköstigt und von char­mantem Personal umsorgt, das ihnen die neuen Waffen­sys­teme gut gelaunt in animierten Bildern wie frische Kinder­kost serviert. Auch Hand­an­legen dürfen die Kunden selbst­re­dend in sport­li­chen Übungen, um sich von der Waffen­ef­fi­zienz zu über­zeugen. Ein Riesen­deal und alle sind zufrieden. Auf den Märkten und Salons der Welt­waf­fen­in­dus­trie sind israe­li­sche Stände die meist besuchten. Feldmann wird von dort mit seiner Kamera von Sicher­heits­kräften vertrieben. Auch dies sieht man in seinem fast schmerz­haft über­klaren Film. Dieses wohl provo­ka­tivste Werk der Visions du Réel »2013 sollte jedem naiven Reflek­tieren auf Frie­dens­pro­zesse und Annähe­rung in Erin­ne­rung gerufen werden. Nicht was inten­diert ist, zählt, sondern was Kasse macht«.