24.04.2014

Kame­ras­ti­listik und Archive

Andrzej Zulawskis Diabel
Ein unbändiger Film: Andrzej Zulawskis Diabel
(Foto: Przedsiębiorstwo Dystrybucji Filmów)

Das Mekka des mittel- und osteuropäischen Films liegt im Westen – Über das 14. GoEast-Festival in Wiesbaden

Von Dunja Bialas

Wiesbaden hat nicht nur einen Stadtteil mit dem schönen Namen »Bierstadt«. Es hat auch Casinos, Ther­mal­bäder und öffent­liche Brunnen mit heißem Wasser. Auf den leeren, pracht­voll-pompösen Plätzen der Stadt kann man in ihnen nachts seine Hände baden und sich zwischen den klas­si­zis­ti­schen Säulen verste­cken. Vor langer Zeit, Ende des vorletzten Jahr­hun­derts, wurde plötzlich ein Spiel­verbot über die Casinos der Stadt verhängt, die Thermen, die man aufmachte, gehören heute zum mondänen Flair der Stadt, wie die Casinos und die Hotels, in denen man ein Vermögen loswerden kann. Dosto­jewski verlor sich an den Roulette­ti­schen in seiner Spiel­lei­den­schaft und verzockte fast seine Existenz. Nur »Der Spieler«, der er selbst war, konnte ihn letztlich retten.

Dosto­jewski ist nicht der einzige, aber wohl der berühm­teste Russe, der hier den Rubel rollen ließ. Zahl­reiche andere kamen über die Jahr­hun­derte in die Stadt, immer wieder, ließen die Kugel im Glücksrad springen, horchten auf ihr Einrasten und warteten gebannt darauf, dass das Rad zum Stehen kam. Immer und immer wieder spielten sie ihr russi­sches Roulette, badeten zwischen­drin in den warmen Ther­mal­quellen, und kehrten als übrig­ge­blie­bene Reste ihrer Exis­tenzen in den Osten zurück.

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Diese histo­ri­sche Verbin­dung zu den Russen und Osteu­ropäern im Allge­meinen mag das Deutsche Film­in­stitut in Frankfurt am Main vor 13 Jahren bewogen haben, in der west­deut­schen Kurstadt ein Festival zu gründen, das sich ganz dem mittel- und osteu­ropäi­schen Film widmet: das GoEast-Festival. Claudia Dillmann, die damals dem Deutschen Film­in­stitut noch in stell­ver­tre­tender Position vorstand, leitete das Festival in den ersten drei Jahren selbst und konnte aus dem Stand als Vertre­terin eines respek­ta­blen Instituts mehrere Wett­be­werbs­reihen mit hoch­do­tierten Preisen etablieren. Dies gab sicher­lich den Ausschlag dafür, dass sich das Festival vom ersten Jahr an beim inter­na­tio­nalen Film­pro­du­zen­ten­ver­band FIAPF als A-Festival akkre­di­tieren konnte, obgleich im Wett­be­werb über­wie­gend deutsche Premieren laufen, anders als in Berlin oder Cannes, wo Welt­pre­mieren verlangt werden. Heute vergibt es in mehreren Wett­be­werben u.a. einen Preis für den Besten Film, den Besten Doku­men­tar­film und für die Beste Regie, jeweils mit 10000 bzw. 7500 Euro ausge­stattet. Das ist beacht­lich. Auch der Verband der inter­na­tio­nalen Film­kritik, die Fipresci, schickt eine eigene Jury zum GoEast, was einer Adelung des Programms gleich­kommt.

Filmszene <q>Wenn es Nacht wird in Bukarest oder Meta­bo­lismus</q>
»Das was wichtig ist, ist immer im Zentrum«: Porum­boius Când se lasa seara peste Bucuresti sau meta­bo­lism / Wenn es Nacht wird in Bukarest oder Meta­bo­lismus

Die Stil­per­fek­tio­nisten

Reichtum verliert sich, aber Adel verpflichtet – so wird in Wiesbaden vor allem dem jungen Arthouse-Kino Osteu­ropas gehuldigt.

Corneliu Porumboiu Police, Adjective, der dieses Jahr im Forum der Berlinale seinen doku­men­ta­ri­schen Genie­streich Al doilea joc (The Second Game) zeigen durfte (gemeinsam mit seinem Vater sieht er ein Fußball­spiel auf Video, bei dem sein Vater Schieds­richter gewesen war und sie kommen­tieren aus dem Off), konnte in Wiesbaden mit seinem jüngsten Spielfilm Când se lasa seara peste Bucuresti sau meta­bo­lism / Wenn es Nacht wird in Bukarest oder Meta­bo­lismus als pedan­ti­scher, aber genialer Perfek­tio­nist entdeckt werden. Meta­bo­lismus, das ist die Gesamt­heit aller chemi­schen Prozesse von Lebewesen, und um den zwischen­mensch­li­chen Stoff­wechsel zwischen einem Regisseur und einer Schau­spie­lerin geht es im Film des Rumänen. Porumboiu zeigt vor allem ihre Gespräche, in langen, span­nungs­vollen Einstel­lungen, und seziert aus ihnen heraus das Ungleich­ge­wicht und das Kippen ihres Liebes- und Arbeits­ver­hält­nisses. Meta­bo­lism ist auch ein Film über das Filme­ma­chen: Der Regisseur disku­tiert mit der Schau­spie­lerin eine Szene, lässt diese die Szene panto­mi­misch ausführen, die »echte« filmische Insze­nie­rung bekommen wir jedoch nie zu sehen. Reali­täts­wert erhalten diese Trockenü­bungen durch die Lügen, die durch das Telefon den anonym blei­benden Anrufern erzählt werden (»wir haben gerade gedreht«) und durch die unfrei­wil­lige Real­wer­dung der binnen­fil­mi­schen Szenen auf diege­ti­scher Ebene. »Das was wichtig ist, ist immer im Zentrum«, lässt Porumboiu einmal seinen Regisseur-im-Film sagen. Was bei Porumboiu im Zentrum steht, ist das scheinbar Neben­säch­liche, das Beiläu­fige und das Prozess­hafte, sein Film ist eine Reihung von filmi­schen Neben­sätzen. Insze­niert wird dabei meist über die Mitte des Bildes, die oft leer bleibt, wie bei den Tisch­ge­sprächen im Restau­rant, wo sich die Essenden gegenüber sitzen, oder über­de­ter­mi­niert, wenn in Bildmitte ein Türrahmen den Blick auf eine Szene freigeben müsste, diese aber durch den Regisseur halb verstellt wird, der mit dem Rücken zum Zuschauer die Schau­spie­lerin in einer – panto­mi­mi­schen – Szene dirigiert.

Die Meis­ter­schaft, mit der Porumboiu hier das Filme­ma­chen als zwischen­mensch­liche Austausch­pro­zesse darstellt, immer an der Kippe zwischen Lüge und Wahrheit, zeugt von einem Perfek­ti­ons­an­spruch, dem auch sein Regisseur-im-Film verfallen ist. Ähnliche Perfek­tion konnte in Pawel Pawli­kow­skis Ida entdeckt werden. Ebenfalls stark mit der Kadrie­rung arbeitend, in Schwarz­weiß und einer 60er-Jahre-Bild­sprache gehalten, reist er in dem Roadmovie eines sehr unglei­chen Paares (die Novizin Anna, die bald ihr Gelöbnis ablegen wird und ihre erotisch-verru­chene Tante Wanda) in das dunkle Kapitel Polens zur Zeit der deutschen Besatzung: Annas Eltern sind Opfer des Holo­causts. Somit ist Anna, die nach dem Tod ihrer Eltern in einem katho­li­schen Kloster aufwuchs, jüdisch, ihr bevor­ste­hendes Keusch­heits­gelöbnis schick­sals­haft, dem sie entkommen soll, ginge es nach dem Willen Wandas. Ida, zum bundes­weiten Filmstart auch Eröff­nungs­film von GoEast, wählte die Jury unter Vorsitz des Kubrick-Produ­zenten Jan Harlan zum Besten Film. Eine Entschei­dung, die dem künst­le­ri­schen Anspruch von Ida huldigt, und die erste dotierte Auszeich­nung des Films jenseits natio­naler Heim­spiele wie dem BFI Film­fes­tival London (wo Pawli­kowski lebt), dem Warschauer Film­fes­tival und dem polni­schen Camer­image.

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Wiesbaden hat wunder­schöne Kinos. Welches ist das schönste in der Stadt? Das Alpha / Atelier / Apollo? Triple-A mit 70er-Jahre-Charme, von außen sieht es trashig aus, fast wie ein altes Porno-Bahn­hofs­kino. Oder das vornehme Deutsche Filmhaus der Murnau-Stiftung, es ist ganz neu, das die Fenster in der Fassade aufreiht, als seien sie Kader in Zelluloid. Vor der Leinwand öffnet und schließt sich ein Vorhang aus – mindes­tens – goldenem Brokat. Und dann ist da noch die Caligari Filmbühne. Allein das Wort: Filmbühne! Hier betreten die Filme Bretter, die die Welt bedeuten. Von der hoch-hohen Decke herab beugen sich jugend­stil­ge­mäße Fanta­sieblüten in Schwarz an langen goldenen Stengeln. Hier möchte ich, bitte, noch einma L’inhumaine sehen, von Marcel L’Herbier, aus dem Jahre 1924 (das Caligari gibt es seit 1926). Volker Schlön­dorff sagte einmal, dies sei das schönste Kino im ganzen Land. Ich glaube fast, das stimmt.

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Zurück zu dem, was sich auf den Lein­wänden abspielte. Der Versu­chung, einen etablierten Regisseur wie Pawli­kowski oder Porumboiu auszu­zeichnen, wider­stand die Jury der Fipresci. Mit Free Range – Ballaad maailma heaks­kiit­mi­sest (Free Range – Ballade von der Billigung der Welt) des Esten Veiko Õunpuu übergab sie ihren Preis an einen Film, der aus dem Berlinale-Forum für Wiesbaden ausge­wählt wurde. Der Neben­titel des Films ist der gleich­na­migen Ballade von Bertolt Brecht entliehen, wo es in der Schluss­strophe heißt: »Da Nied­rig­keit und Not mir nicht gefällt / Fehlt meiner Kunst in dieser Zeit der Schwung / Doch zu dem Schmutze Eurer schmut­zigen Welt / Gehört – ich weiß es – meine Billigung.«
Genau so, sich der Billigung des Schmutzes der Welt verwei­gernd, um nicht selbst zu Schmutz zu werden, verhält sich der rebel­li­sche Prot­ago­nist, ein aus einer Zeit­schrif­ten­re­dak­tion wegen eines Verrisses zu Terrence Malicks Erbauungs-Epos The Tree of Life gechasster Film­kri­tiker, der sich dennoch – als möglicher Schwie­ger­sohn in spe mit aner­kannten Schreib­ta­lenten – der Protek­tion des Heraus­ge­bers erfreuen könnte, würde er es nur zulassen. Statt­dessen sucht er sich Arbeit als Gabel­stap­ler­fahrer, und tut auch hier alles, um nicht Teil des allge­gen­wär­tigen Schmutzes zu werden. Free Range ist eine Ballade eines bewussten Außen­sei­ters, der sich eine poetische Welt zu erhalten sucht, eine Welt des Anar­chismus voll jugend­li­cher Anpas­sungs­ver­wei­ge­rung. Auffällig ist auch hier wieder die extreme Bild­ge­stal­tung. Hier ist alles – wiederum perfekt – durch­ge­stylt, diesmal in einer Ästhetik, die an die Fotos erinnern, wie sie im deutschen NEON-Magazin (für jugend­liche Erwach­sene) stil­bil­dend wurden: ins Weiße hinein über­be­lich­tete Aufnahmen treffen auf Vintage-Klamotten und Do-it-yourself-Interieur. Dazu ein Plot, der junges Glück im Unglück zeigt: Sie ist schwanger, er verwei­gert sich der Verant­wor­tung. So bleibt Free Range in seiner ausge­feilten Ästhetik im Grunde ein Stilübung, die ihr Styling jedoch – anders als beispiels­weise in Ida oder Meta­bo­lism – allzusehr ausstellt, und letztlich den Blick hinter die Ober­fläche verstellt.

Filmszene <q>Ilumi­nacja</q>
Traumhaft: Illu­mi­nacja von Krzysztof Zanussi im »Symposium«

Auf der Suche nach einer polnische Nouvelle Vague

Der Perfek­ti­ons­per­for­mance im inter­na­tio­nalen Wett­be­werb konnte man im »Symposium« entkommen, der mit akade­mi­schen Anspruch verse­henen Retro­spek­tive des Festivals, kuratiert von der Film­wis­sen­schaft­lerin Margarete Wach. Es machte sich dieses Jahr auf die Suche nach einer polni­schen Nouvelle Vague. »Man musste sich (in den 60er Jahren) nicht nur von den Zwängen eines bürger­li­chen Kultur­be­triebs befreien, sondern auch von den falschen Bildern der tota­li­tären Mani­pu­la­tion«, stellt Wach einlei­tend fest, zur umfas­senden Reihe mit zwölf Lang­filmen und zahl­rei­chen Kurz­filmen von Roman Polanski, Jerzy Skoli­mowski, Witold Leszc­zynski, Krzysztof Zanussi, Marek Piwowski, Grzegorz Kroli­kie­wicz und Andrzej Zulawski. Das Frage­zei­chen im Titel des Sympo­siums (»Nouvelle Vague polonaise?«) sollte wohl eher der Analo­gi­sie­rung zu Frank­reich gelten, die auf der Basis der Zeit­gleich­heit getroffen wurde. Unbe­stritten ist die unge­zähmte Wildheit der program­mierten Filme, die Lust auf Expe­ri­mente und die Betonung des filmi­schen Ausdrucks, der in Leszc­zyn­skis stillem Film Das Leben des Matthäus (1967) an Tarkowski erinnerte, in den alptraum­haften Kostüm­filmen Zulawskis sich hingegen als perma­nentes Aufschreien lauthals Gehör verschaffte (Der dritte Teil der Nacht, 1971, Diabel, 1972,). Heraus­ra­gend war Zanussis Ilum­niacja (1972) über das stete Fragen eines jungen Wissen­schaft­lers, der schließ­lich an der Unbe­re­chen­bar­keit der eigenen Physis scheitert. Hier verbindet sich eine starke Erzählung mit expe­ri­men­teller Erzähl­struktur, immer wieder wird das wissen­schaft­liche Expe­ri­ment symbol­hafte Hinter­fra­gung für das, was die Welt in ihrem Innersten zusam­men­hält.

Wie sehr Wissen­schaft narrativ werden kann, zeigte auch Zulawskis Der dritte Teil der Nacht, einem Zweiten-Welt­kriegs-Drama, das insze­nierte, wie Impfstoff gegen den auch als »Kriegs­pest« genannten Typhus aus den Därmen infi­zierter Läuse gewonnen wurde – was histo­risch verbürgt ist. Der dritte Teil der Nacht folgt erzäh­le­risch wie auch der berüch­tigte Diabel einem von der Zeit­ge­schichte (bzw. vom Teufel selbst) gehetzten Prot­ago­nisten, es sind atemlose Filme, die immer wieder in wilde Perfor­mances ihrer Schau­spieler münden.

Und was eigent­lich macht Skifahrer Franz Klammer in voller Montur in einem Wasser­be­cken? Der viel­leicht schönste, weil über­ra­schendste und mit aufrich­tigem Spaß insze­nierte Kurzfilm des Sympo­si­ums­pro­gramms Sceny narciar­skie z Franzem Klammerem / Skiszenen mit Franz Klammer von Bogdan Dziworski (1980) zeigt Franz Klammer in allen Skilagen: den Hang hinun­ter­ra­send, im Windkanal und eben auch im strom­li­ni­en­för­migen Unter­was­ser­test der Skiaus­rüs­tung.

Blick in die Archive Bosniens und Herze­go­winas

Beste­chend war dann noch die Archiv-Schau der Kinoteka Bosne i Hece­go­vine. Jedes Jahr lädt GoEast ein mittel- oder osteu­ropä­si­sches Archiv ein, seine Schätze im Caligari-Kino zu zeigen. Ob doku­men­ta­ri­sche Zeugnisse, wie der Film über die Arbeiter in einem Stein­bruch (Hop Jan, 1967), Monta­ge­filme über den Wandel der Zeit, wo folk­lo­ris­ti­sche Tradition mit sozia­lis­ti­scher Tristesse und jugend­li­chen Ost-Beatniks zusam­men­treffen (Kasabe, 1977), Propa­ganda in Dekon­struk­tion durch die Paral­lel­mon­tage zwischen dem 2. Selbst­ver­wal­tungs­kon­gress und dem Verdecken eines vom Staat vernach­läs­sigten Viertel durch Partei­pla­kate (Fasade, 1972): auch Bosnien-Herze­go­wina hatte seine »Nouvelle Vague«.