Kamerastilistik und Archive |
||
Ein unbändiger Film: Andrzej Zulawskis Diabel | ||
(Foto: Przedsiębiorstwo Dystrybucji Filmów) |
Von Dunja Bialas
Wiesbaden hat nicht nur einen Stadtteil mit dem schönen Namen »Bierstadt«. Es hat auch Casinos, Thermalbäder und öffentliche Brunnen mit heißem Wasser. Auf den leeren, prachtvoll-pompösen Plätzen der Stadt kann man in ihnen nachts seine Hände baden und sich zwischen den klassizistischen Säulen verstecken. Vor langer Zeit, Ende des vorletzten Jahrhunderts, wurde plötzlich ein Spielverbot über die Casinos der Stadt verhängt, die Thermen, die man aufmachte, gehören heute zum mondänen Flair der Stadt, wie die Casinos und die Hotels, in denen man ein Vermögen loswerden kann. Dostojewski verlor sich an den Roulettetischen in seiner Spielleidenschaft und verzockte fast seine Existenz. Nur »Der Spieler«, der er selbst war, konnte ihn letztlich retten.
Dostojewski ist nicht der einzige, aber wohl der berühmteste Russe, der hier den Rubel rollen ließ. Zahlreiche andere kamen über die Jahrhunderte in die Stadt, immer wieder, ließen die Kugel im Glücksrad springen, horchten auf ihr Einrasten und warteten gebannt darauf, dass das Rad zum Stehen kam. Immer und immer wieder spielten sie ihr russisches Roulette, badeten zwischendrin in den warmen Thermalquellen, und kehrten als übriggebliebene Reste ihrer Existenzen in den Osten zurück.
+ + +
Diese historische Verbindung zu den Russen und Osteuropäern im Allgemeinen mag das Deutsche Filminstitut in Frankfurt am Main vor 13 Jahren bewogen haben, in der westdeutschen Kurstadt ein Festival zu gründen, das sich ganz dem mittel- und osteuropäischen Film widmet: das GoEast-Festival. Claudia Dillmann, die damals dem Deutschen Filminstitut noch in stellvertretender Position vorstand, leitete das Festival in den ersten drei Jahren selbst und konnte aus dem Stand als Vertreterin eines respektablen Instituts mehrere Wettbewerbsreihen mit hochdotierten Preisen etablieren. Dies gab sicherlich den Ausschlag dafür, dass sich das Festival vom ersten Jahr an beim internationalen Filmproduzentenverband FIAPF als A-Festival akkreditieren konnte, obgleich im Wettbewerb überwiegend deutsche Premieren laufen, anders als in Berlin oder Cannes, wo Weltpremieren verlangt werden. Heute vergibt es in mehreren Wettbewerben u.a. einen Preis für den Besten Film, den Besten Dokumentarfilm und für die Beste Regie, jeweils mit 10000 bzw. 7500 Euro ausgestattet. Das ist beachtlich. Auch der Verband der internationalen Filmkritik, die Fipresci, schickt eine eigene Jury zum GoEast, was einer Adelung des Programms gleichkommt.
Reichtum verliert sich, aber Adel verpflichtet – so wird in Wiesbaden vor allem dem jungen Arthouse-Kino Osteuropas gehuldigt.
Corneliu Porumboiu Police, Adjective, der dieses Jahr im Forum der Berlinale seinen dokumentarischen Geniestreich Al doilea joc (The Second Game) zeigen durfte (gemeinsam mit seinem Vater sieht er ein Fußballspiel auf Video, bei dem sein Vater Schiedsrichter gewesen war und sie kommentieren aus dem Off), konnte in Wiesbaden mit seinem jüngsten Spielfilm Când se lasa seara peste Bucuresti sau metabolism / Wenn es Nacht wird in Bukarest oder Metabolismus als pedantischer, aber genialer Perfektionist entdeckt werden. Metabolismus, das ist die Gesamtheit aller chemischen Prozesse von Lebewesen, und um den zwischenmenschlichen Stoffwechsel zwischen einem Regisseur und einer Schauspielerin geht es im Film des Rumänen. Porumboiu zeigt vor allem ihre Gespräche, in langen, spannungsvollen Einstellungen, und seziert aus ihnen heraus das Ungleichgewicht und das Kippen ihres Liebes- und Arbeitsverhältnisses. Metabolism ist auch ein Film über das Filmemachen: Der Regisseur diskutiert mit der Schauspielerin eine Szene, lässt diese die Szene pantomimisch ausführen, die »echte« filmische Inszenierung bekommen wir jedoch nie zu sehen. Realitätswert erhalten diese Trockenübungen durch die Lügen, die durch das Telefon den anonym bleibenden Anrufern erzählt werden (»wir haben gerade gedreht«) und durch die unfreiwillige Realwerdung der binnenfilmischen Szenen auf diegetischer Ebene. »Das was wichtig ist, ist immer im Zentrum«, lässt Porumboiu einmal seinen Regisseur-im-Film sagen. Was bei Porumboiu im Zentrum steht, ist das scheinbar Nebensächliche, das Beiläufige und das Prozesshafte, sein Film ist eine Reihung von filmischen Nebensätzen. Inszeniert wird dabei meist über die Mitte des Bildes, die oft leer bleibt, wie bei den Tischgesprächen im Restaurant, wo sich die Essenden gegenüber sitzen, oder überdeterminiert, wenn in Bildmitte ein Türrahmen den Blick auf eine Szene freigeben müsste, diese aber durch den Regisseur halb verstellt wird, der mit dem Rücken zum Zuschauer die Schauspielerin in einer – pantomimischen – Szene dirigiert.
Die Meisterschaft, mit der Porumboiu hier das Filmemachen als zwischenmenschliche Austauschprozesse darstellt, immer an der Kippe zwischen Lüge und Wahrheit, zeugt von einem Perfektionsanspruch, dem auch sein Regisseur-im-Film verfallen ist. Ähnliche Perfektion konnte in Pawel Pawlikowskis Ida entdeckt werden. Ebenfalls stark mit der Kadrierung arbeitend, in Schwarzweiß und einer 60er-Jahre-Bildsprache gehalten, reist er in dem Roadmovie eines sehr ungleichen Paares (die Novizin Anna, die bald ihr Gelöbnis ablegen wird und ihre erotisch-verruchene Tante Wanda) in das dunkle Kapitel Polens zur Zeit der deutschen Besatzung: Annas Eltern sind Opfer des Holocausts. Somit ist Anna, die nach dem Tod ihrer Eltern in einem katholischen Kloster aufwuchs, jüdisch, ihr bevorstehendes Keuschheitsgelöbnis schicksalshaft, dem sie entkommen soll, ginge es nach dem Willen Wandas. Ida, zum bundesweiten Filmstart auch Eröffnungsfilm von GoEast, wählte die Jury unter Vorsitz des Kubrick-Produzenten Jan Harlan zum Besten Film. Eine Entscheidung, die dem künstlerischen Anspruch von Ida huldigt, und die erste dotierte Auszeichnung des Films jenseits nationaler Heimspiele wie dem BFI Filmfestival London (wo Pawlikowski lebt), dem Warschauer Filmfestival und dem polnischen Camerimage.
+ + +
Wiesbaden hat wunderschöne Kinos. Welches ist das schönste in der Stadt? Das Alpha / Atelier / Apollo? Triple-A mit 70er-Jahre-Charme, von außen sieht es trashig aus, fast wie ein altes Porno-Bahnhofskino. Oder das vornehme Deutsche Filmhaus der Murnau-Stiftung, es ist ganz neu, das die Fenster in der Fassade aufreiht, als seien sie Kader in Zelluloid. Vor der Leinwand öffnet und schließt sich ein Vorhang aus – mindestens – goldenem Brokat. Und dann ist da noch die Caligari Filmbühne. Allein das Wort: Filmbühne! Hier betreten die Filme Bretter, die die Welt bedeuten. Von der hoch-hohen Decke herab beugen sich jugendstilgemäße Fantasieblüten in Schwarz an langen goldenen Stengeln. Hier möchte ich, bitte, noch einma L’inhumaine sehen, von Marcel L’Herbier, aus dem Jahre 1924 (das Caligari gibt es seit 1926). Volker Schlöndorff sagte einmal, dies sei das schönste Kino im ganzen Land. Ich glaube fast, das stimmt.
+ + +
Zurück zu dem, was sich auf den Leinwänden abspielte. Der Versuchung, einen etablierten Regisseur wie Pawlikowski oder Porumboiu auszuzeichnen, widerstand die Jury der Fipresci. Mit Free Range – Ballaad maailma heakskiitmisest (Free Range – Ballade von der Billigung der Welt) des Esten Veiko Õunpuu übergab sie ihren Preis an einen Film, der aus dem Berlinale-Forum für Wiesbaden ausgewählt wurde. Der Nebentitel des Films ist der gleichnamigen
Ballade von Bertolt Brecht entliehen, wo es in der Schlussstrophe heißt: »Da Niedrigkeit und Not mir nicht gefällt / Fehlt meiner Kunst in dieser Zeit der Schwung / Doch zu dem Schmutze Eurer schmutzigen Welt / Gehört – ich weiß es – meine Billigung.«
Genau so, sich der Billigung des Schmutzes der Welt verweigernd, um nicht selbst zu Schmutz zu werden, verhält sich der rebellische Protagonist, ein aus einer Zeitschriftenredaktion wegen eines Verrisses zu Terrence
Malicks Erbauungs-Epos The Tree of Life gechasster Filmkritiker, der sich dennoch – als möglicher Schwiegersohn in spe mit anerkannten Schreibtalenten – der Protektion des Herausgebers erfreuen könnte, würde er es nur zulassen. Stattdessen sucht er sich Arbeit als Gabelstaplerfahrer, und tut auch hier alles, um nicht Teil des allgegenwärtigen Schmutzes zu werden. Free Range ist eine Ballade eines bewussten Außenseiters, der sich eine poetische Welt zu erhalten sucht, eine Welt des Anarchismus voll jugendlicher Anpassungsverweigerung. Auffällig ist auch hier wieder die extreme Bildgestaltung. Hier ist alles – wiederum perfekt – durchgestylt, diesmal in einer Ästhetik, die an die Fotos erinnern, wie sie im deutschen NEON-Magazin (für jugendliche Erwachsene) stilbildend wurden: ins Weiße hinein
überbelichtete Aufnahmen treffen auf Vintage-Klamotten und Do-it-yourself-Interieur. Dazu ein Plot, der junges Glück im Unglück zeigt: Sie ist schwanger, er verweigert sich der Verantwortung. So bleibt Free Range in seiner ausgefeilten Ästhetik im Grunde ein Stilübung, die ihr Styling jedoch – anders als beispielsweise in Ida oder Metabolism – allzusehr ausstellt, und letztlich den Blick hinter die Oberfläche verstellt.
Der Perfektionsperformance im internationalen Wettbewerb konnte man im »Symposium« entkommen, der mit akademischen Anspruch versehenen Retrospektive des Festivals, kuratiert von der Filmwissenschaftlerin Margarete Wach. Es machte sich dieses Jahr auf die Suche nach einer polnischen Nouvelle Vague. »Man musste sich (in den 60er Jahren) nicht nur von den Zwängen eines bürgerlichen Kulturbetriebs befreien, sondern auch von den falschen Bildern der totalitären Manipulation«, stellt Wach einleitend fest, zur umfassenden Reihe mit zwölf Langfilmen und zahlreichen Kurzfilmen von Roman Polanski, Jerzy Skolimowski, Witold Leszczynski, Krzysztof Zanussi, Marek Piwowski, Grzegorz Krolikiewicz und Andrzej Zulawski. Das Fragezeichen im Titel des Symposiums (»Nouvelle Vague polonaise?«) sollte wohl eher der Analogisierung zu Frankreich gelten, die auf der Basis der Zeitgleichheit getroffen wurde. Unbestritten ist die ungezähmte Wildheit der programmierten Filme, die Lust auf Experimente und die Betonung des filmischen Ausdrucks, der in Leszczynskis stillem Film Das Leben des Matthäus (1967) an Tarkowski erinnerte, in den alptraumhaften Kostümfilmen Zulawskis sich hingegen als permanentes Aufschreien lauthals Gehör verschaffte (Der dritte Teil der Nacht, 1971, Diabel, 1972,). Herausragend war Zanussis Ilumniacja (1972) über das stete Fragen eines jungen Wissenschaftlers, der schließlich an der Unberechenbarkeit der eigenen Physis scheitert. Hier verbindet sich eine starke Erzählung mit experimenteller Erzählstruktur, immer wieder wird das wissenschaftliche Experiment symbolhafte Hinterfragung für das, was die Welt in ihrem Innersten zusammenhält.
Wie sehr Wissenschaft narrativ werden kann, zeigte auch Zulawskis Der dritte Teil der Nacht, einem Zweiten-Weltkriegs-Drama, das inszenierte, wie Impfstoff gegen den auch als »Kriegspest« genannten Typhus aus den Därmen infizierter Läuse gewonnen wurde – was historisch verbürgt ist. Der dritte Teil der Nacht folgt erzählerisch wie auch der berüchtigte Diabel einem von der Zeitgeschichte (bzw. vom Teufel selbst) gehetzten Protagonisten, es sind atemlose Filme, die immer wieder in wilde Performances ihrer Schauspieler münden.
Und was eigentlich macht Skifahrer Franz Klammer in voller Montur in einem Wasserbecken? Der vielleicht schönste, weil überraschendste und mit aufrichtigem Spaß inszenierte Kurzfilm des Symposiumsprogramms Sceny narciarskie z Franzem Klammerem / Skiszenen mit Franz Klammer von Bogdan Dziworski (1980) zeigt Franz Klammer in allen Skilagen: den Hang hinunterrasend, im Windkanal und eben auch im stromlinienförmigen Unterwassertest der Skiausrüstung.
Bestechend war dann noch die Archiv-Schau der Kinoteka Bosne i Hecegovine. Jedes Jahr lädt GoEast ein mittel- oder osteuropäsisches Archiv ein, seine Schätze im Caligari-Kino zu zeigen. Ob dokumentarische Zeugnisse, wie der Film über die Arbeiter in einem Steinbruch (Hop Jan, 1967), Montagefilme über den Wandel der Zeit, wo folkloristische Tradition mit sozialistischer Tristesse und jugendlichen Ost-Beatniks zusammentreffen (Kasabe, 1977), Propaganda in Dekonstruktion durch die Parallelmontage zwischen dem 2. Selbstverwaltungskongress und dem Verdecken eines vom Staat vernachlässigten Viertel durch Parteiplakate (Fasade, 1972): auch Bosnien-Herzegowina hatte seine »Nouvelle Vague«.