Kamera-Spiele und andere Spielchen |
||
Mit Struktur und Charme: Wavelength eroberte 1967 die Avantgarde-Szene und gilt seither als experimenteller Meilenstein |
Von Dunja Bialas
Als der kanadische Avantgarde-Filmer Michael Snow, damals ansässig in New York und reger Besucher der von Jonas Mekas initiierten Film-Makers' Cinematheque, als erster den soeben, 1967, durch die Zeitschrift »Film Culture« ausgerufenen Independent Film Award gewann, wurde er schlagartig berühmt. Aber was ist das für ein Film, was das Bahnbrechende, das ihn förmlich in die erste Reihe der New Yorker Avantgarde-Szene katapultierte, in die Reihe von Andy Warhol, Stan Brakhage und Ken Jacobs?
Wavelength vollzieht sich in einer einzigen Einstellung und ohne vordergründige Handlung: Ein Zoom holt in einem Apartment eine Wand immer näher an das Auge des Betrachters heran. Anfangs nicht erkennbare Details werden deutlich, eine Grafik, die die ausgeschnittene Silhouette der »Walking Woman« zeigt, mit der Snow von 1961 an die Prinzipien der Serialität erforschte, und die zu seinem Markenzeichen geworden war, und eine Fotografie. Eine ähnliche Vergrößerungs-Arbeit tut sich auf, durchgeführt durch die unsichtbare, aber spürbare Kameraapparatur, ähnlich dem Fotografen David Hemmings aus Michelangelo Antonionis Blow Up, der – ist es Zufall oder nicht – im selben Jahr entstand.
Die reale Welt der Objekte wird während des Films immer wieder einer Verunsicherung unterzogen, indem sich filmische Artefakte wie eine »Geisterebene« über die Gegenstände legen und sie gewissermaßen in das Medium hineinziehen, so wie David Lynch später in Blue Velvet die reale Welt in die Sphäre der Halluzination und des Mediums eintreten ließ. Das Apartment invertiert sich in sein Bild-Negativ, Farbframes schieben sich zwischen die Aufnahmen, und jedes Heranzoomen wird zum Mikro-Ereignis, in welchem die Kamera als stummer Zeuge auf sich aufmerksam macht.
Wavelength ist der erste von insgesamt drei »Kamera-Filmen«. 1969 folgte der mit dem piktografischen Titel versehene <—> (Back and Forth). Mittels horizontalem Hin-und Herschwenken der Kamera wird ein Klassenraum der Fairleigh Dickinson University in Madison, New Jersey gefilmt – der Abspann ist hier sehr präzise und führt im Übrigen alle im Film Mitwirkenden auf. Snow installierte die Kamera auf einer Maschine, bestimmte die Schwenk-Geschwindigkeit mittels eines Metronoms und überließ der justierten Kamera das Panoramieren.
Bevor sich im immer schneller werdenden und nur maschinell ausführbaren Schwenk die Konturen der objektiven Welt auflösen und sich die Illusion einer Bilddehnung bis ins Cinemascope-Format ergibt, betreten Menschen das Klassenzimmer und erstellen kurze Handlungsmomente, die das Dramatische auf Bildebene zu befördern vermögen – und die den strengen Formalismus der Anordnung auch ironisch unterwandern. So endet eine Stehparty im Ringkampf zweier Studenten (zu sehen sind hier u.a. der Aktionskünstler Allan Kaprow und der Klangkünstler Max Neuhaus) – eine ungeahnte Vorwegnahme übrigens eines »fist fight«, der sich bei der Uraufführung des Films zugetragen hat, wie Snow in München erzählt. Mit und gegen die Richtung der hin- und herschwenkenden Kamera betreten immer wieder Menschen das Klassenzimmer und verlassen es, was widerständige bzw. sogartige Wirkungen erzeugt: die Menschen sind, je nachdem, autonome Subjekte oder Spielbälle der Maschine. Wie ein selbstironischer Höhepunkt erscheint es, wenn die Kamera vom horizontalen Schwenk zum vertikalen Tilt übergeht und das Bild nun wie in einem Glücksspielautomaten rauf und runter fährt, bis es schwankend kurz innehält, um wieder in Bewegung gebracht zu werden. Unter dem Einfluss der Geschwindigkeit der filmenden Apparatur löst sich der Raum vollends in Licht- und Farbflecken auf – bis schließlich, Achtung, Spoiler!, ein Police Officer durch ein Fenster in das Klassenzimmer blickt und dem schwindelerregenden Treiben ein Ende bereitet.
Während Wavelength und <—> (Back and Forth) mit Innenräumen und der Präsenz des Menschen spielen, ist Schauplatz des dritten, wiederum zwei Jahre später realisierten Kamerafilms La région centrale die Natur. Snow hatte zwei Voraussetzungen für seinen Film formuliert: Zum einen wollte er eine Kamera-Apparatur, die wie auch schon in <—> (Back and Forth), unabhängig von einem Camera Operator funktionieren sollte und mehrere Schwenk- und Zoom-Bewegungen gleichzeitig um verschiedene Achsen innerhalb eines Radius' von 360° ausführen sollte. Zum anderen wollte er einen Ort finden, der Raum bot für die ausladenden Kamera-Bewegungen und zugleich möglichst vom Menschen noch unberührt war. 1969 traf er in Montreal den Techniker Pierre Abeloos, der für ihn einen Kamera-Roboter baute, der Bewegungen in alle Richtungen vollführen konnte, ohne dabei jedoch selbst aufs Bild zu geraten. Die Suche nach dem richtigen Drehort gestaltete sich schwieriger; er fand ihn schließlich per Hubschrauber im äußersten Norden von Sept-Iles in Québec.
Der Kamera-Roboter wurde für den fünftägigen Dreh im September 1970 vorprogrammiert; gleichzeitig konnte er per Fernbedienung manipuliert werden. Sechs Stunden 16mm-Material hatte Snow am Ende belichtet und schnitt daraus den dreistündigen La région centrale.
Zehn Jahre später hatte Snow schon vielfältig mit Video experimentiert. In Presents (1982) setzte er es im sechsminütigen Intro des Films ein, da der Bild-Effekt, den er erzielen wollte, nur auf Video möglich war: Ein schmaler Schlitz, der sich wie ein Türspalt öffnet, wird breiter und gibt den Blick auf eine sich auf einem Bett räkelnde nackte Frau frei. Dann streckt sich das Bild wie ein langgezogener Kaugummi, die Frau wird unkenntlich, und das Bild verschwindet in einem leuchtenden Streifen. Wie eine Parodie auf seinen eigenen Film <—> (Back and Forth) wirkt das Folgende: Die Kamera ist auf einen Punkt fixiert, während das Setting vor der Kamera durch enorme Motoren hin- und herbewegt wird. Die Frau, die sich von einem Zimmer zum nächsten entgegen und mit der Drehrichtung der Bühne bewegt, ist wieder die »Walking Woman« aus den frühen 60er Jahren. Auf der Schallplatte, die die Frau als mediale Audio-Analogie zur rotierenden Bühne in Gang gesetzt hat, springt jedesmal die Nadel in der Rille, wenn die Bühne die Richtung wechselt. Den Richtungswechsel dirigiert Snow deutlich vernehmbar aus dem Off wie eine Regieanweisung an Schauspieler, während das Bühnendekor unter der Bewegung wie im Slapstick zusammenfällt.
Der Lust am Spiel und an den Worten, die sich bereits im vielsagenden Titel Presents andeutet, gibt Snow ein Jahr später in So Is This (1983) in Reinform nach. Sein hochgradig selbstreflexiver Lese-Film besteht nur aus Wörtern, die einzeln als Bild erscheinen. Snow perpetuiert dabei den Titel des Films, der immer nur auf sich selbst verweist (der Titel So Is This wurde dem Film als Werktitel gegeben und erscheint im Film nicht als Filmtitel), und reflektiert die möglichen Reaktionen des Zuschauers: »This / is / the / title / of / this / film. / The / rest / of / this / film / will / look / just / like / this.«
So Is This entfaltet einen stummen Dialog mit dem Zuschauer, der direkt angesprochen wird und auf dessen angenommene Gefühle und Reaktionen der Text eingeht. Der Film ist ein »Mitmachfilm«, der nur funktioniert, wenn der Zuschauer in seinen Gedanken den Text spricht. Auch diesen Aspekt weiß Snow selbstironisch zu brechen, wenn die Worte ein Lied anstimmen, bei dem alle mitsingen sollen, aber, bitte, ohne die Lippen zu bewegen.
Wie sehr sein filmisches Nachdenken über die Konstitution von Bildern durch Kadrierung, Kamera, Dauer, Raum, Dramatisierung und dem dazugehörigen Sound immer auch durchsetzt ist durch spielerischen Bild-Humor und Medien-Ironie, beweist Snow zwanzig Jahre später noch einmal in *Corpus Callosum (2002). Der Titel ist ein Ausdruck aus der Anatomie und bezieht sich auf den Hirnbalken, der die rechte mit der linken Gehirnhälfte verbindet. Snow hat mit 71 Jahren zum ersten Mal mit digitalen Computer-Animationen gearbeitet und versieht das virtuelle Bild mit einer grundsätzlichen Unsicherheit: In der digitalen Manipulation wird es fortwährender Transformation ausgesetzt und Gegenstände wie Menschen der Metamorphose unterworfen. Gleichzeitig ergeben sich implizite Kommentare zur medial verwandelten Gesellschaft, indem deren Dispositive wie Überwachungskameras oder Computer allgegenwärtig sind. Mittels eines medialen Möbius-Bandes, das als digitaler Special Effect an den Video-Trick der Eingangssequenz von Presents erinnert, transformiert sich die dargestellte Techno-Welt in ein Wohnzimmer. An der Wand hängt wieder »The Walking Woman«. Snow hat hier auf vielfältige Weise eine Mini-Retrospektive seines eigenen Werkes geschaffen, und hat sich auf die Endlosschleife eines Möbius-Bandes begeben, auf dem er sich nicht mehr entscheiden muss zwischen der Repräsentation der Welt und der Welt der Repräsentation. Die Welt ist jetzt ganz im Medium aufgegangen.