Zeit steht still |
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Unvereinbarkeit von Parallelwelten |
Von Axel Timo Purr
Als Peter Weirs Der einzige Zeuge 1985 in die Kinos kam, war kaum abzusehen, das Witness zu einem jener Filme reifen würde, der nicht nur nicht altert, sondern der selbst nach dreißig Jahren noch die inhaltliche und ästhetische Kraft hat, bestehende Ungerechtigkeiten und Sehnsüchte zu demaskieren.
Weit mehr als der gesellschaftliche Diskurs beschäftigte die damalige Rezeption allerdings die ungewöhnliche Konstellation der Produktion. Peter Weir hatte die Jahre zuvor zwar mit zwei ungewöhnlich intensiven und gleichermaßen politisch wie persönlichen Filmen auf sich aufmerksam gemacht. Doch weder das 1. Weltkriegs-Drama Gallipoli noch das den indonesischen Bürgerkrieg thematisierende The Year of Living Dangerously – beide mit einem am Karriereanfang stehenden Mel Gibson in der Hauptrolle – wurden trotz intensivem Marketing nicht zu den erhofften internationalen Erfolgen. Nur in Australien galten Weirs Filme schnell als Meilensteine des New Australian Cinema. Doch eine Nominierung in Cannes und ein Oscar für die beste Nebendarstellerin reichten aus, dass Hollywood Peter Weir ein Drehbuch anbot, das bereits seit Jahren in Hollywood kursierte. Weir erkannte schnell das Potential und nahm das Angebot an, denn wie seine anderen Filme ist auch Der einzige Zeuge eine komplexe Gratwanderung. Zum einen knallharter, sozialkritischer Genre-Thriller, zum anderen eine fast klassisch ethnografische Studie über eine der letzten überlebenden Subkulturen Amerikas, eine Kultur, der es mehr als 200 Jahre lang gelungen war, die Einflüsse der modernen Welt abzuwehren.
Aber nicht nur diese Kombination war ungewöhnlich, auch die Wahl der Hauptdarsteller überraschte: zum einen Kelly McGillis, die mit diesem Film ihren Durchbruch schaffte, zum anderen Harrison Ford, der gerade im dritten Star Wars-Teil und zweiten Indiana Jones mitgewirkt hatte und plötzlich eine Rolle verkörperte, die sich undenkbar weit von den schematischen Rollenmustern der beiden Blockbuster und Fords Star-Status entfernte. Denn Ford verkörpert in Witness nicht nur einen Polizisten aus Philadelphia, der einen Amish-Jungen vor Mördern beschützt, nachdem dieser einen Mord an einem verdeckt arbeitenden Polizisten beobachtet hat. Ford wird auch als ambivalente Marionette des eigenen Systems porträtiert. Auf der Suche nach den Mördern des Polizisten schlägt er ebenso bedenkenlos einen schwarzen Verdächtigen nieder, wie es gegenwärtig in den USA wiederholt beobachtet worden ist und wie es Alice Goffman in ihrer gerade erschienenen ethnografischen Arbeit »On the Run« über das Philadelphia der 6th Street immer wieder schildert.
Anders als die marginalisierte schwarze »Unterschicht« hat der von Ford verkörperte John Book allerdings bald eine Alternative, die noch an Bedeutung gewinnt, als er realisiert, dass einige seiner Kollegen in den Mord verstrickt sind und er selbst zum Gejagten wird. Und langsam beginnt er außerdem zu erkennen, dass die Mutter des Jungen, Rachel, eine attraktive Frau ist.
Kelly McGillis wurde von den Amish heftig dafür kritisiert, dass sie sich für ihre Rolle als junge, attraktive Amish-Witwe im Vorfeld der Dreharbeiten »undercover« in eine Amish-Familie begeben hatte. Vielleicht aber ist gerade deshalb ihre Präsenz als Amish-Frau wie von einem anderen Stern. In nahezu wortloser Zerrissenheit pendelt sie zwischen dem ins Amish-Land verschlagenen John Book und ihren eigenen Werten hin und her und unterstützt damit Weirs Absichten nachhaltig, das strenge Genre des Thrillers für geraume Zeit zu verlassen und nicht nur eine intensive Liebesgeschichte zu erzählen, sondern auch grundlegende Fragen über die Deutungshoheit des eigenen Lebens zu stellen und der Möglichkeit, der eigenen Sozialisierung zu entkommen.
Hat Weir schon im Philadelphia-Segment von Witness jegliche Überzeichnung vermieden, kommt er auch im unweit von Philadelphia entfernten ländlichen Lancaster County, in Strasbourg und Intercourse ohne Pathos und Ethnokitsch-Attitüden aus. Book ist einerseits fasziniert von einem Leben, dass sich der technischen Moderne verschließt, andererseits erkennt er, dass Liebe nicht ausreicht, um seinen moralischen Grundwerten zu entkommen und er den restriktiven Werten und Normen einer 200 Jahre alten Tradition nicht gerecht werden kann.
Ein Ansatz, der Witness auch nach 30 Jahren noch frisch, unverbraucht und brandaktuell erscheinen lässt. Auf der einen Seite die kaputte Apartheids- und Korruptionsmoral des weißen Amerika, auf der anderen das Amerika der Unschuld, der Gewaltfreiheit und der gegenseitigen Hilfe, eine verlorene Vergangenheit und ein schier unerfüllbares Versprechen, nicht nur in Weirs Film.
Denn begibt man sich 30 Jahre nach Weirs Film nach Philadelphia und ins Dutch County, verblüfft einem zu Anfang vor allem eins: die Zeit steht still. Oder besser: einer implosiven Blase gleich, haben sich die bestehenden Verhältnisse eher zugespitzt als entspannt. Gewalt und soziale Ungleichheit auf der einen, Frieden und bescheidener Wohlstand auf der anderen Seite. Die Gefängnisse in und um Philadelphia sind voller denn je, bis auf ein paar Gentrifizierungszonen hat sich der Armutsring noch enger um die Innenstadt gezogen; monolithisch unverändert dagegen erscheint die Welt der Amish. Die Farm des damaligen Besitzers Paul Krantz aus Weirs Film liegt unversehrt im Tal, nur eine seichte Anhöhe von der Bunker Hill Road entfernt und nur die in die Höhe geschossenen Bäume erinnern daran, dass tatsächlich Zeit vergangen ist.
Es gibt Brüche, aber die sind klein. Es gibt mehr Touristen als schon im Film zu sehen sind und eine der vielen von Familien mit dem Namen Lapp bewirtschafteten Farmen verkauft selbstgemachten Eis an die English. Mit Sahnen von Kühen, die elektronisch gemolken werden. Doch schon auf der nächsten Farm pflügen noch Ochsengespanne über die Felder, fahren die filmvertrauten Kutschengespanne über die geteerten Straßen und stellen das Gleichgewicht wieder her.
Die Bevölkerung der Amish hat sich seit Witness nahezu verdoppelt, doch der Preis ist hoch: immer mehr genetische Defekte im Genpool machen sich bemerkbar und lassen Zweifel daran aufkommen, dass die in Witness angedeutete Unvereinbarkeit der Parallelwelten noch 30 weitere Jahre Bestand haben wird und damit auch der letzte vermeintliche Funken Hoffnung in einer Welt der Ungerechtigkeit verschwindet.