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Dokumentarfilm auf Verjüngungskurs: doxs! in Duisburg. Hier: die Preisverleihung (Foto: Festival) |
Von Christel Strobel
Duisburg, die Stadt der Eisen- und Stahlindustrie an der Mündung der Ruhr in den Rhein mit einem der größten Binnenhäfen der Welt, wird nicht nur auf der populären »Route der Industriekultur« von Touristen erkundet, sondern ist auch alljährlich das Ziel von interessierten Dokumentarfilmbesuchern und engagierten Dokumentarfilmschaffenden. Seit die Duisburger Filmwoche – das Festival des deutschsprachigen Dokumentarfilms (2017 im 41. Jahr) – 2002 unter dem Label »doxs!« ein Programm speziell für Kinder und Jugendliche anbietet, ist es auch für das junge Publikum zu einem festen Termin im Herbst geworden.
Im diesjährigen Programm von doxs! waren insgesamt 39 Filme zu sehen; acht davon nominiert für den ECFA Documentary Award (European Children’s Film Association) und sechs für den Filmpreis »Große Klappe«, der von einer Jugendjury (zehn 16-/17-Jährige aus Duisburg und Bochum) vergeben wird.
Tiere, Natur und Umwelt ist ein Thema, das auffallend oft behandelt wird. Dies am bizarrsten im 85-minütigen Film (und damit dem einzigen Langfilm) Die Zungenschneider (Tungeskjærerne, 2017) der Norwegerin Solveig S.Melkeraaen.
Die neunjährige Ylva aus Oslo fährt in den Ferien weit nach Nord-Norwegen zu ihren Großeltern, um die Tradition fortzuführen, die ihre Mutter als Kind ausgeübt hat: Aus dem Kabeljaufang mit einer geübten
Technik so vielen Fischen und so schnell wie möglich die Zunge herauszuschneiden, die dann als Delikatesse in den Export gehen. Angelernt wird Ylva vom gleichaltrigen Tobias, der sein bei dieser Arbeit verdientes Geld für ein eigenes Boot spart. »Ich denke, das ist keine Kinderarbeit, sondern eine Art Hobby, für das man bezahlt wird.« So gibt es auch einen offiziellen Wettbewerb der jungen Zungenschneider, den dann aber ein älterer Junge gewinnt. Verblüffend ist hier der
»erwachsene« Umgang mit den Kindern, die im Alter von neun, zehn Jahren geschäftsfähig sind und den Empfang ihres Lohns mit großer Selbstverständlichkeit quittieren. Zungenschneider kann – wie Reaktionen von Lehrern gezeigt haben – provozieren, ist durch Musical- und Tanzeinlagen aber auch unterhaltsam, auf jeden Fall ein im wahrsten Sinne des Wortes schräger Dokumentarfilm, mit Potential zum Nachdenken über die diversen Facetten des Umgangs
mit und des Gebrauchs von Tieren.
Ein weiteres Beispiel kommt aus den USA, Die Kaninchenjagd (The Rabbit Hunt) von Patrick Bresnan, 2017, 12 Min.
In den Everglades in Florida gibt es für Chris immer dann zu tun, wenn die Zuckerrohrfelder abgebrannt werden. Dann treibt es die Kaninchen aufs freie Feld, wo Chris und seine Freunde schon mit Stöcken warten. Man sieht sie lange hin und her rennen, immer den Kaninchen hinterher, und wenn sie eins erwischt haben, mit den
Stöcken schlagen. Zufrieden heben sie ihre Beute hoch, in jeder Hand drei bis vier erlegte Tiere. Einen Teil verkaufen sie an Kunden, der andere Teil wird im brodelnden Topf zubereitet und ist an diesem Tag eine Mahlzeit für die Großfamilie. Auch dieser Film dokumentiert eine befremdliche Tradition, der vermittelte Blick aber verfolgt das Geschehen mit Gelassenheit, und es genügen ein paar Bilder der Lebensumstände, die die Kaninchenjagd als Selbstverständlichkeit erscheinen
lassen. Dieser Film erhielt von der Jugendjury/Filmpreis »Große Klappe« eine lobende Erwähnung.
Ein anderer Schwerpunkt liegt auf Themen wie schwierige Familienverhältnisse, Drogenabhängigkeit, Krankheit, Flucht. Dafür steht das von Schüler/innen kuratierte Programm mit drei Filmen:
Naomis Geheimnis von Saskia Gubbels, Niederlande 2016, der in 16 Min. über ein Mädchen erzählt, dessen Mutter drogenabhängig ist, und das daher oft sich selbst überlassen war. Die 17-jährige Naomi hat bisher darüber mit keinem Menschen gesprochen, doch jetzt
öffnet sie sich und besucht mit ihrem besten Freund – und der Filmemacherin – ihre Mutter im Heim.
Hallo Salaam von Kim Brand, Niederlande 2016, 15 Min., begleitet die beiden Jungen Merlijn (11) und Sil (10) in ein Flüchtlingslager auf Lesbos, die dort »etwas für die Kinder tun wollen«. Dieser Besuch verunsichert sie, doch langsam nehmen sie Kontakt zu den Kindern einer irakischen Familie auf, fehlende Sprachkenntnisse werden nonverbal oder mit
dem Sprachprogramm am Handy ausgeglichen. Nach vier Tagen kehren sie mit der Mutter in ihre Heimat zurück, die Flüchtlingsfamilie bleibt wie viele andere… Ein Film, der Fragen hinterlässt.
Thea von Halvor Nitteberg, Norwegen 2016, 14 Min., ist ein in seiner Schwarz-Weiß-Ästhetik beeindruckender Film über ein zwölfjähriges Mädchen, das immer wieder unter unvorhersehbaren epileptischen Anfällen leidet und sich danach nicht mehr daran erinnern
kann. Häufige Klinikaufenthalte und tägliche Medikamenteneinnahme gehören zum Alltag.
Auf alle drei mit einer Altersempfehlung ab 12 versehenen Filme hatten sich die Schüler/innen einer Gymnasialklasse gut vorbereitet und gaben eine detaillierte Einführung unter inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten. Diese Form der Partizipation trägt zur immer notwendiger werdenden Medienkompetenz bei, worauf bei doxs! großer Wert gelegt wird, was all die medienpraktischen und medienpädagogischen Projekte zeigen.
Für das Thema »Gewalt in der Familie« hat Robin Jensen in seinem zehnminütigen Film Die Zuflucht (Det trygge huset, Norwegen 2016) einen eigenen Stil gefunden: Im Zeichentrick visualisiert er die Umstände, die Mikael und vier weitere Kinder mit ihren Müttern ins Frauenhaus gebracht haben. Bild und Ton – mit den kindlichen Stimmen, die davon erzählen, wie es zu Hause eskalierte – ergeben ein berührendes Dokument häuslicher Katastrophen, aber auch der Erleichterung in der neuen, geschützten Umgebung, selbst wenn wenig Raum zur Verfügung steht: »Das Wichtigste war zu entspannen, weil wir nervös und verängstigt waren.« Und auch nach und nach sich von dem belastenden Gedanken befreien zu können, dass sie nicht schuld sind am Streit der Eltern.
Die Zuflucht erhielt den zum zweiten Mal auf dem doxs! Festival vergebenen Dokumentarfilmpreis der ECFA Jury (Elise Van Beurden, Belgien; Remke Oosterhuis, Niederlande; Marc-André Schmachtl, Deutschland).
Begründung: »Der Film erzählt seine Geschichte ausgewogen und ehrlich und verschließt die Augen nicht vor der bedrückenden Wahrheit. Er stärkt all jene, die mit ähnlichen problematischen Umständen konfrontiert sind und vielleicht keine Möglichkeit
haben, ihre Erlebnisse mit anderen zu teilen.«
Mit dem Filmpreis »Große Klappe« würdigte die zehnköpfige Jugendjury einen Film, der bei den Vorführungen bereits starke Emotionen und intensive Filmgespräche ausgelöst hatte:
Joe Boots von Florian Baron, Deutschland 2017, 31 Min., ist eines der drei Filmprojekte, die in der doku.klasse entstanden sind. Die Jury begründet ihre Preisvergabe u.a. mit den »ästhetisch anspruchsvollen Bildern, die auf überzeugende Art und Weise mit dem Inhalt verknüpft
sind« und mit dem »Aufgreifen verschiedener Perspektiven zum Thema Krieg, darunter Aspekte wie die Verherrlichung von Kriegseinsätzen, Kritik am Patriotismus oder der Umgang der Gesellschaft mit Zurückkommenden. Die sehr ästhetische Darstellung der Konflikte des Veteranen geben dem Film eine besondere dokumentarische Kraft, die uns berührt und vollkommen überzeugt hat.«
Joe Boots aus Pittsburgh, dessen Vater und Großvater Bergarbeiter waren, zur working class gehören, die »das Land aufgebaut und immer geschützt haben«, erzählt mit seiner tiefen, kräftigen Stimme, wie er zum Patrioten wurde, zur US-Army ging und als 19-Jähriger in den Irak kommandiert wird. Nach einer Bombenexplosion direkt neben ihm, der er äußerlich unverletzt entkommt, kehrt er als innerlich Gebrochener zurück, beginnt zu trinken, wird depressiv und ergeht sich in Wutanfällen. Schließlich bestätigt ihm ein Arzt eine Posttraumatische Belastungsstörung. Er beginnt, sein Leben umzustellen, macht Yoga und kommt langsam auf einen neuen Weg. Florian Baron, Jg. 1984, hat Joe Boots während seines längeren Aufenthalts in Pittsburgh kennengelernt und eine offensichtliche Vertrauensbasis geschaffen. So ist eine reflektierende Dokumentation entstanden, die emotional stark beeindruckt und gleichzeitig präzise, auch auf der visuellen Ebene, vermittelt, wie junge Menschen von einem Machtapparat, wie es das Militär ist, für dessen skrupellosen Ziele missbraucht und fallengelassen werden.
Florian Baron hat im Rahmen der doku.klasse dieses Thema bereits als Langfilm bearbeitet, der auch fast fertiggestellt ist. Der halbstündige Dokfilm Joe Boots ist ein abgeschlossener Teil davon. Der war auch ausgewählt für den Kritikerworkshop, der – in Kooperation von doxs! mit dem Goethe-Institut Lille (Dorothee Ulrich), dem französischen Arras Film Festival und dem Deutsch-Französischen Kulturzentrum Essen – fünf französische und fünf deutsche Schüler/innen in Duisburg zusammenbrachte. Die zehn jungen Teilnehmer waren bereits eine Woche zuvor Gäste auf dem Festival in Arras. In Duisburg sichteten und diskutierten sie – unter Leitung von Frédéric Jaeger (Verband der deutschen Filmkritik e.V.) – ausgewählte Beispiele aus dem doxs!-Programm und verfassten Texte für Filmkritiken. Eine besondere Rolle spielte dabei Joe Boots, Gast der Duisburger Filmwoche, so dass auch die sichtlich bewegten jungen Workshopteilnehmer die Gelegenheit für ein intensives Gespräch mit ihm hatten – ein wohl nachhaltiges Erlebnis auf diesem doxs! Festival.
Hier sei noch angemerkt, dass mit dem Preis der Jugendjury auch die Veröffentlichung des Films bei Methode Film, dem Verleih speziell für Schulen, verbunden ist, sofern die Rechte verfügbar sind. Joe Boots gehört unbedingt dazu, und die DVD sollte Lernmittel in allen weiterführenden Schulen sein.
Ausdruck des beständig sich weiter entwickelnden Festivals ist auch wieder ein neues Projekt: »Junge Filmbeschreiber« ist der Name eines Projekts mit dem Ziel, mit Schüler/innen (Förderschwerpunkt Sehen) und einem Medienpädagogen sowie einem Hörfunkautoren die Audiodeskription für einen dokumentarischen Kurzfilm zu erstellen.
Wobei fast von der Stunde Null begonnen werden musste, denn 2002 hatten nur wenige der hiesigen Filmszene vom Kinderdokumentarfilm eine Vorstellung. Anders sah es schon in den benachbarten Niederlanden aus, wo bereits seit Jahren mit »kids & docs« ein eigener Wettbewerb mit Dokumentarfilmen für Kinder beim internationalen Dokumentarfilmfestival in Amsterdam
existierte, den die einheimische Produktion mit immer neuen, originellen Beiträgen versorgte.
So wurde die beispielhafte Situation der Niederlande zur Antriebsfeder für die Gründung in Duisburg: »Dokumentarische Filmkultur für die nächste Generation, politisch mutig und ästhetisch fantasievoll: Das wollten wir auch!«
Es war ein wichtiger und zukunftsweisender Schritt seinerzeit, der – wie ein ins Wasser geworfener Stein – immer größere Kreise zog. Und es ist das Verdienst von Gudrun Sommer, umsichtige wie umtriebige Initiatorin und Leiterin seit 2002, und ihres engagierten Teams, dass »doxs!« zu einer prosperierenden Einrichtung wurde, die sich nicht nur intensiv der Präsentation des Dokumentarfilmschaffens fürs junge Publikum widmet, sondern auch außerhalb der Festivalzeit filmpolitisch und medienpädagogisch mit einer Vielzahl von Projekten aktiv ist.
Zunächst begann »doxs! kino« im Duisburger »filmforum« am Dellplatz mit einer Auswahl altersgruppengerechter Dokumentarfilme, die von Anfang an – und bis heute – durch sachkundig und klug moderierte Filmgespräche, meist mit den anwesenden Filmschaffenden, ergänzt und vertieft werden. 2005 wurden mit »doxs! schule« Angebote zur Filmbildung eingeführt und mit »doxs! on tour« der Radius des Festivals überregional ausgeweitet.
2008 kam mit »dok you« ein weiteres Projekt zur Förderung der Rezeption und Produktion von Dokumentarfilmen für Kinder hinzu, initiiert von der »dokumentarfilminitiative« im Filmbüro Nordrhein-Westfalen (dfi) und »doxs!«
Nicht zuletzt die Nähe zu den Niederlanden mit seiner intensiveren Förderung der Dokumentarfilmproduktion für Kinder, deren Ergebnisse immer wieder einen beachtlichen Programmanteil der Kinder- und Jugendsektion der Duisburger Filmwoche ausmachen, inspirierte doxs! und die dfi zu einem Wettbewerb für dokumentarische Treatments. Das Projekt startete an zehn Schulen in Nordrhein-Westfalen mit Dokumentarfilmworkshops, in denen die beteiligten Nachwuchsfilmemacher Erfahrungen im dokumentarischen Arbeiten sammeln konnten.
Außerdem gehörte die Fortbildung mit Experten des Kinderdokumentarfilms sowie Betreuung und Begleitung der Treatment-Entwicklung von Mentoren aus der Branche zum Programm von »dok you«. Eine bundesweite Jury nominierte die ersten »dok-you« Gewinner und wählte sechs Stoffe aus, die mit Mitteln des WDR realisiert wurden (u.a. Ednas Tag von Bernd Sahling, Herr Rücker von Anna Wahle, Eiki – Vielleicht nach Japan von Susanne Mi-Son Quester) und bei doxs! 2009 und 2010 Premiere hatten.
Ein ganz neues und von Anfang an erfolgreiches Projekt – die »doku.klasse« – startete 2014, indem doxs! die 3sat-Ausschreibung »Ab18!« mit einem Stipendiatenprogramm für Filmemacher ergänzt: »Dokumentaristen treffen auf ihr potentielles Publikum und erhalten kreatives Feedback im Dialog und direkten Austausch mit jungen Filmenthusiasten.« Aus den Bewerbungen für die erste doku.klasse 2014 wurden drei Exposés ausgewählt.
Auch im aktuellen Jahrgang 2017 begleitet doxs! – in Kooperation mit ZDF/3sat, Deutschlandfunk Kultur, der Grimme-Akademie und der FSF Berlin – mit seinem Workshop-Programm für Filmemacher/innen und Jugendliche die 3sat Dokumentarfilmreihe über junge Erwachsene. Für die Teilnahme hatten sich 46 Filmemacher/innen aus Deutschland und der Schweiz beworben. Aus dem Grußwort von Ute Schäfer, Ministerin für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport NRW: »Offenbar – und das finde ich bemerkenswert – ist der Bedarf groß, sich mit den Sehgewohnheiten eines jungen Publikums ernsthaft auseinanderzusetzen. Die Jugendlichen lernen im Gegenzug die filmische Praxis von Dokumentaristen unmittelbar kennen: Ihnen werden wertvolle Erkenntnisse über die Bedeutung der Recherche, des Arbeitsprozesses und künstlerischer Entscheidungen vermittelt, die einem Film vorausgehen.«
Einen Blick zurück bot noch ein ganz besonderes Programm bei diesem doxs! Festival 2017: Unter dem lautmalerischen Titel »Dokus für Kitas« waren mehrere Zwei- oder Dreiminüter für Vorschulkinder ausgegraben worden – »eine Welt voller Wissen, Witz und Fantasie« – aus den 1970er Jahren für die TV-Formate »Sesamstraße« und »Sandmännchen«. Den Namen des Regisseurs vermutet man allerdings nicht in diesem Zusammenhang: Harun Farocki ist der Urheber dieser intelligenten, vergnüglichen Miniaturen. Da geht es im Weg des Geldes (1973) um eine 50-Pfennig-Münze, für die sich ein Junge am Kiosk eine Flasche Brause kauft – und was macht der Kioskbesitzer mit diesem Geld? Nach Stationen beim Getränkelieferanten, Getränkefirmenbesitzer und dem Vater des Jungen als Lohnempfänger dieser Firma landen die 50 Pfennige wieder am Familientisch für eine Flasche Brause… Und in den Einschlafgeschichten blüht die Fantasie der Zwillingsschwestern, dass man den absurden und ins Bild gesetzten Einfällen die ganze Nacht folgen könnte…
Rund 3000 Besucher zählte »doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche« in der 16. Ausgabe, das seither unter dem Dach von Duisburger Filmwoche / Volkshochschule der Stadt Duisburg stattfindet, mittlerweile außer im Duisburger filmforum auch in Bochum, Dinslaken, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Moers. Ich bin gespannt auf weitere Neuigkeiten!