Junge Dokumentarfilme |
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Die »Große Klappe«-Auszeichnung gab es für Obon, einen in jeder Hinsicht bemerkenswerten Festivalbeitrag | ||
(Foto: André Hörmann, Anna Bergmann / Doxs! Duisburg) |
Von Christel Strobel
Am Anfang des 2001 ins Leben gerufene doxs! stand der Kinderdokumentarfilm aus den Niederlanden. Während Anfang der 2000er Jahre das Angebot für Kinder hierzulande ausnahmslos aus mehr oder weniger anspruchsvollen Spielfilmen bestand, experimentierten die holländischen Filmemacher bereits mit dem dokumentarischen Erzählen für ein junges Publikum und wurden mit ihrem Kids & Docs Workshop vor 17 Jahren zum Impulsgeber für doxs! – dokumentarfilme für kinder und jugendliche, eine eigene Reihe der Duisburger Filmwoche.
Die gut vorbereiteten, intensiven Publikumsgespräche nach jedem Film gehören zur festen Einrichtung in Duisburg von Anfang an. Auch für Gudrun Sommer, innovative Mitgründerin und aktive Leiterin der kleinen feinen Reihe im Rahmen der Filmwoche, war und ist es wichtig, jedem Film eine besondere Aufmerksamkeit zu geben und deshalb nach dem Film direkt das Gespräch zu führen, unabhängig von der Filmlänge. Die Filmvermittlung auf allen Ebenen ist somit ein Merkmal von doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche – weil, wie Gudrun Sommer betont, »gerade in den letzten Jahren, wo sich medial so viel verändert und sich die Sphären zwischen Fiktion und Realität verwischen, Kinder ein Gespür dafür bekommen müssen, wie sie das, was sie sehen, einzuordnen haben.«
Auch dieses Jahr waren bei doxs! wieder besondere Filme aus dem Nachbarland zu sehen, die Einblick geben in die oft harte Realität. Wie im 16-minütigen Beitrag Mirunas Mission (Meisje Met Een Missie) von Heleen D’Haens und Eva van Barneveld, über ein 14-jähriges Mädchen rumänischer Herkunft. Miruna lebt mit Eltern und mehreren Geschwistern in einer unwirtlichen Gegend inmitten eines lärmigen Stadtteils. Als Älteste fallen ihr Aufgaben im Haushalt und in der Familie zu, die ihr wenig Raum lassen, doch immer wieder träumt sie sich aus der Enge und der Unordnung fort. Nicht so zu werden, wie die Leute hier, das hat Miruna für sich beschlossen und sieht in ihrem Wunsch, Polizistin zu werden, eine konkrete Alternative.
Während Miruna auf dem Weg zu ihrem Berufsziel vermutlich noch so manche Hürde zu überwinden hat, ist der 13-jährige Wessel schon angekommen: Er soll einmal die Metzgerei übernehmen, ein gut gehendes Familiengeschäft. Wir sehen im niederländischen Kurzfilm Des Schlachters Herz (Slagershart) von Marijn Frank, wie selbstverständlich und auch ein bisschen stolz der Junge hinter der Ladentheke hantiert, wie der Großvater ihm ruhig
und geduldig die Arbeit mit Fleisch und Wurst zeigt, weshalb der Junge auch lieber mit dem Großvater als mit dem Vater arbeitet. Aber Wessel erzählt auch von den Mitschülern, die ihn als »Tiermörder« beschimpfen. Dabei gefällt ihm die Arbeit in der Metzgerei eigentlich gut. Leise Bedenken kommen ihm allerdings nach einem Praktikum in der Landwirtschaft, wo er mit lebenden Kälbern und Schweinen zu tun hatte.
So unterschiedlich wie die Lebenswelt von Wessel und Miruna auch ist –
das Interesse am weiteren Weg der beiden haben die kurzen Dokumentarfilme geweckt, und man würde ihnen gerne nach einiger Zeit wieder begegnen.
Stark vertreten waren in diesem Jahr auch deutsche Dokumentarfilmproduktionen, wobei die meisten der zehn ausgewählten Filme von Lebenswelten in fernen Ländern erzählen.
Ein schönes Beispiel dafür ist Zozooloi aus der Mongolei von Sigrid Klausmann-Sittler, ein neuer Kurzfilm aus dem globalen Serienprojekt »199 kleine Helden« des Stuttgarter Matthias-Film, das sich zum Ziel gesetzt hat, »Kinder auf dem Weg in ihre Schule zu begleiten und ihnen eine Stimme zu geben, weltweit«. Die 12-jährige Zozooloi pendelt zwischen zwei Welten: In den Schulferien lebt sie gern bei ihren Eltern, die sind Nomaden im Altai-Gebirge und wohnen dort traditionell in der Jurte. Sie hilft bei der Tierhaltung, beobachtet aber auch Anzeichen einer Klimaveränderung. Zu Schulbeginn kehrt sie in die Stadt zurück – das ist ein langer Weg, erst auf dem Rücken eines Pferdes und dann mit dem Jeep, in dem zuweilen fünfzehn Kinder befördert werden. Doch Zozooloi lebt schon gern in der Stadt Tsengel, freut sich wieder auf die Schule: »Mein Traum ist, Lehrerin zu werden, dafür muss ich viel lernen. Ich werde in Tsengel leben, kann nicht wie Mama und Papa Nomade werden.« Und so, wie sie in sich ruht und Zuversicht ausstrahlt, wird sie das auch schaffen. Zozooloi aus der Mongolei zeigt einen kleinen Ausschnitt eines weiten Landes, nahegebracht durch die Offenheit und Sympathie der Regisseurin für die Menschen und deren andere Lebensweise.
Anja und Serjoscha von Ivette Löcker sind schon aufgrund ihres Wohnortes mit ganz anderen Lebensbedingungen konfrontiert. Anja und Serjoscha, beide neunzehn, leben in der Hafenstadt Mariupol am Asowschen Meer in der Ost-Ukraine, zwanzig Kilometer von der Front zwischen russischen Kämpfern und ukrainischem Militär entfernt. Und so, wie die Welt um sie herum unsicher ist, fühlen auch sie sich verunsichert. Diesem Zustand begegnen sie mit demonstrativen
Aktionen – gegen Geschlechterklischees, für hektisches Vergnügen. Ein Highlight in dieser Zeit ist »Donbass«, ein spektakuläres Konzert der »Dark Sisters«, sechs Musikerinnen, die im April 2018 anlässlich des Gogol-Festes in Mariupol gastieren. Die aktuelle Perspektivlosigkeit der jungen Leute am Beispiel von Anja und Serjoscha aber bleibt in dieser Umgebung.
In Marvin Hesses 58-minütigem Abschlussfilm an der Hamburger Hochschule für bildende Künste mit dem Titel
Everyone In Hawaii Has A Sixpack Already geht es um Jugendliche, die nur mit Unbehagen an den notwendig werdenden Ortswechsel denken. Noch genießen sie den Sommer auf der Insel La Gomera, wo sie zu Hause sind, vertreiben sich die Zeit mit Skateboarden, mit Schwimmen im Meer, an den Abenden in einer der Strandbars (im Rucksack die preiswerteren mitgebrachten Getränke), sind immer in der Clique unterwegs. Doch für die Weiterbildung bzw. ein Studium müssen sie
aufs Festland wechseln – diese Perspektive wird erst mal verdrängt. So sympathisch die Jungen und Mädchen sind, so unbeschwert der Augenblick, wo nichts anderes wichtig ist, ein paar Skateboard-Szenen weniger hätten dem Film gut getan. Die empathische Schilderung des jungen Regisseurs, selbst aktiver Skateboarder, von seiner Begegnung mit dieser lässigen Jugend-Clique, womit er das Thema für seinen Abschlussfilm gefunden hatte, bewirkte im Verlauf des Gesprächs nach der
Filmvorführung eine mildere Betrachtungsweise.
Die harte Realität eines nigerianischen Geflüchteten zeigt der in Brasilien geborene und in Berlin lebende Regisseur und Drehbuchautor Leandreo Goddinho in dem zehnminütigen Film mit dem sperrigen Titel The World Is Round So That Nobody Can Hide In The Corners – Part I: Refuge in kurzen, visuell abstrahierten, dennoch beklemmenden Szenen. Seine traumatischen Erlebnisse auf der Flucht, auf der er den Freund verlor, und seine Eindrücke von dem ihm fremden, dennoch – auch für homosexuelle Paare – sicher erscheinenden Land, in knappen Worten erzählt, wirken nach. Der Geflüchtete bleibt in der Anonymität, aber sein Schicksal geht einem nahe.
Zwei der deutschen Beiträge befassten sich mit psychischen Störungen: Schau in meine Welt! – Phil und das Traurigsein von Marco Giacopuzzi handelt von der Depression eines elfjährigen Jungen, dem durch eine Therapie soweit geholfen werden kann, dass er einen Weg aus seiner permanenten Traurigkeit findet. Absolut beeindruckend ist dabei, wie reflektiert und »erwachsen« Phil über seine Krankheit spricht. Der zweite Film, Carlottas Gesicht von Valentin Riedl und Frédric Schuld, hat die sehr seltene Krankheit Prosopagnosie (Gesichtsblindheit), eine Fehlfunktion des Gehirns, zum Thema. Die davon betroffene junge Frau kann sich keine Gesichter merken, auch ihr eigenes nicht. Mit klaren Worten beschreibt sie ihr Leben, auch wie sie in der Schule gemobbt wurde, bevor ihre Krankheit erkannt wurde, und dazu erscheinen Bilder, die sie von Gesichtern im Laufe der Jahre gemalt hat, denn in der Kunst hat sie sozusagen einen Spiegel gefunden. Für die Zuschauer ist es ein Blick in eine bis dahin unbekannte Welt.
Für den seit 2011 vergebenen Europäischen Filmpreis für den politischen Kinder- und Jugenddokumentarfilm »Große Klappe« waren neun Filme aus dem doxs!-Programm nominiert. Die Auszeichnung wird gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung und ist mit 5.000 Euro für die Regieleistung dotiert. Die elfköpfige Jugendjury entschied sich für den deutschen Festivalbeitrag Obon von André Hörmann und Anna »Samo« Bergmann, eine in jeder Weise besondere Produktion.
Dem Film über den amerikanischen Atombombenangriff am 6. August 1945 gingen zahlreiche Gespräche der Filmemacher in Hiroshima voraus, selbstgemalte Bilder von Überlebenden wurden in die Animation einbezogen und die Stimme der mittlerweile 93-jährigen Akiko Takakura, eine der letzten Überlebenden, die über ihre Familie und das alles verändernde Ereignis erzählt, machen Obon zu einem eindringlichen künstlerischen Dokument. Akiko erinnert sich am buddhistischen Allerseelenfest, japanisch »Obon« genannt, an ihren strengen, oft auch jähzornigen Vater, unter dem sie und ihre Mutter litten. Sie erzählt von ihrer Arbeit in einer Bank, wo sie sich mit einer ebenfalls neuen Angestellten anfreundet. Unvermittelt bricht in diese Welt das Inferno herein. Ein vernichtender Feuersturm wälzt sich durch die Stadt. Akiko kann entkommen und trifft zu Hause auf ihren Vater, der durch dieses furchtbare Ereignis ein anderer Mensch geworden ist, der sanft und liebevoll versucht, ihre vom Brand gezeichneten Hände zu waschen.
Aus der Begründung der Jugendjury: »Die animierte Bildebene und sein realistisches Sounddesign erzeugen eine emotional berührende Wirkung. Die Jury hat beeindruckt, wie über die Erzählung einer Zeitzeugin ein bekanntes historisches Ereignis mit einer Familiengeschichte verwoben wird. (…) Anders als viele konventionelle Produktionen vermittelt das ausgezeichnete Werk die Grausamkeit des Ereignisses emotional – mit einer manchmal verstörenden Wirkung auf
den Zuschauer.«
Eine Lobende Erwähnung sprach die Jugendjury dem ebenfalls visuell außergewöhnlichen Film Operation Jane Walk (Österreich 2018) von Leonhard Müllner und Robin Klengel aus. Im Stil eines Computerspiels führen zwei virtuelle Stadtführer durch die Straßen von New York und machen an zentralen Punkten der Architektur und der Stadtgeschichte Halt. Eine Spielart von »Anders reisen« in einem postapokalyptischen Szenario.
Seit 2016 verleiht die in Brüssel ansässige European Children’s Film Association den ECFA Documentary Award an einen Film aus dem doxs!-Wettbewerb, diesmal waren zehn internationale Beiträge nominiert. Die drei Juroren, Felix Vanginderhuysen (Belgien), Stefan Huber (Österreich) und Joya Thome, die in Berlin lebende Regisseurin von Königin von Niendorf, wählten den georgischen Film Apollo Javakheti von Bakar Cherkezishvili als ihren Preisträger.
Der junge Bandura (»ich habe einen großen Kopf und einen kleinen Buckel«) lebt mit seiner Mutter in einer abgeschiedenen Gegend irgendwo in Georgien, versorgt die Schafe und ist ein großer Träumer. Er will zum Mond fliegen und deshalb nach Amerika zur Astronautenausbildung. Für das Reisegeld verrichtet er hier und dort bezahlte Aushilfsarbeiten, so in der Käserei oder auf dem Feld. Man sieht
ihn zuweilen an großen Kartons werkeln, die er sich überstülpt. Bandura lässt sich durch die triste Wirklichkeit nicht entmutigen – wie das letzte Bild zeigt, hat er in der Scheune mit seiner überbordenden Fantasie und aus zusammengetragenen Materialien eine »Mondrakete« gebastelt, in der er glücklich ist.
Aus der Begründung der ECFA-Jury: »Mit den Füßen auf der Erde, mit dem Kopf in den Wolken – der Film, den wir prämieren, erzählt in gleichem Maße von der
Lebensrealität wie auch dem Lebenstraum seines Protagonisten. Wir waren tief beeindruckt von der ehrlichen und authentischen Art und Weise, mit der der Filmemacher seine Hauptfigur zeichnet. (…) Der Film nähert sich so einem Gefühl des Staunens, das Kino in seinen besten Momenten ausmacht und bei Kindervorführungen sogar hörbar wird.«
Insgesamt umfasste doxs! in diesem Jahr 19 Filme, die vom Filmforum Duisburg, dem Festivalkino, unter dem Label »doxs! ruhr« auch auf Festivaltournee (Bochum, Bottrop, Dinslaken, Dortmund, Essen, Gelsenkirchen und Moers) unterwegs waren. Das Rahmenprogramm bot u.a. drei Minifilme (»Dokus für Kitas«) und vier Kurzfilme mit wenig Sprache für Integrationsklassen (»Wir zeigen es allen«).
Seit vier Jahren besteht eine beispielhafte Kooperation mit dem Filmfestival in Arras / Nordfrankreich, dem Goethe-Institut Lille (Dorothee Ulrich) und dem Deutsch-Französischen Kulturzentrum Essen in Form eines viertägigen Filmkritik-Workshops während der Duisburger Filmwoche. Fachlich begleitet von Filmkritiker Frédéric Jaeger (VdFk) sichtet und diskutiert die deutsch-französische Schülergruppe ausgewählte Filme des doxs!-Programms, verfasst eigene Filmkritiken und lernt dabei die verbale und schriftliche Beurteilung von Filmen. Über die Ergebnisse informiert eine ansprechend gestaltete Broschüre, die das Goethe-Institut Lille herausbringt.
Eine Anmerkung zum Schluss: Joe Boots, der Kurzfilm von Florian Baron (siehe »artechock« vom 16.11.2017) und vorjähriger Preisträger der doxs!-Jugendjury, erhält den Deutschen Menschenrechts-Preis in der Kategorie Kurzfilm; die Verleihung findet am 8. Dezember 2018 in der Tafelhalle Nürnberg statt.
Aus der Begründung (von Katja Maurer, medico international):
»Das Menschenrecht auf den 'höchsten
erreichbaren Stand an körperlicher und geistiger Gesundheit' gehört seit 1966 zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten, wie sie von der großen Mehrheit der Staaten in den Vereinten Nationen verabschiedet wurden. Ob sich Florian Baron beim Drehen seines 2017 produzierten Dokumentarfilms Joe Boots dieser sperrigen, aber sehr durchdachten Definition von Gesundheit bewusst war? Die Jury des Deutschen Menschenrechts-Filmpreises für
Kurz- und Langfilme hat sich bei ihrer Entscheidung von diesem Menschenrecht leiten lassen, gerade weil der Film und sein Protagonist, der US-Irak-Kriegsveteran Joe Boots, nicht ein Menschenrecht bebildern, sondern sich mit filmischen Mitteln und sprachlicher Reflektion einer zentraler Frage heutiger Debatten nähert: Ist das Menschenrecht auf Gesundheit durch die Verteilung von Pillen verwirklicht und erledigt? (…) Joe Boots weigert sich, die Pillen zu nehmen, weil sie ihn
noch weiter von seiner Umwelt isolieren, wofür die Kamera von Johannes Waltermann überzeugende Bilder findet. Die Normalität eines Alltags, der die dunkle Seite der Wirklichkeit nicht kennt oder nicht kennen will, kommt in Slow Motion wie abgespalten von der Welt des Protagonisten daher. Viele US-Kriegsveteranen sind an dieser Kluft zerbrochen. Die Selbstmordraten sind ungeheuerlich. Wie sich Joe Boots rettet, macht trotzdem Hoffnung. Seine Fähigkeit zu kritischem Denken und
Selbstreflektion tragen den Film und inspiriert zum Weiterdenken.«
Florian Baron hat mit seinem anschließend fertig gestellten Langfilm Stress (Deutschland / USA 2018) bei DOK Leipzig den mit 4.000 € dotierten DEFA-Förderpreis erhalten. Stress ist ein Film über Kriegsheimkehrer, dem der Kurzfilm Joe Boots vorausging. Aus der Begründung: »Sie heißen Joe und Torrie, Mike, James und Justin. …In Stress berichten sie von ihren Erfahrungen, ihren Traumata. Der permanenten Anspannung, die nicht weichen will. Auch zu Hause, im vermeintlichen Frieden, bleiben Körper und Geist im Kriegszustand. Kamera und Ton begleiten die Erzählungen mit Bildern aus dem Alltag. Das gewöhnliche Pennsylvania, die Frauen, Eltern, Kinder. Entschleunigte Gegenwart, in der die aufgewühlte Seele dennoch niemals Ruhe findet.«