Sag es der Welt |
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Ein Film aus Sierra Leone eröffnet das dritte »Kino Asyl«: Mamma Saylah |
Von Natascha Gerold
8058 – das sei, so kann man auf der Homepage der Stadt München nachlesen, die Zahl der sogenannten »untergebrachten Flüchtlinge«, die zum Stand Ende Juni dieses Jahres in der Landeshauptstadt lebten und deren Daten erfasst werden konnten. Dazu kamen 1670 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, deren Angaben nicht enthalten waren. Die meisten kommen laut der Übersicht im Internet aus Afghanistan, Syrien, Nigeria, dem Irak, Somalia und Pakistan: »77 Prozent der Flüchtlinge in Münchner Unterkünften verfügen über eine dieser Staatsangehörigkeiten«, heißt es.
Knapp 10.000 Menschen also, knapp 10.000 Lebensgeschichten, von denen sich die meisten nur erahnen lassen. Egal, wie der Aufenthaltsstatus lauten mag: Die Erinnerung an die alte Heimat wurde mitgenommen in ein anderes Land, von dem oft nicht sicher ist, ob es wirklich die neue Heimat wird. Da aber zunächst mal im Hier und Jetzt gelebt wird, ist die Frage stets legitim: Welche Möglichkeiten gibt es für einen angekommenen Menschen, sich mit seiner neuen Umwelt auf einer guten Basis
in Verbindung zu setzen, in ihr Fuß zu fassen und sich Perspektiven zu schaffen?
Das Projekt Kino Asyl bietet so eine Möglichkeit. Hier stellen Menschen, die in ihrem jungen Leben bereits mit Flucht, Gewalt und Vertreibung unmittelbar konfrontiert wurden, Spiel-, Kurz- und Dokumentarfilme aus ihrem jeweiligen Heimatland vor. Anderen etwas von sich zeigen zu können stärkt Selbstvertrauen und ermöglicht einen direkten Zugang zum neuen Nächsten. »Als Übungsraum kollektiver
Empathie ist das Potenzial des Kinos transzendent und beinahe unbegrenzt«, sagte Regisseur Christopher Nolan vor einigen Monaten in einem Interview im SZ-Magazin. Gemeinsam zeitgleich Empfindungen zu teilen ist – in dieser emotionalen Unmittelbarkeit, mitunter auch jenseits des Intellekts – verglichen mit anderen Kunstformen wohl am besten im Kino möglich.
Es ist nicht nur, was so ein abgedunkelter Saal in einander fremden Menschen zu bewirken vermag: Er kann auch überall stattfinden. Wie das Kino in seinen Anfängen als Jahrmarktattraktion, die von Ort zu Ort zog, um Menschen in ihren Bann zu schlagen, zieht auch Kino Asyl innerhalb Münchens von Spielstätte zu Spielstätte und präsentiert seine Filme an unterschiedlichen Münchner Kulturschauplätzen.
Die Kraft dieses ungewöhnlichen Filmfestivals, das heuer aus einem 17-köpfigen Team aus Kuratoren und Machern besteht, ist nicht unbemerkt geblieben. Zum Einen wurde es 2016 mit dem angesehenen medienpädagogischen Dieter- Baacke-Preis geehrt, zum Anderen hat es auch bundesweit bereits Nachahmer gefunden.
Eröffnet wird Kino Asyl 2017 mit zwei Kurzfilmen (So., 3.12. von 15 bis 17 Uhr; Pinakothek der Moderne, Ernst von Siemens-Auditorium): In Mammah Saylah, einem Sierra Leonesischen Spielfilm von Reel 2 Real Productions and The Culture Heroes ist eine junge Frau permanentem Mobbing ihres Umfelds ausgesetzt, da sie nicht schwanger wird. Doch ihr Schicksal nimmt eine unerwartete Wendung …die beschwingte Musik stammt von Steady Bongo, einem der berühmtesten Musiker Sierra Leones und täuscht indes nicht darüber hinweg, unter welcher Diskriminierung
Frauen wie die Heldin von Mammah Saylah mitunter zu leiden haben. Die schweizerisch-syrische Co-Produktion Bon voyage von Marc Wilkins katapultiert den Zuschauer in die europäische Tagesaktualität: Ein Ehepaar aus der Schweiz ist mit seiner Yacht im Urlaub auf dem Mittelmeer, ihre Wege kreuzen sich mit einem
Flüchtlingsboot in Seenot. Einigen der Flüchtlinge gelingt es, sich an Board der Yacht zu retten. Das Paar ringt mit sich und trifft eine folgenschwere Entscheidung … die Komplexität des international vielfach ausgezeichneten 21-Minüters erfasst neben den Figuren auch den Schauplatz: Das offene Meer ist Sehnsuchts- und Schreckensort zugleich, je nachdem, auf welchem Boot man sich befindet.
Bei »Kino Asyl meets HFF« (Mo., 4.12. von 20 bis 23.55 Uhr, Audimax der Münchner HFF) treffen nicht nur Flüchtlinge auf Filmemacher, in einem Fall sind sie sogar in Personalunion vertreten: Der in Zolling bei München lebende Afghane Ali Khorosh Fazli Bayat stellt Black Mission von Sarwar Mohammad vor – einen Actionthriller über eine afghanische Spezialeinheit, die sich im Kampf gegen Korruption in den gefährlichen Norden des Landes begibt, bei dem der Kurator auch Co-Regie führte. Trotz widrigster Umstände gelang es dem krebskranken Regisseur Sarwar Mohammad, diesen kurzen Spielfilm in Afghanistan zu drehen und ein mehr als mutiges Filmteam zu rekrutieren, das das Werk „der jungen Generation Afghanistans“ widmete. Nicht minder halten den Zuschauer die fünf Minuten von Documenters des syrischen Regisseurs Faisal Attrache in Atem, in dem drei junge Männer die Gräueltaten des Regimes im Internet veröffentlichen wollen. Die kurze Zeitspanne genügt dem Film, allen „civilian journalists“, die über Massaker von Regierung und Terroristen allen Gefahren zum Trotz berichten, ein ehrvolles Denkmal zu setzen – und die Frage zu provozieren, welche Rolle dem Bürger-(oft)
Amateur-Berichterstatter gegenüber dem etablierten Reporter mitunter zukommt. Der Schlüsselsatz »Sag es der Welt« am Ende des Films jedenfalls hallt im Zuschauer wie ein Donnerschlag nach. Neben diesen beiden Filmen werden von der Hochschule für Fernsehen und Film Bis einer weint von Benjamin Leichtenstern sowie der große Generationenquerschnitt Alter von Veronika Hafner und Nancy Camaldo gezeigt.
Ausverkauft bereits vor Eventbeginn – gibt es bessere Werbung für ein Filmfestival? Für Drachenläufer von Marc Forster am Dienstagvormittag (5.12.) gibt es keine Karten mehr, auch nicht für Men in the Arena am Mittwochvormittag (6.12.). Doch glücklicherweise hat Letzterer am Dienstagabend (5.12., 18.30 Uhr, Gasteig, Carl-Amery-Saal) noch eine Vorstellung, für die es bis dato noch freie Plätze gibt. In Men in the Arena porträtiert der US-Amerikaner J.R. Biersmith zwei junge Fußball-Profis, die für das somalische Nationalteam spielten, ihre Freundschaft und ihre hürdenreiche dreijährige Odyssee, die in St. Louis vorerst ihr gutes Ende fand. Der Dokumentarfilm zeigt die beiden Helden als Botschafter Somalias, einem Land, das seit drei Jahrzehnten nichts als Bürgerkrieg und Terror erlebt hat und auch unter dem Verbot eines Sports leidet, der doch alle Nationen in ihrer Leidenschaft für ihn eint.
Im Anschluss wird die irakisch-deutsche Co-Produktion Haus ohne Dach (Di., 5.12. 21 Uhr, Gasteig, Carl-Amery-Saal) von Sollen Yusef gezeigt. Der letzte Wille ihrer Mutter schickt drei kurdischstämmige Geschwister zurück in die Heimat des Nordirak. Dort sollen sie Mama neben ihrem Mann beerdigen, einem kurdischen Rebellen. Einst vor den Truppen Saddam Husseins nach Deutschland geflohen, kehren die Tochter und ihre beiden Brüder zurück, wo immer noch der Terror regiert – diesmal in Gestalt des IS. Wird es den Dreien gelingen, das Grab zu finden und den Wunsch der Mutter zu erfüllen? Dieser eigenwillige Film von unterwegs mit feinem Humor hat seinen Ursprung in der Realität: Regisseurin Yusef floh in den 1990er-Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland aus jener Stadt, wo die gefährliche Mission der Geschwister mit dem Sarg der Mutter startet.
Kammer 3 der Kammerspiele ist Spielstätte beider Screenings von Kino Asyl am Mittwochabend. Und wie könnte man diesen angemessener beginn als mit dem größten Dramatiker überhaupt? Shakespeare always and everywhere – selbst und erst recht in Zaatari, einem der weltweit größten Lager in Jordanien, in dem zahlreiche syrische Flüchtlinge leben. Shakespeare in Zaatari (5.12., 19 Uhr) zeigt den syrischen Regisseur und Schauspieler Nawar Bulbul, der als Persona non Grata schon lange in Jordanien lebt und vor einigen Jahren ins Camp ging, um mit den dort untergebrachten Kindern »King Lear« und »Hamlet« einzuüben und aufzuführen – als Maßnahme gegen die Trost- und Hoffnungslosigkeit des Lageralltags. Die Smartphone-Aufnahmen, die Bulbuls ehrgeiziges Projekt abbildeten, fanden ihren Weg zum syrischen Filmemacher und Fotograf Maan Mouslli, der in Osnabrück lebt und aus dem Material schließlich diesen ergreifenden Kurz-Dokumentarfilm machte, der in Cannes Weltpremiere hatte.
Bildung als beste Waffe dagegen, dass aus einer jungen traumatisierten keine verlorene Generation wird – Dieses Anliegen tritt als eindringliche Botschaft nicht nur bei Men in the Arena oder Shakespeare in Zaatari in den Vordergrund: Das Recht auf Lernen sollte weltweit Privileg von Kindern und Jugendlichen sein, in Wahrheit ist es, vor allem für Mädchen, oft ein verzweifelter, aussichtslos wirkender Konflikt. Zum Beispiel in Afghanistan, wo Hana Makhmalbaf 2007 den Spielfilm Buddha zerfiel vor Scham (Mi., 5.12. 20.30 Uhr; Kammer 3 der Kammerspiele) drehte: Das Bamiyan-Tal, der Ort, an dem die Taliban zu Beginn des Jahrtausends die weltberühmten Buddha-Statuen zerstörten, bildet die vielsagende Kulisse für die Geschichte der fünfjährigen Bakhtay, die einen Kampf auf mehreren Ebenen ausfichten muss: Sie will unbedingt in die Schule gehen und muss sich gegen größere Jungs verteidigen, die sie regelmäßig bei grausamen Folter-Nachstellungen quälen. Die damals 19-jährige Hana Makhmalbaf inszenierte das erschütternde Spiel der kleinen Hauptdarstellerin bereits in dramatischer Perfektion, wie man sie von Vater Moshe und Schwester Samira kennt. Noch erschütternder ist vielleicht die Antwort, die Makhmalbaf bei einem Screening auf die Frage gab, ob das Mädchen auf die Gewaltdarstellungen vorbereitet werden musste: »Nein, so etwas kennt sie aus ihrem Alltag.«
Für ein gutes Ende sind die besten Vorbereitungen getroffen – Bei der Closing Party im Import Export um 21 Uhr zeigt Kino Asyl die Doku Kino Asyl, eine Retrospektive von Tobias Rehm, der das Projekt von Anfang an seit 2014 im technischen Bereich begleitet.
Kino Asyl wird veranstaltet vom Medienzentrum München in Kooperation mit Refugio München sowie der Münchner Stadtbibliothek, der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) München, der Pinakothek der Moderne, Import Export und den Münchner Kammerspielen. Parallel zur Filmreihe findet auch die Fotoausstellung »Keine Flüchtlinge mehr« von Max Kratzer im »Pixel« (Rosenheimer Straße 5, im Durchgang zur S-Bahn) statt.
Sämtliche Veranstaltungen sind gratis, Spenden
willkommen.
Weitere Infos und das Programmheft gibt es hier.
Kino Asyl ist eine Veranstaltung unter dem Dach der Filmstadt München e.V., die das ganzjährig das Angebot der Münchner Kinolandschaft erweitert und ergänzt.