28.06.2018

Hubschrauber-Muttis gab es nicht

Subjektiv - Dokumentarfilm im 21. Jahrhundert
Außer Rand und Band: Ganz normale Kinder in den 1970er Jahren
(Foto: Elena Alvarez / Filmmuseum München)

Die Veränderung der Kindheit in Elena Alvarez' historisch gewordenem Dokumentarfilm Kinderrepublik

Von Dunja Bialas

Wie war es, 1968 Kind zu sein? Derzeit erinnert in Frankfurt eine große Ausstel­lung an den Schul­alltag in den 1960er Jahren – und an die Rebellion der Schüler. »Tatzen«, Kleider- und Frisu­ren­ord­nung und »so lange du deine Beine noch unter unseren Tisch streckst« waren an der Tages­ord­nung. Popmusik und indi­vi­du­eller Stil galten auto­ma­tisch als Proteste gegen die erwach­sene Welt.

Es war eine Zeit, in der noch alles analog war. Sein Wissen über Alter­na­tiv­kultur erhielt man über verdeckte Kanäle, inves­tierte in englisch­spra­chige Zeit­schriften und studierte die Songtexte von Bob Dylan, die versteckte Botschaften eines anderen Lebens­ge­fühls enthielten. Aus heutiger Sicht, wo alles in Reich­weite von Clicks liegt und Wissen oft nur eine Frage der Online-Recherche ist, stimmt einen das nost­al­gisch.

Kinder durften damals noch sich selbst über­lassen sein – und die Natur oder den urbanen Raum als riesigen Aben­teu­er­spiel­platz kennen­lernen. »Die Stadt gehört uns!« war das Lebens­ge­fühl, wenn man sich im Unterholz herum­schlug und geheime Tram­pel­pfade erkundete.

Die Doku­men­tar­fil­merin und »Capriccio«-Autorin Elena Alvarez hat 1994, als die Zeiten noch analog und dieser versun­kenen Vergan­gen­heit noch näher waren – Handys, Internet, Computer, das fing in den Neun­zi­gern alles gerade erst an –, einen Film über die Erziehung in den 1970er Jahren gedreht. Nicht um die mitt­ler­weile in Verruf geratene anti­au­to­ri­täre Erziehung und deren Folgen geht es aber in Kinder­re­pu­blik, sondern um alter­na­tive Erzie­hungs­mo­delle und -konzepte, von denen wir heute noch etwas lernen können. Im Zentrum steht das »Kinder­haus« in der Münchner Sper­vo­gel­straße, das auch heute noch besteht. Gegründet wurde die Eltern­in­itia­tive Mitte der 1970er Jahre. Weit­ge­hend selbst­be­stimmt sollten die Kinder die Welt erfahren dürfen und selbst ihren Alltag gestalten – ein Konzept, das sich auch heute noch in Wald­kin­der­gärten oder ökolo­gisch-alter­nativ orien­tierten Initia­tiven finden lässt.
Erzie­he­rinnen, Eltern und die mitt­ler­weile erwach­senen Kinder kommen in Alvarez' Film zu Wort. Ein Vorher-Nachher-Abgleich also, der immer auch unter­haltsam ist – und bisweilen schmerz­hafte Wahr­heiten bergen kann.

Alvarez hat, wie es damals noch üblich war, ihren Film auf 16mm gedreht. Allein das gibt schon Anlass genug für Nostalgie, wenn der Blick in das satte Korn der farbigen Aufnahmen eintaucht, in die Bilder, die 1992 entstanden, in denen die Kinder im Garten herum­toben und alles irgendwie noch leben­diger zu sein scheint als heute, wo die Jüngsten schon in die Welt der Medien abge­glitten sind.

»Das Verschwinden der Kindheit« hieß ein ebenso hell­sich­tiges wie bahn­bre­chendes Buch des ameri­ka­ni­schen Medi­en­wis­sen­schaftler Neil Postman, das 1983 erschien und damals, am Vorabend des digitalen Turns, genau den Nerv der Zeit traf. Im Kern blieb es folgenlos, die Geschichte nahm genau den Lauf, vor dem Postman gewarnt hatte. Welche Möglich­keiten sich dennoch für die Kinder­er­zie­hung auftun, wird im Anschluss an die Film­vor­füh­rung von Experten disku­tiert. Die Wissen­schaft­lerin Eva Steinherr und die Regis­seurin Elena Alvarez unter­halten sich mit Erzie­herInnen des Vereins Klein­kin­der­ta­ges­stätten über Möglich­keiten und Grenzen freier kind­li­cher Entfal­tung in der heutigen Gesell­schaft: »Spielen, Vertrauen und Freiheit. Das Beste steckt im Kind selbst, aber kann es diese Erfahrung heute noch machen?«

Das klingt wie eine funda­men­tale Kritik an dem heutigen Konzept vieler Mütter, wie ein Heli­ko­pter jeden Schritt ihrer Kinder zu über­wa­chen. Übrigens eine Erfindung, die erst die Smart­phone-Genera­tion hervor­bringen konnte. Früher waren die Frauen froh, wenn ihre Kinder draußen zum Spielen unterwegs waren, und sie Ruhe vor den Bälgern hatten. Eine Hubschrauber-Mutti sein? Niemals.