Hubschrauber-Muttis gab es nicht |
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Außer Rand und Band: Ganz normale Kinder in den 1970er Jahren | ||
(Foto: Elena Alvarez / Filmmuseum München) |
Von Dunja Bialas
Wie war es, 1968 Kind zu sein? Derzeit erinnert in Frankfurt eine große Ausstellung an den Schulalltag in den 1960er Jahren – und an die Rebellion der Schüler. »Tatzen«, Kleider- und Frisurenordnung und »so lange du deine Beine noch unter unseren Tisch streckst« waren an der Tagesordnung. Popmusik und individueller Stil galten automatisch als Proteste gegen die erwachsene Welt.
Es war eine Zeit, in der noch alles analog war. Sein Wissen über Alternativkultur erhielt man über verdeckte Kanäle, investierte in englischsprachige Zeitschriften und studierte die Songtexte von Bob Dylan, die versteckte Botschaften eines anderen Lebensgefühls enthielten. Aus heutiger Sicht, wo alles in Reichweite von Clicks liegt und Wissen oft nur eine Frage der Online-Recherche ist, stimmt einen das nostalgisch.
Kinder durften damals noch sich selbst überlassen sein – und die Natur oder den urbanen Raum als riesigen Abenteuerspielplatz kennenlernen. »Die Stadt gehört uns!« war das Lebensgefühl, wenn man sich im Unterholz herumschlug und geheime Trampelpfade erkundete.
Die Dokumentarfilmerin und »Capriccio«-Autorin Elena Alvarez hat 1994, als die Zeiten noch analog und dieser versunkenen Vergangenheit noch näher waren – Handys, Internet, Computer, das fing in den Neunzigern alles gerade erst an –, einen Film über die Erziehung in den 1970er Jahren gedreht. Nicht um die mittlerweile in Verruf geratene antiautoritäre Erziehung und deren Folgen geht es aber in Kinderrepublik, sondern um alternative Erziehungsmodelle und -konzepte, von denen wir heute noch etwas lernen können. Im Zentrum steht das »Kinderhaus« in der Münchner Spervogelstraße, das auch heute noch besteht. Gegründet wurde die Elterninitiative Mitte der 1970er Jahre. Weitgehend selbstbestimmt sollten die Kinder die Welt erfahren dürfen und selbst ihren Alltag gestalten – ein Konzept, das sich auch heute noch in
Waldkindergärten oder ökologisch-alternativ orientierten Initiativen finden lässt.
Erzieherinnen, Eltern und die mittlerweile erwachsenen Kinder kommen in Alvarez' Film zu Wort. Ein Vorher-Nachher-Abgleich also, der immer auch unterhaltsam ist – und bisweilen schmerzhafte Wahrheiten bergen kann.
Alvarez hat, wie es damals noch üblich war, ihren Film auf 16mm gedreht. Allein das gibt schon Anlass genug für Nostalgie, wenn der Blick in das satte Korn der farbigen Aufnahmen eintaucht, in die Bilder, die 1992 entstanden, in denen die Kinder im Garten herumtoben und alles irgendwie noch lebendiger zu sein scheint als heute, wo die Jüngsten schon in die Welt der Medien abgeglitten sind.
»Das Verschwinden der Kindheit« hieß ein ebenso hellsichtiges wie bahnbrechendes Buch des amerikanischen Medienwissenschaftler Neil Postman, das 1983 erschien und damals, am Vorabend des digitalen Turns, genau den Nerv der Zeit traf. Im Kern blieb es folgenlos, die Geschichte nahm genau den Lauf, vor dem Postman gewarnt hatte. Welche Möglichkeiten sich dennoch für die Kindererziehung auftun, wird im Anschluss an die Filmvorführung von Experten diskutiert. Die Wissenschaftlerin Eva Steinherr und die Regisseurin Elena Alvarez unterhalten sich mit ErzieherInnen des Vereins Kleinkindertagesstätten über Möglichkeiten und Grenzen freier kindlicher Entfaltung in der heutigen Gesellschaft: »Spielen, Vertrauen und Freiheit. Das Beste steckt im Kind selbst, aber kann es diese Erfahrung heute noch machen?«
Das klingt wie eine fundamentale Kritik an dem heutigen Konzept vieler Mütter, wie ein Helikopter jeden Schritt ihrer Kinder zu überwachen. Übrigens eine Erfindung, die erst die Smartphone-Generation hervorbringen konnte. Früher waren die Frauen froh, wenn ihre Kinder draußen zum Spielen unterwegs waren, und sie Ruhe vor den Bälgern hatten. Eine Hubschrauber-Mutti sein? Niemals.