Jenseits der Melancholie |
||
A Tale of Three Sisters von Emin Alper |
»Hüsün« – eine sehr spezielle Form der Melancholie, gehört zum Lebensgefühl von Istanbul. Besonders in der Musik spiegelt sie sich, der Istanbuler Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk hat sie in seinen Büchern besprochen. Aber auch in den türkischen Filmen begegnet sie einem immer wieder.
So etwa in Siren’s Call, Ramin Matins Geschichte eines Architekten, der sich in seinen eigenen Häusern und von ihm geplanten neuen Stadtvierteln verläuft – ein satirischer Blick auf den Immobilienboom in der gegenwärtigen Türkei.
A tale of three Sisters, die Geschichte dreier trauriger Schwestern, lief schon auf der Berlinale im Wettbewerb. Sie stammt von Emin Alper, einem der interessantesten türkischen Gegenwartsregisseure, von dem man sich nach seinen zwei ersten Filmen aber etwas mehr versprochen hätte.
+ + +
Als das internationale Filmfestival von Istanbul 1982 zum ersten mal stattfand, herrschte in der Türkei eine Militärjunta. Kino als solches, und besonders ein Filmfestival mit ausländischen Filmen war Widerstand. Gerade einmal sechs Filme waren damals zu sehen – alle zum Thema »Die Künste und der Film«. Damals aber erarbeitete sich die noch kleine Veranstaltung den Ruf, ein Ort der Freiheit, der Unangepasstheit und der kulturell-politischen Rebellion zu sein. Und eine große Leinwand für das lebendige türkische Kino, das spätestens seither auch international wahrgenommen wurde.
Inzwischen dauert das International Film Festival Istanbul zwei Wochen, in einem nationalen und einem internationalen Wettbewerb konkurrieren Produktionen um die »Goldene Tulpe«, und es ist längst mehr als nur eine türkische Filmschau für ausländische Gäste, sondern auch umgekehrt fürs türkische Publikum ein Schaufenster zur Welt.
Die Rahmenbedingungen haben sich dabei in den letzten Jahren erneut verändert. Denn unter dem islamistischen Staatspräsidenten Erdogan wurde nicht nur die Freiheit der Presse, sondern auch die der Künste beschnitten: Das Festival ist dem Westen zugewandt, offen und liberal und insofern Teil der kulturellen Opposition. Zur Zeit leidet es unter radikaler Kürzung der öffentlichen Zuschüsse, Einschränkungen bei der Außenwerbung und der Sponsorenakquise.
Mit kaum öffentlicher Unterstützung, aber um so mehr Hilfe privater Kulturstiftungen, die es in der Türkei zuhauf gibt, und mit Unterstützung ausländischer Kulturinstitute wie des Goethe-Instituts und des Institut Français schafft man hier ein Kino-Großereignis, bei dem über 200 Filme aus aller Welt zu sehen sind, darunter vor allem solche, die niemals ihren Weg in die türkischen Kinos finden: Zum Teil aus rein ökonomischen Gründen – die massive Wirtschaftskrise
schädigt auch die türkischen Verleiher. Filmrechte zu kaufen, ist einfach zu teuer.
Aber natürlich auch wegen der strengen Zensur. Denn eine Reihe mit queerem, also schwul-lesbichem Kino, das ist in diesem Land nach wie vor etwas Besonderes. Und wenn ein Film politisch ist, womöglich zum Widerstand gegen autoritäre Verhältnisse aufruft, dann steht er im Lande Erdogans fast schon am Rand des Terrorverdachts.
+ + +
Bilder der Gewalt und Erinnerungen an den Schülerwiderstand gegen die US-Waffengesetze – sie leiten einen Film ein, der politisch so klare wie brisante Botschaften mit einer ästhetisch besonderen Form verband, und so in der vergangenen Woche zu einem regelrechten Publikumsrenner in Istanbul wurde. Es ist das französische Werk Ne travaille pas (1968-2018). Der erst zweite Film des 1967 geborenen Franzosen César Vayssié ist ein schwer zu beschreibender, hochspannender Zwitter aus dokumentarischem Essay und Spielfilm, der auch schon beim Münchner UNDERDOX-Festival zu sehen war.
Wie im Stummfilm gibt es in dieser Geschichte eines jungen Künstlerpaares, das in einem Jahr ihres Lebens durch Zeit und Raum begleitet wird, keine Dialoge, dafür Zwischentitel. Und vor allem moderne elektronische Musik, und den Bilderrausch der globalen Nachrichten, die von Krieg, Ausbeutung, Autoritarismus und dem Widerstand der Künstler erzählen – im Jahr vor den Gelbwesten. Man sieht einen soghaft berauschenden ununterbrochenen Fluss aus Bildern – ein bisschen wie in einer Facebook-Timeline, aber gemacht für die große Leinwand, und nur auf ihr angemessen wahrnehmbar. Das Leben als Mosaik aus Eindrücken – und damit ein extrem zeitgemäßes, mitreißendes Bild des modernen Lebens.
+ + +
Dies war das seltene Beispiel eines Films, der utopische Möglichkeiten des Menschlichen und der Kinokunst aufscheinen lässt.
Darum passte er besonders gut hierher. Denn auch viele türkische Filme loten ein anderes Leben und andere Möglichkeiten aus. Noch existieren diese Möglichkeiten nur in der Phantasie.
Dead Horse Nebula von Tank Aktas erzählt vom Leben auf dem Land aus der Sicht eines Bauernjungen namens Hay. Als Siebenjähriger sieht er eines Tages auf dem Acker ein totes Pferd, und dieses Bild wird ihn nicht mehr loslassen. Jahre später kommen die Erinnerungen zurück, und haben eine andere Bedeutung – eine Geschichte über die Wiederkehr des Verdrängten.
Kinder und ihr nicht immer unschuldiger, eher utopischer Blick auf die Welt spielen überhaupt eine wichtige Rolle in vielen türkischen Filmen. Es können auch Kinder armenischer Migranten sein oder auch libanesische Flüchtlinge.
Dass die Türkei ähnlich wie Deutschland seit Jahrhunderten ein Einwanderungsland ist, belegen auch Dokumentarfilme. Der spannendste Dokumentarfilm war Heroes von Köken Ergun. Der Regisseur begleitet mit seiner Kamera Besuchergruppen in Gallipolli, dem blutigsten türkischen Schachtfelds des ersten Weltkriegs. Eine hervorragende Untersuchung über die Vielfalt der Perspektiven, die man auf ein historisches Ereignis werfen kann.