Die Kinder von Marx und Coca-Cola |
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Ein aktivistisches Setting: Gelesen wird »SCUM«, gesetzt auf Special Effects (Dark Spring) |
Von Dunja Bialas
Die Zukunft hatte gerade angefangen, als Ingemo Engström ihren ersten Langfilm an der HFF München realisierte. Die Finnlandschwedin mit den »twen«-Model-Qualitäten wäre unter anderen Umständen vermutlich eine der ätherischen Darstellerinnen bei Wim Wenders, Klaus Lemke oder Rudolf Thome geworden, die damals gerade mit dem Filmemachen begonnen hatten. Sie aber hatte studiert, in Finnland Literaturwissenschaft und Psychologie, später Medizin in Hamburg, und erwartete etwas anderes vom Leben, Verantwortung, Kreation, nicht nur Reproduktion und Unterordnung. Sie ging nach München, wo es bereits seit Mitte der 1950er Jahre das DIFF (Deutsches Film- und Fernsehinstitut) gab, den Vorläufer der HFF (Hochschule für Fernsehen und Film), das sich jedoch noch auf die Filmvermittlung und das Filmezeigen konzentrierte und auch mit Fritz Falter, dem Erfinder der Münchner Filmkunstwochen, in Verbindung stand. Filme wurden dort noch nicht gemacht, auch wenn Werner Herzog bereits ein- und ausging.
1967 wurde Engström als eine von vier Frauen in die Regie-Klasse des ersten Jahrgangs der neu gegründeten HFF aufgenommen. Die meisten ihrer Kolleginnen interessierten sich für den Fernsehbereich, machten dort später auch Karriere als Redakteurinnen. Bei der Filmregie sah das anders aus. Die Frauen durften assistieren, nur selten konnten sie eigenständig arbeiten. Aber mit den Jahrgangskollegen Wim Wenders, Werner Schroeter und Gerhard Theuring, mit dem Engström ihre Filme später realisierte, konnte auch das Filmemachen in neue Bahnen gelangen, sie arbeiteten immer wieder mit denselben Kameramännern, Schauspielerinnen und Schauspielern. Engströms Thema wurde all das, womit sie auch unmittelbar im Leben zu tun hatte: das Frausein, die Lebenswirklichkeit mit ihren sich verändernden politischen und sozialen Verhältnissen, die Liebe. In ihren Filmen gehen die Fiktionen meist unmittelbar in die dokumentierte Wirklichkeit über, sie arbeitet auch mit Interviews, die sie in ihre Utopien von einer anderen Welt bettet. Engström ist gleichermaßen Theoretikerin und Träumerin.
Das Filmmuseum München widmet jetzt dem 1941 in Finnland geborenen »Superstar des feministischen Films« eine Retrospektive. In neu abgetasteten, nicht jedoch restaurierten Kopien – was das Flirren des Filmmaterials bewahrt hat, die Kratzer sind erhalten, selbst die Überblendzeichen – kann die Zeit der 1970er Jahre noch einmal aufleben. Die Frauen befinden sich mitten im Kampf um die sexuelle, gesellschaftliche und berufliche Gleichstellung, entwerfen neue Lebensmodelle jenseits der Paarbeziehung, entwickeln ihre Diskurse und finden zur politischen Sprache. Engströms Abschlussfilm Dark Spring – gedreht in Farbe und im 35mm-Breitwandformat, und nicht wie Wim Wenders' Abschluss Summer in the City (1970) auf 16mm und in Schwarzweiß, wie Engström am Dienstag Abend im Filmmuseum mit einem gewissen Stolz erzählt – zeugt von dieser Selbstbewusstwerdung.
In einer Mischung aus Spielfilmelementen und Interviewszenen entfaltet Engström eine Bestandsaufnahme der bereits erwachten Frauenbewegung. Katrin Seybold, die im selben Jahr mit dem Filmemachen begann, Edda Köchl, mit Wim Wenders verheiratet, Ilona Schult, bereits von Aktionskünstler HA Schult geschieden, auch Ingemo Engström und Gerhard Theuring treten vor die Kamera und inszenieren ihr eigenes Leben, das sie mehr oder minder so in München führten. Vorbilder sind spürbar, der frühe Godard, die Nouvelle Vague insgesamt, aber zu sehen ist vor allem, wie experimentierfreudig der feministische Film damals war. Anders und radikaler als die Filme der männlichen Kollegen spielte er mit den Erzählformen und brach sie auf, immer auf der Suche nach einer tieferliegenden Wahrheit.
Die Protagonistinnen bei Engström, das sind die Kinder von Marx und Coca-Cola. Ilona Schult trägt im Interview als modisches Signal einen roten Che-Guevara-Stern auf ihrem kakifarbenen T-Shirt und argumentiert, während sie von ihren Erfahrungen in einer Kita-Elterngruppe berichtet, ganz nebenbei lupenrein marxistisch und systemkritisch. Katrin Seybold, die später Filme zum Nationalsozialismus machte, spricht über das Scheitern der Paarbeziehung und die Notwendigkeit, sich der Diskursmittel zu bemächtigen. Dabei wird sie von ihrer blonde Lockenmähne umrahmt, ihre stark geschminkten und dicht bewimperten Augenlider klappen auf und nieder wie bei einer Puppe, was alles so gar nicht zu den kämpferischen Worten passen mag. Aber wir haben nur vergessen, wie das damals zusammengehörte: der Sex und die Politik, der Kampf und die Liebe. Dark Spring ist ein filmisches Zeugnis davon.
Die Kraft des Films kommt aus dieser explosiv wirkenden Mischung, in der die Kamera als Kampfmittel eingesetzt wird und der Film als Medium der Botschaft dient. Diese offensichtliche Ebene entfaltet sich jedoch in extrem sinnlicher Weise. Dark Spring gibt das Lebensgefühl dieser damals fast Dreißigjährigen wieder, der Frauen und Männer, die das Leben schon kennengelernt haben, aber immer auch noch jugendlich sind, vielleicht sind sie eine der ersten Generationen, die die Schwelle zum Erwachsenensein nie wirklich überschritten haben. Engström erzählt, dass sie oft an den Stadtrand fuhren, »und da haben wir einfach nur geschaut«, wie die Protagonisten in Dark Spring. Dieser Blick, der aufsaugt und spürt, was die Welt ist, wird von Bernd Fiedler mit seiner Kamera eingefangen. Kurz zuvor hatte er Rudolf Thomes Rote Sonne fotografiert, einen Meilenstein für das Lebensgefühl der anbrechenden 1970er Jahre, das es in dieser Form wohl nur in München geben konnte.
Engströms Filme fangen in diesen lang anhaltenden Szenen des »Schauens« auch einfach nur die Zeit ein, das Atmen und Pulsieren dieser Ära. Auch die Filme, in denen sie als Schauspielerin mitspielt, bestehen aus zahlreichen Ansichten aus München, wie Leave Me Alone (1970) von Gerhard Theuring, ihrem Lebenspartner, der ganz aus Schauplätzen aus München besteht, Straßenkreuzungen, die Lerchenau im Münchner Norden, der Abendhimmel, Felder. Das Leben in der Stadt mit den wichtigen Brachflächen am Stadtrand kriecht als Thema durch die Ritzen ihrer Filme, die sich in den Zimmern der Kommunen mit den Schallplatten, den Matratzen-Liegewiesen, den Postern an den Wänden und dem Außenraum abspielen. Dort versuchte man quasi situationistisch, sich einen Ort inmitten der noch konservativen Gesellschaft zu geben. Sehr dicht am Leben entlang gefilmt, zeigt auch Dark Spring München in vielen Außenaufnahmen: In den breiten Straßen fahren die Autos, Fahrradfahrer gibt es kaum, das Stadtbild ist bestimmt von den Fußgängern, es war eine entschleunigte, eine langsame Welt. Auch die U-Bahn gab es damals noch nicht, das soziale Leben brauchte die engen Formen des Zusammenwohnens, die Kommunen, die Kitas, die Selbsterfahrungsgruppen, die Treffpunkte, auch das gehörte organisch zum Leben in der Stadt.
Auf vielen Ebenen sprechen die Filme Engströms zu uns, sie sind Zeugen einer verschwundenen Zeit, die sich mit Emotionen füllt. Dark Spring heißt nicht von ungefähr so, in diesem dunklen Frühling, in dem Engström den Film drehte, gab es auch Suizide, was auch später immer wieder in ihrem Umkreis vorkam; manche blieben auf Trips hängen, die Frauen waren beziehungsverzweifelt und suchten einen Platz in der Gesellschaft. Die Zukunft, die aus heutiger Sicht in ihrem Film bereits hell aufleuchtet, beginnt bei Engström dunkel und unheilvoll. Gelesen wurde das »SCUM Manifesto« der radikal-feministischen Autorin Valeria Solanas, Ort der Lektüre war die linke Buchhandlung Libresso in der Türkenstraße, man las mit der Zigarette in der Hand. Rauchen gehörte damals zu den Filmbildern, die das Lebensgefühl transportierten, ebenso wie die Autos, die Plattenspieler, die Bücher, die Schuhe auf dem Bett, der Revolver und die Federboa, Elemente, die die Filme von Engström durchziehen.
Nach Dark Spring folgte 1975 Kampf um ein Kind, der kontrovers diskutiert wurde, weil er das damalige feministische Kampfthema »Abtreibung« aussparte. Aber auch er erzählt von einer feministischen Utopie: als Alleinerziehende in einer weiblichen Umgebung ein Kind großzuziehen. Lisa Kreuzer, Wim Wenders neue Lebensgefährtin, spielte mit, auch hier ging die Fiktion unmittelbar in die Realität über.
Im selben Jahr realisierte sie zusammen mit Harun Farocki Erzählen, bei dem Hanns Zischler und Otto Sander mitwirkten, die große Filmfamilie der Wenders-Generation. 1977 folgte Fluchtweg nach Marseille, der sie einem größeren Publikum bekannt machte. Ihm zugrunde liegt die Erzählung »Transit« von Anna Seghers (zuletzt von Christian Petzold in Transit verfilmt). Letzte Liebe (1979) mit Rüdiger Vogler und Angela Winkler, ein Liebes- und Todesfilm, und Flucht in den Norden (1986) folgten, der zu Teilen in Finnland spielt und einen finnischen Co-Produzenten hatte. »Es war eine grauenvolle Erfahrung«, erinnert sich Engström, »nicht auf sich gestellt zu sein und jemanden zu haben, der sich einmischte. Nichts hat funktioniert. Am Ende musste dann doch wieder ich das Geld zusammenbringen.«
Weshalb Ingemo Engström bislang nur Eingeweihten bekannt ist, hat sicherlich mehrere Gründe. Einer davon ist die experimentelle Form, die das feministische Filmschaffen generell prägte, aber im Umkehrschluss auch die Dominanz der männlichen Kollegen, die viel stärker auf narrative Formen setzten. Flirrende Zeugnisse der Zeit sind Engströms Filme allemal, und wichtige Grußbotschaften aus der Vergangenheit, die einen auch heute noch direkt ansprechen.
Die Zukunft der Frauen
hat gerade erst begonnen, denken wir daran.
Retrospektive Ingemo Engström
Filmmuseum München
23.4.-26.6.2019
Kartenreservierung: 089 / 23 39 64 50
St.-Jakobs-Platz 1, 80331 München
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