23.05.2019

Politik als persönliche Geschichte

Aya Ben Rons »Field Hospital«
Die Gesellschaft als Patient: zu Besuch in Aya Ben Rons Field Hospital

Die Videokunst auf der 58. Kunst-Biennale in Venedig ist ein fast schon autistisches »Enfant terrible«. Denn wer wirklich alle Arbeiten nicht nur als »Quickie« im Schnelldurchlauf genießen will, der hat für Malerei, Skulptur, Installation und Fotografie eigentlich keine Zeit mehr. Doch zum Glück ist nicht alles Gold, was glänzt...

Von Axel Timo Purr

Drei Stunden Warten, um den später als Sieger mit dem Goldenen Löwen gekürten Pavillon von Litauen zu sehen, in dem eine ober­fläch­lich idyl­li­sche Strand­at­mo­sphäre mit einem dysto­pi­schen, von den Prot­ago­nisten gesun­genen Sound­track korre­liert, ist dann doch zuviel. Mehr noch, als ich bereits mit dem stun­den­langen Warten vor dem hoch favo­ri­sierten, von Laure Prouvost bespielten Pavillon Frank­reichs auf das falsche Pferd gesetzt hatte. Dabei versprach gerade Prouvost aufre­gendes Film-Kunst, hat sie doch nicht nur mit einem Doppel­schlag 2010 (MONOLOG) und 2011 (The Artist) den Haupt­preis bei den Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen in Ober­hausen gewonnen, sondern mit ihrer Video­in­stal­la­tion WANTEE auch 2013 den renom­mierten Turner-Preis.

Doch was Prouvost hier instal­liert, verärgert mehr, als es anregt. Einge­bettet in eine vermüllte Back-to-the-Nature-Meer-Kulisse ist ein Film, der expe­ri­men­tell-poetisch die Stärke des Meeres, und der Wellen beschwört und dann mit poli­ti­schen und apoli­ti­schen Freiheits-Choreo­gra­phien von Migranten und sozial Abge­hängten verquirlt wird. Heraus kommt dabei eine Mischung aus Dystopia-Kitsch und aufge­setztem, pseu­do­ly­ri­schen, poli­ti­schem Impetus, der erst von einer weiteren Turner-Preis­trä­gerin wieder neutra­li­siert werden kann.

Denn Charlotte Prodger, die mit ihrem iPhone-Film BRIDGIT den Turner-Preis im letzten Jahr gewonnen hat, geht in ihrem Film SaF05 einen völlig entge­gen­ge­setzten Weg – alles, was bei Prouvost berstend barock ist, ist bei Prodger zurück­ge­nommen, fast schon technoid unter­kühlt. Ohne Instal­la­ti­ons­brim­bo­rium erzählt Prodger verklau­su­lierte Geschichten über Land­nahmen- und Nutzung und bindet auch ihre persön­liche „Queerness“-Perspek­tive gegenüber einem Löwen im Okavongo-Delta mit ein.

Szenenbiild <q>SaFOS</q>
Charlotte Prodger, SaF05

Deutet Prodger poli­ti­sche Impli­ka­tionen besten­falls an, hat sich Kanada entschieden, Politik ins Zentrum seines Pavillons zu stellen. Das Inuit-Kollektiv ISUMA, das sowohl auf der Documenta 11 und 14 als auch auf den Film­fes­ti­vals von Cannes, Toronto und und Sundance bereits vertreten war, reka­pi­tu­liert nicht nur die leidvolle Umsied­lung von Inuit von Baffin Island im Jahr 1961, sondern kontras­tiert die Geschichte mit einem Gegen­warts­ab­gleich (One Day in the Life of Noah Piugattuk). Um auch die absolute Gegenwart – und damit natürlich auch die »aktu­ellste« Form von Geschichts­schrei­bung – nicht auszu­klam­mern, bietet ISUMA auch Live-Webcasts aus Baffin-Island an, ein Angebot, das allein in seinem Umfang kaum zu bewäl­tigen ist.

Filmszene <q>One Day in the Life of Noah Piugattuk</q>
ISUMA, One Day in the Life of Noah Piugattuk

Dieser aufre­gende Ansatz, Geschichte (von Minder­heiten) nicht nur neu zu diagnos­ti­zieren, sondern auch neu zu schreiben, findet sich auch in den Arbeiten der befreun­deten Arthur Jafa und Kahlil Joseph wieder.

Arthur Jafa, der mit seiner groß­ar­tigen Video- und Sound-Collage, Love Is the Message, The Message Is Death 2016, nach drei Jahr­zehnten, endlich den Durch­bruch in der Kunstwelt schaffte, knüpft auch in seiner mit dem Goldenen Löwen als bester Beitrag ausge­zeich­neten Biennale-Collage »The White Album« an seine letzten Arbeiten an. Versuchte »Love Is the Message, The Message Is Death« aller­dings »Schwarz­sein« in Amerika zu verdichten, und perspek­ti­visch und politisch zu hinter­fragen, geht Jafa mit seinem »White Album« nun den nicht nur »farblich« entge­gen­setzten Weg. Mit harten Schnitten, die Film­schnipsel aus Musik-Videos, CCTV und Handy-Material und doku­men­ta­ri­schen Bekennt­nissen Jugend­li­cher gegen­ein­an­der­stellen und zu einem essay­is­ti­schen Ganzen verbinden, wirft Jafa einen Blick auf die andere Seite der Medaille seines Vorgän­ger­films, will aber sichtlich nicht nur aufdecken und anklagen, sondern auf subtile, fast schon poetische Art und Weise auch versöhnen.

Filmszene <q>The White Album</q>
Arthur Jafa, The White Album

Ästhe­tisch und inhalt­lich ähnlich beein­dru­ckend sind die sowohl in den Arsenale als auch den Giardini gezeigten Zwei-Kanal-Videos von Kahlil Joseph, die einer Nach­rich­ten­sender-Variante von Arthur Jafas »Love Is the Message, The Message Is Death« ähneln. Aber mehr noch als Analyse von rassis­tisch konno­tierter »Blackness« in den USA stellt Josephs BLKNWS fast so etwas wie einen Lösungs­vor­schlag zur ange­spannten Lage zwischen Schwarz und Weiß dar: Zeige nur genug »schwarze« Realität, biete »schwarze« Perspek­tiven an und erzähle »schwarze« Geschichte neu – und eine »neue« Zukunft ist möglich.

BLKNWS
Kahlil Joseph, BLKNWS

Dass Zukunft immer auch Gegenwart und Vergan­gen­heit immer auch Zukunft ist, dass Trauma-Arbeit immer gene­ra­ti­ons­ü­ber­grei­fend und auch medial statt­finden muss, zeigt die wunder­bare, erzäh­le­risch sehr intensive Drei-Kanal-Film-Instal­la­tion von Alban Muja für den Kosovo. Für ihr »Family Album« hat Muja 20 Jahre nach dem Kosovo-Krieg ehemalige Kriegs­flücht­linge aufge­sucht, die als Kinder auf ihrer Flucht foto­gra­fiert worden waren und in Zeitungen und auf Web-Sites zum Synonym für Krieg, Trauma und Schmerz wurden. Die heute Erwach­senen erzählen Muja von ihren Erin­ne­rungen aus dem Krieg und was die Fotos von damals für sie heute noch bedeuten und wie sie – obwohl weit zurück­lie­gende Geschichte – weiterhin mit ihrer Gegenwart inter­agieren. Schlimmste, poli­ti­sche Geschichte wird hier mit persön­li­cher Gegenwart ausge­he­belt und zum über­ra­schend tröst­li­chen Brücken­schlag in unsere Gegenwart.

<q>Family Album</q>
Alban Muja, Family Album

Das Problem fast aller Video­kunst ist wie immer ihre Länge. Denn tatsäch­lich ist die Biennale wie auch jeder andere Ausstel­lungsort kein Kino. Wie soll man das alles sehen? Es gibt wohl kaum Jemanden, der jede Arbeit bis zum Ende „durchhält“. Denn er weiß, dass es immer noch weitere Arbeiten geben wird, die auf ihn warten; Arbeiten, die viel­leicht noch inter­es­santer sein könnten. Einige Instal­la­tionen sind deshalb dankbare „Quickes“, wie Christian Marclays 48 War Movies, eine Dauer­ka­ko­fonie von 48 inein­an­der­mon­tierten Kriegs­filmen, deren Irrsinn sich schnell erschließt.

<q>48 War Movies</q>
Christian Marclay, 48 War Movies

Dies gilt auch für Larissa Sansours intuitiv schnell erschließ­bares dysto­pi­sches Narrativ Heirloom, in dem Erin­ne­rung und Gegenwart über einen Dialog zwischen Alt und Jung abge­gli­chen wird und mit tran­szen­den­talen Bildern, die an den späten Tarkowski erinnern, unterlegt werden.

Bei anderen Arbeiten hilft dann tatsäch­lich die seit Jahren immer mehr in den Hinter­grund tretende »Instal­la­tion«, die mehr und mehr durch das pure »Video« ersetzt worden ist. Doch wie wichtig gerade dieses Element von Video-Instal­la­tionen sein kann, zeigen Neïl Beloufas und Aya Ben Rons Werke.

<q>Heirloom</q>
Larissa Sansour, Heirloom

Das bereits im letzten Jahr in der Frank­furter Schirn gezeigte »Global Agreement« von Neïl Beloufa etwa lockt den Betrachter auf begehbare skulp­tu­rale Video-Instal­la­tionen, deren Inhalte sich nur dann komplett einsehen lassen, wenn man sie auch komplett »betritt«. Die Video­ar­beit basiert auf Inter­views, die der Künstler mit Solda­tinnen und Soldaten aus unter­schied­li­chen Ländern über Skype geführt hat, mit denen sich der Betrachter letzt­end­lich konfron­tiert sieht. Durch die auch körper­liche Einbe­zie­hung wird der Betrachter nicht nur zum handelnden »Inter­viewer«, sondern auch zum Rezi­pi­enten eines poli­ti­schen Diskurses, in dem Fiktion und Realität zunehmend verschmelzen.

<q>Global Agreement</q>
Neïl Beloufa, Global Agreement

Noch eindring­li­cher ist aller­dings die für den israe­li­schen Pavillon von Aya Ben Ron entwor­fene Arbeit eines Feld­la­za­retts, in dem der Betrachter zum Patienten wird. Er zieht eine Nummer, wartet in einem Wartesaal, darf eine ihm ethisch adäquate „Behand­lungs­me­thode“ wählen und wird nach einer befrei­enden „Urschrei­the­rapie“ in einem schall­dichten Raum in einen Behand­lungs­stuhl überführt, der denen bei Zahnärzten ähnelt. Doch statt eines Zahn­arztes mit Bohr­in­stru­men­ta­rium sieht sich der Betrachter einem Bild­schirm ausge­setzt, der – abhängig von der gewählten »Behand­lungs­me­thode« – einen von vier Filmen zeigt. Filme, die sowohl gesell­schaft­liche als auch persön­liche Traumata thema­ti­sieren, die von Miss­brauch, Gender­suche und paläs­ti­nen­si­scher Identität handeln, aber auch den erst kürzlich aufge­deckten Skandal über die insti­tu­tio­nelle Entfüh­rung von Kindern aus Migran­ten­fa­mi­lien in Israel mit einbe­ziehen.

Würden diese vers­tö­renden Doku­men­ta­tionen auf den üblichen Screens in abge­dun­kelten Räumen gezeigt, kaum jemand bliebe bis zum Ende. Doch im Behand­lungs­stuhl fixiert, gibt es kein Entkommen.

<q>Field Hospital</q>
Aya Ben Ron, Field Hospital

Inhalt­lich geht Aya Ben Ron geht ebenso wie Alban Muja und Neïl Beloufa den Weg über persön­liche Geschichten, um poli­ti­sche Macht­dis­po­si­tionen und insti­tu­tio­nelle Gegenwart zu hinter­fragen, zieht aber über die Symbolik des Feld­la­za­retts und medi­zi­ni­schen Ethos eine weitere Diskurs­ebene mit ein und fordert damit spie­le­risch, aber unver­hohlen, was schon Gene­ra­tionen von Psycho­the­ra­peuten einge­for­dert haben – versehrte Nationen unbedingt einer „ganz­heit­li­chen“ Therapie zu unter­ziehen.

Die 58. La Biennale di Venezia, findet vom 11. Mai –24. November 2019 statt. Weitere Infor­ma­tionen auf den Ausstel­lungs­seiten.